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Besser mit dem Bus

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Als ob eine Pflicht zu absolvieren wäre: Prototypisches Verhalten im Ikea-Musterbubenzimmer.<br />

«IkeavIlle»<br />

Mustergültig am Fenster stehen<br />

Kultur / Wissen 19<br />

WOZ Nr. 49 9. Dezember 2010<br />

Wohn ich noch oder leb ich schon?: Gedanken über das «bessere Leben» anlässlich einer Audioführung des Theaterkollektivs<br />

Schauplatz International durch die Ikea-Filiale in Lyssach.<br />

Von AdriAn riKlin (TexT) und ursulA Häne (FoTo)<br />

Es ist Freitagabend in der Ikea-Filiale Lyssach,<br />

und ich sitze leicht benommen auf <strong>dem</strong> weissen<br />

Sofa in der Singlemusterwohnung.<br />

Der 84-jährige Ikea-Gründer Ingvar Kamprad,<br />

der reichste in der Schweiz wohnhafte<br />

Mensch, wäre wohl ziemlich schockiert, wenn<br />

er mich in meiner tatsächlichen Wohnung besuchen<br />

würde. Es ist nämlich so, dass ich immer<br />

noch in den siebziger Jahren wohne. Alle<br />

meine Möbel sind mindestens dreissig Jahre<br />

alt. Die Zeitsprünge, die ich vollbringe, wenn<br />

ich die Türschwelle meiner tatsächlichen<br />

Wohnung überschreite, sind enorm.<br />

Wenn nun also Ikea die Welt ist, bin ich einer<br />

dieser Zaungäste aus <strong>dem</strong> letzten Jahrhundert,<br />

die höchstens studienhalber darin Platz<br />

nehmen. Aber war nicht dieses Jahrzehnt, aus<br />

<strong>dem</strong> sich meine Möbel ins 21. Jahrhundert<br />

hinübergerettet haben, auch jenes Jahrzehnt,<br />

in <strong>dem</strong> Ikea ein neues Gebot ausrief, das die<br />

Welt verändern sollte? «Benutze es und wirf<br />

es weg!» Es war die ultimative Gebrauchsanleitung<br />

für einen zeitgemässeren Umgang<br />

<strong>mit</strong> <strong>dem</strong> täglichen Mobiliar. Schlachtruf für<br />

