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Zwangsernährung<br />
Würgen, Erbrechen,<br />
Zittern<br />
und das Gefühl,<br />
zu ersticken<br />
Wenn politische Gefangene in den Hungerstreik treten,<br />
greifen die Obrigkeiten zur Zwangsernährung. Dabei führt sie<br />
oft zum Tod. Genfer Ärzte zeigen in einem Artikel<br />
auf, was aus der Vergangenheit gelernt werden könnte.<br />
Von HElEn BrüGGEr<br />
Die aktuelle Debatte um Zwangsernährung,<br />
ausgelöst durch den Hungerstreik des Walliser<br />
Hanfbauern Bernard Rappaz, ist nicht neu.<br />
In vielen Ländern haben zahlreiche Gefangene<br />
in der Vergangenheit zum Mittel des Hungerstreiks<br />
gegriffen. Viele von ihnen sind zwangsernährt<br />
worden, <strong>mit</strong> oder gegen den Willen<br />
der Ärzte. Eine Gruppe von sieben Genfer Ärzt<br />
Innen, darunter Hans Wolff, der behandelnde<br />
Arzt von Rappaz (siehe Interview), erinnern<br />
in der neusten Ausgabe der «Revue médicale<br />
Suisse» daran, dass Zwangsernährung nicht<br />
nur ein politisches, ethisches und medizinisches<br />
Problem ist, sondern eine Tortur, die<br />
<strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Tod enden kann.<br />
Der Hungerstreik als letztes Mittel von<br />
Machtlosen, schreiben die ÄrztInnen, wurde<br />
erstmals von englischen Frauenrechtlerinnen<br />
eingesetzt. Die Suffragetten, die wegen ihres<br />
Kampfs für das Frauenstimmrecht ins Gefängnis<br />
geworfen wurden, galten bis zum Ersten<br />
Weltkrieg für gewisse Ärzte als «abnormal aufgeregte<br />
Individuen», die es gegen ihren Willen<br />
zu «behandeln» galt, wenn sie in den Hungerstreik<br />
traten.<br />
Der «Fixierstuhl» von Guantánamo<br />
Was eine Zwangsernährung bedeutet, macht<br />
die von der «Revue médicale» zitierte Aussage<br />
einer Suffragette deutlich: «Das Einführen der<br />
Sonde durch die Nase war nur unangenehm.<br />
Doch als sie weiter hinabgestossen wurde, löste<br />
sie Würgen, Erbrechen, Zittern und das Gefühl<br />
von Ersticken aus. Im Kampf um Luft richtete<br />
ich mich auf, bis ich aufrecht stand, obwohl<br />
ich von vier Wärterinnen auf den Stuhl niedergedrückt<br />
wurde, danach sank ich erschöpft<br />
zurück. Nach<strong>dem</strong> die Sonde wieder herausgezogen<br />
worden war, hatte ich den Eindruck,<br />
asthmatisch zu sein, und konnte nur ganz<br />
oberflächlich atmen. Tief einatmen tat entsetzlich<br />
weh. Zwei Wärterinnen führten mich<br />
in die Zelle zurück, dort lag ich <strong>mit</strong> qualvollen<br />
Schmerzen, die immer stärker wurden.»<br />
Die Suffragetten gab es nach <strong>dem</strong> Ersten<br />
Weltkrieg nicht mehr, die Zwangsernährung<br />
wurde weiter angewendet. Etwa gegen hungerstreikende<br />
Mitglieder der Roten Armee Fraktion<br />
RAF in der Bundesrepublik Deutschland,<br />
gegen Mitglieder der spanischen Grapo, gegen<br />
IRAMitglied Bobby Sands, gegen die <strong>dem</strong>okratische<br />
Bewegung in der Türkei, zuletzt gegen<br />
die Gefangenen von Guantánamo, wo die amerikanische<br />
Armee gar den «Fixierstuhl» erfand:<br />
einen Stuhl, an den die Hungerstreikenden<br />
gefesselt wurden, um ihnen anschliessend gewaltsam<br />
eine Sonde einzuführen. Dabei ging<br />
es weniger um ihre Rettung als darum, den<br />
Protest zu brechen. Die Verantwortung für die<br />
Massnahme lag beim Militärkommandanten,<br />
die Militärärzte entschieden über die Art und<br />
Weise der Zwangsernährung.<br />
In allen Ländern, in denen sie angewandt<br />
wurde, löste die Zwangsernährung<br />
ethische, medizinische, juristische und politische<br />
Debatten aus. Im Vorkriegsengland de<br />
battierten Ärzte verschiedene Lehrmeinungen,<br />
in Deutschland führte sie zu einer politischen<br />
Polarisierung, in Spanien nötigte ein Entscheid<br />
des Verfassungsgerichts die Ärzte, Zwangsernährungen<br />
vorzunehmen. Besonders intensiv<br />
