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«auf den inseln des letzten lichts»<br />
Gefangen im Plotlabor<br />
In seinem neuen Roman greift Rolf Lappert noch weiter in die Welt aus als in seinem preisgekrönten Roman «Nach Hause schwimmen»<br />
und landet auf den Philippinen: ein unbändiger, üppiger Text auf eher banalen Handlungsbahnen.<br />
Von Bettina sPoerri<br />
Er war ein Überraschungssieger, als er vor<br />
zwei Jahren <strong>mit</strong> seinem Roman «Nach Hause<br />
schwimmen» den Schweizer Buchpreis gewann.<br />
Viele LeserInnen im deutschsprachigen<br />
Raum hatten bis dahin den Namen des früh<br />
schon aus der Schweiz ausgewanderten Schriftstellers<br />
Rolf Lappert kaum oder gar nicht gekannt.<br />
Doch nicht zuletzt die Neuheit des 2008<br />
soeben erst begründeten Schwei<br />
zer Buchpreises katapultierte<br />
den 1958 in Zürich geborenen<br />
Lappert ins Zentrum des Literaturbetriebs.<br />
Plötzlich wollten<br />
alle wissen, wer der Autor war,<br />
der sich in einem kleinen Ort in<br />
Irland niedergelassen hatte, wo<br />
er sich – nach eigener Aussage –<br />
während langer Phasen mehrheitlich<br />
zwischen Schreibtisch<br />
und Kühlschrank hin und herbewegt.<br />
Bis zu diesem ihm fremden<br />
Rummel um seine Person veröffentlichte<br />
Lappert nicht nur mehrere Romane im kleinen<br />
Basler Verlag Nachtmaschine; schon in den<br />
neunziger Jahren stand er als Autor auf der<br />
Buchliste des Nagel&KimcheVerlags. Dann<br />
allerdings gab es eine über zehnjährige Pause,<br />
in der Lappert einen Jazzclub führte und später<br />
Benda Bilili<br />
Klänge aus der<br />
Milchpulverbüchse<br />
Eigentlich hatten Florent de la Tullaye und Renaud Barret<br />
einen Dokumentarfilm über Kinshasa im Kopf. Dann trafen sie<br />
in der kongolesischen Hauptstadt auf eine Gruppe von<br />
körperbehinderten Musikern. Daraus ist ein Bandporträt<br />
entstanden, das auch viel über die Stadt erzählt.<br />
Von Fredi Bosshard<br />
«Der Typ filmt uns. Wir könnten ihm die Tasche<br />
klauen, die Kamera, das Geld.» So lautet<br />
der Kommentar einiger Jugendlicher in den<br />
nächtlichen Strassen von Kinshasa, die sich<br />
fragen, was die Filmerei der Weissen soll. Die<br />
Kids müssen irgendwie überleben in dieser<br />
chaotischen und erbarmungslosen Umgebung<br />
der Hauptstadt der Demokratischen Republik<br />
Kongo. Sie sind einige der neun Millionen EinwohnerInnen,<br />
die gelernt haben, sich auf der<br />
Strasse durchzuschlagen.<br />
«Wir schlafen auf Karton, Alter», rufen<br />
sie der filmenden Crew zu. Ihre Analyse ist<br />
prägnant: «Nur Diebstahl funktioniert hier.»<br />
Sie stellen sich einem chromglänzenden, martialischen<br />
Offroader in den Weg, fordern nur<br />
einige Krümel vom Reichtum der hinter dunklen<br />
Scheiben verborgenen Insassen. Das Auto<br />
schiebt sie wie eine mobile Festung zur Seite<br />
und fährt weiter.<br />
Unruhiger Schlaf auf einem Karton<br />
Ungeduldig zieht<br />
Lappert an den<br />
Fäden des Stoffs<br />
und zerreisst<br />
dabei manches<br />
fein Gewobene.<br />
Es heisst, dass gegen 40 000 Strassenkinder in<br />
Kinshasa leben. Sie wurden von den Eltern verstossen<br />
oder sind der häuslichen Gewalt entflohen,<br />
wurden ausgesetzt und verlassen oder<br />
sind einfach auf der Suche nach einem kleinen<br />
