Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
20 Kultur / Wissen<br />
WOZ Nr. 49 9. Dezember 2010<br />
Kultur online<br />
Das digitale<br />
Feuilleton<br />
öffnet neue<br />
Schubladen<br />
Sie füllen die Lücke, die <strong>mit</strong> den Sparübungen<br />
in den Medien entstanden ist. Doch Onlinemagazine<br />
wie «Neuland», «TheTitle» oder «imScheinwerfer»<br />
sind mehr als nur Lückenbüsser.<br />
Von nicK Lüthi<br />
Musicals haben einen schweren Stand. Nicht<br />
beim Publikum, das strömt in Massen, wenn<br />
«Evita», «Dällebach Kari» oder «Ewigi Liebi»<br />
auf <strong>dem</strong> Programm stehen – aber in den Medien.<br />
Beim Feuilleton rümpft man die Nase und<br />
hält das Genre für irgendwie minderwertig. Als<br />
gesellschaftliche Anlässe werden Musicalaufführungen<br />
zwar wahrgenommen, nicht aber<br />
als kulturelle. So kommt es, dass nirgendwo<br />
eine kontinuierliche und kritische Berichterstattung<br />
stattfindet. Mit einer Ausnahme: Das<br />
Onlinemagazin «imScheinwerfer» bietet seit<br />
gut zwei Jahren <strong>dem</strong> Musical eine prominente<br />
publizistische Plattform <strong>mit</strong> ausführlichen<br />
Kritiken aller wichtigen Produktionen. Auch<br />
Theater, Musik, Show und Zirkus kommen in<br />
weiteren Rubriken nicht zu kurz.<br />
Obwohl Form und Inhalt professionell<br />
daherkommen, können die Herausgeber Andreas<br />
Isenegger und Daniel Fischer <strong>mit</strong> den<br />
Einnahmen aus den spärlichen Werbeanzeigen<br />
nur die Unkosten für den Betrieb der Website<br />
bezahlen. «Die Grossen der Branche, ein Veranstalter<br />
wie Good News zum Beispiel, brauchen<br />
nicht bei uns zu inserieren», weiss Isenegger.<br />
Mit gutem Grund: Good News gehört Ringier<br />
und kann die Kanäle des Zürcher Medienkonzerns<br />
nutzen.<br />
Das ist Fluch und Segen zugleich für ein<br />
unabhängiges Kulturmagazin wie «imScheinwerfer»:<br />
«Einerseits könnten wir das Geld gut<br />
brauchen, andererseits wollen wir nicht von<br />
der Branche abhängig werden.» Und so bestreitet<br />
Isenegger, der sein Einkommen als Projektleiter<br />
bei einer Elektrizitätsfirma und als Teilzeitfotograf<br />
verdient, als Chefredaktor <strong>mit</strong> beschränktem<br />
Budget ein doch anspruchsvolles<br />
Redaktionsprogramm. Einen grossen Teil<br />
der Artikel verfassen er selbst oder der Wirtschaftsanwalt<br />
und Musicalfan Daniel Fischer.<br />
«Da wir keine Honorare bezahlen», so Isenegger,<br />
«kann ich nicht immer <strong>mit</strong> gutem Gewissen<br />
einen freien Journalisten aufbieten.»<br />
Personenrätsel<br />
Die rote Jungfrau<br />
Sie wollte «die absolute Freiheit, nichts als die<br />
Freiheit», und da ihr Credo für alle galt, verteidigte<br />
sie nach einem Mordanschlag den Attentäter,<br />
der auf sie geschossen hatte. Er sei «von<br />
einem bösartigen System fehlgeleitet», sagte sie<br />
im Alter von 58 Jahren. Konsequent war die zu<br />
ihrer Zeit meistgehasste und meistgeliebte Frau<br />
immer gewesen. 1830 als uneheliche Tochter einer<br />
Dienstmagd in der ostfranzösischen Provinz<br />
auf die Welt gekommen, verzichtete die überzeugte<br />
Republikanerin trotz ihrer Ausbildung<br />
zur Grundschullehrerin auf eine Anstellung im<br />
Schuldienst, weil sie einen Eid auf den Kaiser ablehnte.<br />
Und in Paris, wohin sie im Alter von 26<br />
Jahren umgezogen war, unterrichtete sie nicht<br />
nur an einer privaten Mädchenschule: Sie engagierte<br />