war die Auseinandersetzung zwischen Staatsräson<br />
und medizinischer Ethik in der Türkei.<br />
«Grauenhafter Leidensweg»<br />
Dort organisierte die <strong>dem</strong>okratische Bewegung<br />
in den Jahren 1996 und 2000 zwei grosse kollektive<br />
Hungerstreiks in den Gefängnissen<br />
und unter den Angehörigen der Gefangenen.<br />
Regierung und Justiz übten massiven Druck<br />
auf den türkischen Ärzteverband aus, der sich<br />
gegen die Zwangsernährung ausgesprochen<br />
hatte und seinen Mitgliedern verbot, Hungerstreikende<br />
ohne deren Einwilligung künstlich<br />
zu ernähren. Die Regierung drohte den Ärzten<br />
Strafverfolgung an und klagte gegen den Verband.<br />
Als sich die Streiks ausweiteten, machte<br />
sich die Regierung daran, das Strafgesetz zu<br />
verschärfen – nur schon der Aufruf zu einem<br />
Hungerstreik sollte <strong>mit</strong> Gefängnis bis zu zwanzig<br />
Jahren bestraft werden. Insgesamt etwa<br />
was Bernard rappaZ’ arZt sagt<br />
hundert Menschen starben in der Türkei an<br />
den Folgen der kollektiven Hungerstreiks. Der<br />
Konflikt ging bis vor den Europäischen Gerichtshof<br />
für Menschenrechte, der den Ärzten<br />
recht gab. 2003 ratifizierte das türkische Parlament<br />
eine Konvention, die Betroffenen erlaubt,<br />
eine medizinische Behandlung zu verweigern.<br />
«Man kennt heute das Schicksal von Hungerstreikenden,<br />
die einer Zwangsernährung unterworfen<br />
worden sind», fasst die «Revue médicale»<br />
zusammen: «Das Los dieser Menschen,<br />
meistens politische Gefangene, wird als grauenhafter,<br />
erniedrigender Leidensweg beschrieben.»<br />
Zwangsernährte starben «entweder als<br />
direkte Folge einer falschen Wiederernährung<br />
oder als indirekte Folge der Komplikationen,<br />
die die Behandlung auslöste».<br />
Zwangsernährung ist Folter<br />
In der «Erklärung von Malta» hielt der<br />
Weltärztebund WMA schon 1991 fest: «Die<br />
Zwangsernährung trotz freiwilliger und erklärter<br />
Verweigerung ist nicht vertretbar.» Und<br />
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte<br />
bestätigte in zwei Urteilen von 2005 und<br />
2007, dass die Zwangsernährung als Folter be<br />
»Unabhängig bleiben gegenüber der Justiz»<br />
WOZ: Die Walliser Justiz will Sie zwingen, den<br />
Hanfbauern Bernard Rappaz zwangsweise zu<br />
ernähren. Sie haben gegen diesen Befehl vor<br />
Bundesgericht rekurriert. Weshalb?<br />
Hans Wolff: Er ist medizinisch nicht<br />
ausführbar. Für jeden Patienten gilt: Ist er entscheidungsfähig,<br />
muss der Arzt seinen Willen<br />
respektieren. Wir dürfen Gefangene nicht anders<br />
behandeln als Personen in Freiheit. Die<br />
Antwort des Bundesgerichts auf meinen Rekurs<br />
steht noch aus.<br />
Im August hat das Bundesgericht entschieden,<br />
dass die Strafvollzugsbehörde eine<br />
Zwangsernährung anordnen muss, wenn das<br />
der einzige Weg ist, irreversible Schäden oder<br />
den Tod des Gefangenen zu vermeiden…<br />
In <strong>dem</strong> Entscheid steht auch, dass das unter<br />
Respektierung der medizinischen Standesregeln<br />
und der Würde des Betroffenen geschehen<br />
muss. Im vorliegenden Fall ist weder das<br />
Hans Wolff.<br />
Kultur / Wissen 23<br />
WOZ Nr. 49 9. Dezember 2010<br />
Antizwangsernährungsplakat Britannien, 1909. BILD: SUFFRAGETTES.NLS.UK<br />
eine noch das andere möglich. Wir befinden<br />
uns deshalb nicht im Widerspruch zum Bundesgericht,<br />
wenn wir eine Zwangsernährung<br />
verweigern. Nur im Widerspruch zur Interpretation<br />
der Walliser Justiz.<br />
Was hat Sie und Ihre KollegInnen dazu<br />
veranlasst, sich <strong>mit</strong> einem Artikel über historische<br />
Fälle von Zwangsernährung an die Öffentlichkeit<br />
zu wenden?<br />
Wir hatten den Eindruck, dass zu wenig<br />
bekannt ist, was eine Zwangsernährung bedeutet.<br />