den mobilen Menschen, der auszieht, die Vergangenheit<br />

hinter sich zu lassen.<br />

Die Esoterik von Ikea<br />

Es riecht nach Duftkerzen. Und die Frage,<br />

sie lautet: «Wohnst du noch oder lebst du<br />

schon?» <strong>Besser</strong> leben: So also fühlt es sich<br />

an auf diesem Sofa. Der tiefere Sinn von<br />

Ikea, ja, er liegt ganz eindeutig in dieser zeitgenössischen<br />

Geschichtspolitik. Im Zeitalter<br />

der Mobilität geht es darum, möglichst keine<br />

Spuren zu hinterlassen (und Staub schon<br />

gar nicht aufkommen zu lassen). Ein flexibler<br />

Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er<br />

Wohnort, Beruf und Weltanschauung jederzeit<br />

und ohne grösseres Aufheben wechseln<br />

kann. Dazu braucht es Wegwerfmöbel.<br />

Wirf weg – und du wirst neugeboren! Das<br />

ist die Esoterik von Ikea. Lass los – und alles<br />

wird gut. Und hell. Und leicht. Und ich ertappe<br />

mich beim Gedanken, es vielleicht doch<br />

noch einmal zu wagen, versuchsweise nur:<br />

ein zeitgenössischer Mensch zu werden, <strong>mit</strong><br />

zeitgenössischen Möbeln und ebensolchen<br />

Beziehungen und Gedanken und Gefühlen.<br />

Aber für diese Art von Reibungslosigkeit ist<br />

es wohl zu spät. Zeitgenossenschaft, das ist<br />

in diesem Zeitalter ja nichts anderes als eine<br />

poetische Umschreibung für Kompatibilität.<br />

Ein Hauch von Demokratie<br />

Nun geht ein junges Paar an meiner provisorischen<br />

Singlewohnung vorüber, als träte<br />

es aus <strong>dem</strong> Schatten einer Gegenwart in den<br />

Lichtkegel einer Zukunft. Ein paar Zimmer<br />

weiter, in einem Musterbubenzimmer, hockt<br />

ein kleiner Junge vor einer Playstation. Die<br />

Art, wie er spielt und <strong>mit</strong> den Armen fuchtelt,<br />

ist vorbildlich. Als ob aus der Mustergültigkeit<br />

der Einrichtung ein ebenso mustergültiges<br />

Verhalten resultieren würde. Ob ich da<br />

nicht ein wenig übertreibe <strong>mit</strong> meinem Kulturpessimismus?<br />

Und doch: Es ist das Prototypische,<br />

das mich abstösst: das Prototypische<br />

einer räumlichen Inszenierung, in der<br />

zwangsläufig immer auch ein prototypisches<br />

Verhalten zutage tritt.<br />

So stehe ich mustergültig am Fenster und<br />

schaue komfortabel in die Welt, um dann vorbildlich<br />

die Vorhänge zu ziehen, mich wohlstandshalber<br />

auf das Mustersofa zu setzen<br />

und standesgemäss auf den Bildschirm zu<br />

schauen, wo mir eine Nachrichtensprecherin<br />

<strong>mit</strong> einem mustergültigen Lächeln auf den<br />

Lippen die neusten Schreckensnachrichten<br />

aus dieser grossen Welt <strong>mit</strong>teilt, vor der ich<br />

die Vorhänge gezogen habe.<br />

Aber wo liegt denn das Problem? Ist das alles<br />

nicht doch auch irgendwie <strong>dem</strong>okratisch:<br />

Gleiche Möbel für alle? Gute, schöne, günstige<br />

Möbel? Oder handelt es sich eben doch<br />

vielmehr um eine Form von kapitalistisch<br />

verwertetem Konsumsozialismus? Ikea ist ja<br />

auch das: ein multinationaler Einrichtungskonzern<br />

<strong>mit</strong> weltweit 130 000 Mitarbeiter-<br />

Innen, der sich soziale Verantwortung und<br />

ökologisches Bewusstsein auf die Fahnen<br />

geschrieben hat. Ein Unternehmen <strong>mit</strong> einem<br />

geschätzten Wert von 36 Milliarden US-Dollar,<br />

dessen Eigentümerin eine als gemeinnützige<br />

Organisation registrierte Stiftung<br />

<strong>mit</strong> Sitz in den Niederlanden ist und deshalb<br />

kaum Steuern zahlt – <strong>mit</strong> einem steinreichen<br />

Patron in der Schweiz, der in den Genuss von<br />

Pauschalbesteuerung kommt.<br />

Leben als Orientierungslauf<br />

Im Mustereinzelzimmer für kleine Buben <strong>mit</strong><br />

der obligaten Weltkarte an der Wand sitzt<br />

noch immer der Junge und spielt Playstation,<br />