sich in Frauengruppen und schloss sich<br />
der sozialistischen Opposition an.<br />
Konsequent blieb sie auch, als im Schatten<br />
des deutsch-französischen Kriegs 1871 die<br />
Pariser ArbeiterInnen die Macht übernahmen<br />
Innerhalb der Musicalszene hat sich<br />
«imScheinwerfer» seit der Gründung vor zwei<br />
Jahren einen guten Namen erarbeitet. Nicht<br />
zuletzt dank der Vergabe eines nach <strong>dem</strong> Magazin<br />
benannten Preises. Isenegger: «Die Musicaldarsteller<br />
finden es toll, dass sie bei uns eine<br />
Plattform haben.» Und nicht nur sie, sondern<br />
auch die rund 30 000 Personen, die im Monat<br />
«imScheinwerfer» lesen.<br />
«Freier und persönlicher»<br />
Deckt das Musicalmagazin ein genrespezifisches<br />
Interesse ab, so versuchen zwei andere<br />
Internetpublikationen jenem Journalismus<br />
Raum zu geben, den sie in der Schweizer Medienlandschaft<br />
zunehmend vermissen: lange Formate,<br />
reichhaltiger Lesestoff, der nicht primär<br />
von Aktualität und Aufmerksam keitsdruck geprägt<br />
ist, verfasst von profilierten und kompetenten<br />
AutorInnen, wie etwa Hanspe ter Künzler.<br />
Der als «Düsi aus London» von DRS 3 bekannte<br />
Journalist schreibt für «TheTitle» und<br />
«Neuland», die beiden jungen Onlinemagazine.<br />
«Ich schreibe freier und persönlicher und<br />
kann mehr von meinem ‹Ich› in die Texte einbringen»,<br />
benennt der Journalist den Unterschied<br />
zu den Aufträgen etablierter Medien. In<br />
der Erstausgabe von «Neuland» widmete sich<br />
Künzler <strong>dem</strong> englischen Schulsystem am Beispiel<br />
seiner beiden Töchter. Ungewohnte Töne<br />
vom Musikjournalisten. Von «Perlen, die man<br />
sonst nicht präsentiert kriegt» spricht Judith<br />
Stofer, eine der Gründerinnen von «Neuland».<br />
Die aber wollen geschliffen werden. Was<br />
die Onlinemagazine von Blogs unterscheidet,<br />
ist ihre Redaktionsstruktur. Zwar kann heute<br />
jeder und jede <strong>mit</strong> wenig Aufwand und in ansprechender<br />
Gestalt im Internet veröffentlichen,<br />
was ihm oder ihr gerade durch den Kopf<br />
geht. Einen institutionalisierten Qualitätsfilter<br />
leisten sich aber nur die wenigsten. Der<br />
macht den Unterschied. Man treffe eine «stren<br />
und die erste Räte<strong>dem</strong>okratie der Geschichte<br />
ausriefen. Sie organisierte Suppenküchen, versorgte<br />
die Verwundeten im Kampf zur Verteidigung<br />
der proletarischen Republik, zog sich eine<br />
Uniform an und kämpfte <strong>mit</strong> ihrem Frauenbataillon<br />
auf den Barrikaden.<br />
Die Niederschlagung der Pariser Kommune<br />
kostete 30 000 Aufständischen das Leben;<br />
die meisten wurden exekutiert. «La pétroleuse»,<br />
die Zündlerin, wie sie von den Bürgerlichen<br />
genannt wurde, verschonte man jedoch. Die<br />
siegreiche Bourgeoisie wollte keine Märtyrerin<br />
schaffen und verbannte die von den Massen<br />
verehrte «Jeanne d‘Arc des Anarchismus» auf<br />
die französische Kolonial insel Neukaledonien.<br />
Doch auch dort gab sie keine Ruhe: Sie unterstützte<br />
die UreinwohnerInnen bei einer antikolonialen<br />
Revolte. Nach einer Amnestie 1880<br />
kehrte sie zurück, half streikenden Textilarbeiterinnen<br />
und führte 1883 eine Demonstration<br />
an, bei der drei Bäckereien geplündert wurden.<br />
Erneut wurde sie verurteilt, kam aber aufgrund<br />
von Protesten nach drei Jahren frei, schrieb Aufrufe<br />