Viele denken, das sei harmlos wie eine<br />
Blutentnahme. Das stimmt nicht. Es ist eine<br />
<strong>mit</strong> grosser Gewaltanwendung verbundene<br />
Handlung. Und sie ist gefährlich. Das Risiko zu<br />
sterben, kann bis zu sechzig Prozent betragen.<br />
Unsere Absicht war nicht, Bernard Rappaz <strong>mit</strong><br />
den geschilderten Fällen zu vergleichen. Wir<br />
nehmen nicht Stellung zum Kampf von Rappaz.<br />
Wie erleben Sie die Situation persönlich?<br />
Es ist sehr schwierig. Es wäre schwierig<br />
genug, wenn ich mich nicht auch noch gegen die<br />
Justiz verteidigen müsste. Als Arzt will ich <strong>dem</strong><br />
Patienten helfen, sein Leiden zu lindern. Wenn<br />
ein Patient das verweigert, stellt das die Grundfeste<br />
unseres Berufs in Frage. Wir haben immer<br />
und immer wieder, auch von Personen ausserhalb<br />
der Gefängnisabteilung, abklären lassen,<br />
ob Rappaz wirklich so weit gehen will.<br />
Wer kann Rappaz noch retten?<br />
Verschiedene Akteure könnten es, auch er<br />
selber. Ich will dazu jedoch nicht Stellung neh<br />
trachtet werden könne, wenn <strong>dem</strong> Inhaftierten<br />
Fesseln angelegt oder wenn ihm zwangsmässig<br />
eine Ernährungssonde eingelegt werde.<br />
In einem anderen Urteil entschied das<br />
Gericht, dass das Sterbenlassen eines Gefangenen<br />
nach einem Hungerstreik «nicht gegen<br />
die Menschenrechte verstösst, weil er während<br />
seiner Gefangenschaft Zugang zur gleichen<br />
Behandlung wie in der Freiheit hatte».<br />
Dies schrieb die deutschsprachige Ausgabe der<br />
«Schweizerischen Ärztezeitung» vom 29. September,<br />
die sich ebenfalls der Problematik des<br />
Hungerstreiks widmet.<br />
Für die Genfer Ärzte ist klar: Ein Hungerstreik<br />
gehört zum Recht auf Selbstbestimmung,<br />
zu den Grundrechten des Menschen. Und nur<br />
«die Unparteilichkeit des Medizinalpersonals<br />
und ihre grundlegende Unabhängigkeit von<br />
den Gefängnis, Justiz und Polizeibehörden»<br />
könne garantieren, dass den PatientInnen im<br />
Gefängnis die gleiche Qualität der medizinischen<br />
Pflege zuteil werde und sie die gleichen<br />
Rechte genössen wie PatientInnen in Freiheit.<br />
«Jeûne de protestation et alimentation forcée:<br />
relevé de pratiques historiques» in<br />
«Revue médicale Suisse», 1. Dezember 2010:<br />
http://revue.medhyg.ch<br />
men. Ich als Arzt kann ihn nicht gegen seinen<br />
Willen retten. Als Gefangener ist mein Patient<br />
abhängiger, verwundbarer als andere. Wenn<br />
ich ihn gegen seinen Willen künstlich ernähren<br />
würde, könnte das sein Vertrauen zu mir<br />
zerstören. Schlimmer: Alle Gefängnisinsassen<br />
müssten fürchten, dass Doktor Wolff sie eventuell<br />
gegen ihren Willen behandelt. Deshalb<br />
ist es so wichtig, dass die Gefängnismedizin<br />
vollständig unabhängig gegenüber den Justiz,<br />
Gefängnis und Polizeibehörden handeln kann.<br />
In der Schweiz ist das erst in drei Kantonen garantiert:<br />
Genf, Waadt und Wallis.<br />
Geht es im Konflikt um einen Kampf<br />
zwischen den Prinzipien der Justiz und den<br />
Prinzipien der Medizin, bei <strong>dem</strong> das Individuum<br />
auf der Strecke bleiben könnte?<br />
Das ist ganz und gar nicht so. Meine erste<br />
Sorge gilt meinem Patienten, nicht irgendwelchen<br />
Prinzipien. Darüber hinaus geht es<br />
um eine grundlegende Frage. Wenn mir heute<br />
die Justiz vorschreibt, wie ich einen Gefangenen<br />
behandeln muss, kann sie oder irgendeine<br />
andere Instanz mir morgen vorschreiben, wie<br />
ich einen übergewichtigen Patienten gegen seinen<br />
Willen behandeln muss. Das ist gegen die<br />
Grundrechte der Patienten und darf von einem<br />
Arzt niemals akzeptiert werden.<br />
IntE rVIEW: H E l E n BrüGGEr<br />
Hans Wolff ist der behandelnde Arzt von<br />
Bernard Rappaz in der Gefängnisabteilung<br />
des Genfer Kantonsspitals.