Verdienst. Im Zentrum putzen sie Schuhe, bewachen<br />
gegen ein kleines Entgelt Parkplätze<br />
und die SUVs der Reichen, verkaufen Pillen<br />
und geröstete Insekten, betteln und stehlen.<br />
Schulen kennen sie meistens nur von aussen,<br />
und wenn etwas mehr übrig bleibt, helfen sie<br />
ihren Geschwistern, die noch nicht so strassentauglich<br />
sind. Die Strassenkinder sind permanent<br />
auf Achse, wirken gestresst und sind auf<br />
für das Schweizer Fernsehen Folgen für die Sitcom<br />
«Mannezimmer» schrieb.<br />
Von einer Insel auf die andere<br />
Es scheint, dass Lappert erst der Wegzug nach<br />
Irland wieder ein kontinuierlicheres Schreiben<br />
an einem grossen, eigenen Text ermöglichte.<br />
Jedenfalls entstand dort die Fi<br />
gur Wilbur, jener kleinwüchsige<br />
Antiheld aus «Nach Hause<br />
schwimmen». Die Grüne Insel<br />
ist nun auch in Lapperts neuem<br />
Roman «Auf den Inseln des letzten<br />
Lichts» erneut der Ausgangspunkt<br />
der Reisen der Hauptfiguren:<br />
Megan und Tobey O’Flynn,<br />
ein Geschwis terpaar, das sich<br />
sucht, nachreist, aber vielleicht<br />
für immer verloren hat. Doch Tobey<br />
gibt nicht auf und folgt Megans<br />
Spuren bis hin zu einer Insel,<br />
die zu den Philippinen gehört. Hier trifft er auf<br />
eine seltsame Gruppe von Menschen, WissenschaftlerInnen<br />
aus Europa und Asien, die <strong>mit</strong><br />
Hilfe einiger Filipinos eine Forschungsstation<br />
für Primaten zu unterhalten versuchen, die allerdings<br />
eindeutig bessere Tage gesehen hat.<br />
Bald nimmt auch Tobey die Lethargie gefangen,<br />
der Flucht vor einer gewalttätigen Polizei. Erst<br />
im Dunkel der Nacht verziehen sie sich in einen<br />
geschützten Winkel, legen sich zum unruhigen<br />
Schlaf auf einen der hart erkämpften Kartons.<br />
Körnige Aufnahmen aus <strong>dem</strong> nächtlichen<br />
Kinshasa stehen am Anfang des Films «Benda<br />
Bilili!» von Florent de la Tullaye und Renaud<br />
Barret. Die Filmer aus Frankreich hatten 2004<br />
ein Projekt zu einem Dokumentarfilm über<br />
die Stadt im Kopf, als sie <strong>mit</strong> den Dreharbeiten<br />
begannen. Bei ihren Recherchen sind sie auf<br />
die Kids und eine Gruppe von Behinderten in<br />
abenteuerlichen Rollstühlen gestossen, die im<br />
Zentrum von Kinshasa beim MandelaKreisel<br />
ihre Tage verbringen oder sich beim Zoo zum<br />
Musizieren treffen. Tullaye und Barret haben<br />
ihre Pläne modifiziert und über sechs Jahre an<br />
einem faszinierenden Bandporträt gearbeitet.<br />
Léon «Ricky» Likabu, der von allen Papa<br />
Ricky genannt wird, betreibt seinen mobilen<br />
Laden vom Rollstuhl aus. Er verkauft Zigaretten<br />
und schenkt Pastis aus, arbeitet zwischendurch<br />
als Schneider und Mechaniker. Der Gründer<br />
von Staff Benda Bilili hält die Gruppe zusammen<br />
und ist überzeugt, dass er und die anderen<br />
in der Band es eines Tages schaffen werden.<br />
Sie singen und träumen von der Hoffnung und<br />
vom Glück, das meist unverhofft kommt. Optimismus<br />
und Talent ist alles, was sie haben.<br />
Der Rollstuhl von Papa Ricky ist ein<br />
handgefertigtes Modell, das er und Freunde<br />
aus verschiedenen Veloteilen hergestellt haben.<br />
Sein Kollege Coco Ngambali Yakala, der ebenfalls<br />
an Polio leidet, ist berühmt für seinen frisierten<br />