und hielt flammende Reden, bis sie <strong>mit</strong> 74<br />
Jahren während einer Vortragsreise in Marseille<br />
starb.<br />
Wie heisst die Revolutionärin, deren Sarg<br />
über 100 000 Menschen begleiteten und nach<br />
der in Paris eine Metrostation benannt ist? pW<br />
Die Auflösung finden Sie auf Seite 26.<br />
Das Onlinemagazin «neuland» versteht sich auch als Plattform für bildende Kunst: Das interaktive Cover der<br />
zweiten Ausgabe gestaltete das Basler Künstlerpaar Studer / Van den Berg.<br />
ge Auswahl» vor der Veröffentlichung, sagt<br />
«Neuland»Macherin Judith Stofer, einst Präsidentin<br />
der JournalistInnenUnion und heute<br />
freie Journalistin.<br />
Wenn sich ««imScheinwerfer» inhaltlich<br />
über den Musicalfokus als Alternative zum Programm<br />
der Massenmedien positioniert, dann<br />
tut dies «Neuland» über die Form. Das Magazin<br />
verweigert sich bewusst den Onlinetrends.<br />
So gibt es auch keine Kommentarmöglichkeit<br />
zu den Artikeln. Künzler schätzt<br />
das: «Ich finde den Wortdurchfall<br />
in den meisten Kommentarspalten<br />
eher irritierend als bereichernd.»<br />
Man wolle bewusst<br />
Ruhe hineinbringen, nicht das<br />
Schrille, Lärmige, sagt Stofer.<br />
Film und Ton präsentiert man in<br />
eigens dafür vorgesehenen Gefässen,<br />
um nicht von den Texten<br />
abzulenken.<br />
Trotz aufwendiger Gestaltung<br />
gemahnt das Monatsmagazin<br />
allzu stark an das Ab<br />
bild einer Printpublikation <strong>mit</strong> typografischen<br />
und gestalterischen Elementen, die auf die<br />
Lesegewohnheiten am Bildschirm nicht wirklich<br />
Rücksicht nehmen. Das bleibt vorerst so.<br />
In einem halben Jahr wird eine «strenge Zwischenbilanz»<br />
gezogen; auch was das Geld angeht.<br />
Das fliesst nämlich erst spärlich. Nun<br />
hoffen die MacherInnen dank <strong>dem</strong> Leistungsausweis<br />
von zwei Ausgaben auf Stiftungen;<br />
eine Hoffnung, die derzeit alle hegen, die Projekte<br />
jenseits des kommerziellen Verwertungsdrucks<br />
zu lancieren versuchen – und es sind<br />
nicht wenige.<br />
Magazin <strong>mit</strong> Mäzen<br />
Was die<br />
Onlinemagazine<br />
von Blogs<br />
unterscheidet,<br />
ist der<br />
Qualitätsfilter.<br />
Keine Sorgen um die Finanzierung brauchte<br />
sich lange Zeit «TheTitle» zu machen, ein Kulturmagazin<br />
<strong>mit</strong> der nicht gerade bescheidenen<br />
Zensurversuche<br />
Die polizei klingelt nicht<br />
Im November wurde die Türe des Münchner<br />
«Kafe Marat» von der Polizei <strong>mit</strong> einem Rammbock<br />
aufgebrochen und anschliessend die Tür<br />
zum Infoladen <strong>mit</strong> einem handlichen Brecheisen<br />
geöffnet. Die dort anwesenden Leute waren<br />
ziemlich erschrocken und fragten sich, wieso<br />
die Polizei nicht geklingelt hat. Die Frage war zu<br />
kompliziert und konnte bis heute von der Polizei<br />
nicht beantwortet werden.<br />
Sie suchten nach der Ausgabe Nr. 718 der<br />
Zeitschrift «Interim» aus <strong>dem</strong> Umfeld der Berliner<br />
autonomen Szene. In der besagten Nummer<br />
wurde über einen «spurenarmen Molli» berichtet<br />
und in polizeilicher Leseart «öffentlich<br />
zu Straftaten aufgefordert». Woher die Polizei<br />
dies weiss, ist bis heute auch nicht beantwortet.<br />
Im «Kafe Marat» sind die Polizisten nicht fündig<br />
geworden. Da<strong>mit</strong> sie nicht <strong>mit</strong> leeren Händen<br />
abziehen mussten, haben sie Rammbock<br />