als hätte er irgendeine Pflicht zu erfüllen.<br />

Hausaufgaben. Absolvieren, es ist dieses<br />

Wort, das mir in der Ikea-Filiale in Lyssach<br />

immer wieder durch den Kopf geht: das Leben<br />

als Orientierungslauf.<br />

Die Verhältnisse, sie haben sich längst<br />

schon gekehrt: Nicht mehr die Wohnungen<br />

sind es, die sich den menschlichen Bedürfnissen<br />

und Eigenarten anpassen, sondern vielmehr<br />

die Menschen, die sich an den räum-<br />

Schauplatz InternatIonal<br />

«What happened before you came»<br />

In seiner aktuellen Produktion lotst Schauplatz<br />

International (Martin Bieri, Anna-Lisa<br />

Ellend, Albert Liebl, Lars Studer) die ZuschauerInnen<br />

in einer Audioguide-Tour durch die<br />

Ikea-Filiale Lyssach. Die Hörgeschichten gehen<br />

davon aus, dass «Ikeaville» nachts von<br />

Menschen bewohnt wird, die an einer «besseren<br />

Welt» arbeiten.<br />

Die Tour endet <strong>mit</strong> der Aufnahme eines<br />

Interviews <strong>mit</strong> Colin Crouch, Autor des Buchs<br />

«Post<strong>dem</strong>okratie». Den Hintergrund liefert<br />

die Tatsache, dass Ikea wegweisend darin<br />

ist, soziale Ideen kapitalistisch zu verwerten.<br />

Crouch: «Das grosse Unternehmen wird in der<br />

Gesellschaft, in der wir leben, nach und nach<br />

zur zentralen Institution. Immer mehr private<br />

Firmen erfüllen öffentliche Aufgaben, das<br />

Wissen privater Unternehmen wird als das<br />

wichtigste Wissen überhaupt verstanden.»<br />

In Bezug auf den Bedeutungsverlust der<br />

handwerklich-industriellen Arbeiterklasse<br />

bedeutet das, dass Gruppen, die in den Sek-<br />

lichen Voraussetzungen orientieren. Eigen-<br />

Art: Das hört sich inzwischen an, als handle<br />

es sich um eine Kunstrichtung.<br />

In einem weissen Musterzimmer entdecke<br />

ich wieder das junge Paar, ertappe die<br />

beiden, wie sie längst darin Platz genommen<br />

haben an diesem Freitagabend in der Ikea-<br />

Filiale Lyssach – in einer Zukunft, als wäre<br />

sie schon ein wenig Vergangenheit. Und alles<br />

kommt mir schleierhaft bekannt vor, als<br />

handle es sich um eine Szene, die ich schon<br />

mal in einer Illustrierten gesehen habe (als<br />

Homestory eignet sich ja immer nur das Privatleben<br />

der anderen). Vielleicht ist es am<br />

Ende das, was dieses Ikea-Gefühl ausmacht:<br />

jeder und je<strong>dem</strong> die Illusion, ein besseres<br />

Leben zu führen. Weicher liegen, klarer fernsehen,<br />

leichter sterben. Und wäre nicht auch<br />

das ein wenig <strong>dem</strong>okratisch?<br />

toren der postindustriellen Wirtschaft arbeiten,<br />

kaum mehr eine politische Identität<br />

entwickeln können, weil die Kohäsionskräfte<br />

von Klasse und Religion so schwach geworden<br />

sind: «Die breite Masse, der Kern der Gesellschaft,<br />

wird zu einem passiven Beobachter<br />

politischer Prozesse, die einerseits von<br />

Unternehmen und Parteieliten, andererseits<br />

von den Vertretern gesellschaftlicher Extreme<br />

kontrolliert werden.»<br />

«Ikeaville – What happened before you came» in:<br />

Lyssach Ikea-Filiale. Kollektive Anreise (<strong>Bus</strong> ab Bern,<br />

Tojo-Theater): Fr, 10. und 17. Dezember, 19 Uhr.<br />

Individuelle Anreise: Do, 9., So, 12., Di, 14., Do, 16.,<br />

So, 19. Dezember, 11 bis 19 Uhr (So bis 17 Uhr).<br />

Zirka 75 Minuten. Preis: «Zahl, so viel du willst».<br />

Reservationen unter Angabe der gewünschten Zahl<br />

Audioguides: tickets@schauplatzinternational.net;<br />

Tel. 031 991 99 01. Mitbringen eigener Kopfhörer<br />

erwünscht. www.schauplatzinternational.net<br />

Colin Crouch: «Post<strong>dem</strong>okratie». Aus <strong>dem</strong> Englischen<br />

von Nikolaus Gramm. Edition Suhrkamp. Berlin 2009.<br />

160 Seiten. Fr. 15.90.

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