und Brecheisen wieder <strong>mit</strong>genommen.<br />
Auch in Berlin werden seit 2009 in schöner<br />
Regelmässigkeit Buchhandlungen polizeilich<br />
durchsucht. Allerdings wird dort vorher<br />
geklingelt. Es betrifft vor allem den Infoladen<br />
«M99 – Gemischtwarenladen für Revolutionsbedarf»,<br />
die Buchhandlung «oh*21» und den<br />
Unterzeile «Das kulturelle Überformat». Drei<br />
Jahren lang konnte Chefredaktor Rudolf Amstutz<br />
aus <strong>dem</strong> Vollen schöpfen. Der nach New<br />
York ausgewanderte Berner Journalist fand in<br />
einer kleinen, florierenden Softwarefirma den<br />
Mäzen für sein Wunsch und Traummagazin.<br />
Amstutz bot bekannten SchreiberInnen, darunter<br />
auch Hanspeter Künzler, Raum für Beiträge<br />
zur Populärkultur, von Musik über Film<br />
bis Comic. Und das jeweils in der Länge und<br />
Ausführlichkeit, wie sie der Stoff<br />
erfordert, und nicht, wie sie ein<br />
Layout vorgibt.<br />
Einen sechsstelligen Betrag<br />
habe man bisher in «TheTitle» investiert,<br />
sagt Claudia Mühlebach,<br />
die firmenseitig das Projekt betreut.<br />
Nach <strong>dem</strong> überraschenden<br />
Verlust eines Kunden zog sich<br />
die Softwarefirma Anfang 2010<br />
als Sponsor zurück. Zumindest<br />
vorübergehend. «Wir sehen aber<br />
weiterhin das Potenzial des Magazins<br />
und zahlen auch jetzt<br />
noch regelmässig kleinere Beiträge», sagt Mühlebach.<br />
Doch für das Gros der Betriebskosten<br />
muss jetzt der Chefredaktor Klinken putzen<br />
gehen. Im Moment kann sich Amstutz ganz<br />
auf diese Aufgabe konzentrieren. Seit einem<br />
halben Jahr wurden keine neuen Texte mehr<br />
veröffentlicht, im Januar steht ein Neustart<br />
von «TheTitle» an. Der Versuch, ein Printmagazin<br />
im Netz zu simulieren, <strong>mit</strong> Seiten zum<br />
Blättern und monatlicher Erscheinungsweise,<br />
sei an Grenzen gestossen und für die Lektüre<br />
nicht ideal, findet Amstutz. Für den grenzenlosen<br />
Optimisten heisst das aber nicht, dass er<br />
aufgibt. 2011 soll «TheTitle» als App auf iPhone<br />
und iPad zu lesen sein.<br />
www.imscheinwerfer.ch<br />
www.neuland-mag.net<br />
www.the-title.com<br />
Buchladen und Verlag «Schwarze Risse», bei<br />
<strong>dem</strong> bereits neun Mal Flugblätter und Zeitschriften<br />
beschlagnahmt wurden. Von Seiten<br />
der Staatsanwaltschaft wird gegen alle drei<br />
Buchhandlungen er<strong>mit</strong>telt.<br />
BuchhändlerInnen sollen also für den<br />
Inhalt der Schriften, die sie vertreiben, verantwortlich<br />
gemacht werden. Macht sich also<br />
jemand strafbar, der dazu aufruft, einen Nazi<br />
Aufmarsch zu blockieren oder gegen einen<br />
CastorTransport zu <strong>dem</strong>onstrieren? Verstösst<br />
ein Essay von Walter Benjamin gegen das Werbeverbot<br />
für Betäubungs<strong>mit</strong>tel? Auch linke Internetprovider<br />
hatten wegen gehosteten Internetseiten<br />
wiederholt Besuch vom Staatsschutz<br />
erhalten.<br />
Die Geschichte kommt einem nicht unbekannt<br />
vor. Vor Jahren wurde auch die linke<br />
Buchhandlung Pinkus in Zürich Ziel solcher<br />
Razzien. Gegen die damalige Verantwortliche<br />
wurde gar ein Verfahren wegen des Verkaufs<br />
von linken Zeitschriften eingeleitet. Das Verfahren<br />
wurde später mangels Beweisen eingestellt.<br />
Leuten, die sich gegen die staatlichen<br />
Zensurversuche in Deutschland wehren wollen,<br />
sei www.unzensiertlesen.de empfohlen. ibo