Rollstuhl, der aus Mopedteilen gebaut<br />
wurde. Weil er sich aber oft kein Benzin leisten<br />
kann, ist der Gitarrist und Sänger, wie die<br />
die von den Menschen hier Besitz ergriffen hat.<br />
Seine Motivation, Megan zu suchen, schwindet.<br />
Zum einen mögen die aus der halben Welt<br />
zusammengewürfelten BewohnerInnen der Inseln<br />
– es spielt im Verlauf der Handlung noch<br />
eine kleinere Nachbarinsel eine Rolle – als Mikrokosmos<br />
für die gesamte Menschheit stehen;<br />
zum anderen gewinnt der Ort zuweilen die Bedeutung<br />
einer bruchstückhaften Allegorie auf<br />
das Geschichtenerzählen und das Schreiben<br />
an sich. So kommentiert etwa die Figur eines<br />
Inders oder Pakistani – ihre Identität bleibt<br />
letztlich ungeklärt –, die immer wieder neue<br />
Versionen ihrer Biografie kreiert, die Grundbedingungen<br />
des Erfindens überhaupt.<br />
Der Autor jagt seine Figuren<br />
Doch als hätte Lappert diesem vielschichtigen<br />
Bild, das sich in einem ruhigen Rhythmus zu<br />
entwickeln beginnt, nicht vertraut, zieht er ungeduldig<br />
an den Fäden des Stoffs und zerreisst<br />
dabei manches bereits fein Gewobene oder<br />
zerrt andeutungsvolle Muster ans grelle Licht,<br />
wo sie schnell verblassen. Tobeys Gefangensein<br />
in einer Art Loop, sein Einsinken in das Einerlei<br />
der feuchtwarmen Tage, kontrastiert und<br />
durchbricht der Roman immer wieder durch<br />
thrillerartige Plotelemente: So gerät Tobey wie<br />
anderen Mitglieder der Band, auf die Hilfe der<br />
Strassenkinder angewiesen. Diese schieben die<br />
Rollstühle über die unwegsamen Strassen von<br />
Kinshasa.<br />
Ein Zoo als Freiluftstudio<br />
«Ich erfinde nichts, meine Lieder handeln vom<br />
Leben», erklärt Papa Ricky, als er zu seinen<br />
Liedtexten befragt wird. Als ihm die Film leute<br />
den jungen Roger Landu vorstellen, auf den<br />
sie bei ihren Dreharbeiten aufmerksam wurden,<br />
erkennt Papa Ricky sofort dessen Talent<br />
und nimmt ihn unter seine Fittiche. Er wird<br />
der Strassenvater für den vom Land in die<br />
Stadt gekommenen Jungen, der Geld verdienen<br />
will, um seiner kranken Mutter zu helfen. Der<br />
Dreizehnjährige hat sich aus einer Milchpulverbüchse,<br />
einem gebogenen Aststück und einer<br />
Stahlseite eine improvisierte Laute gebaut,<br />
die er Satongé nennt und der er die unglaublichsten<br />
Töne entlockt. Er verleiht nach ersten<br />
scheuen und zögerlichen Versuchen <strong>mit</strong> seinen<br />
unverwechselbaren Klängen der Band bald ihren<br />
eigenen Touch.<br />
Tullaye und Barret motivieren Staff<br />
Benda Bilili, an ihrem Repertoire zu arbeiten<br />
und regelmässig zu proben. Sie stellen Studioaufnahmen<br />
in Aussicht und feilen gemeinsam<br />
<strong>mit</strong> den Musikern an den Arrangements. Das<br />
Projekt steht beinahe vor <strong>dem</strong> Aus, als 2005 das<br />
Wohnzentrum für Körperbehinderte, in <strong>dem</strong><br />
die meisten Band<strong>mit</strong>glieder und ihre Familien<br />
leben, durch einen Brand zerstört wird. Die Aufnahmen<br />
werden erst ein Jahr später wieder aufgenommen.<br />
Für einige Songs wird der Zoo, ein<br />
brachliegender Garten <strong>mit</strong> verfallenden Käfigen<br />
Kultur / Wissen 21<br />
WOZ Nr. 49 9. Dezember 2010<br />
derholt in Lebensgefahr, weil er Geheimnisse<br />
der Forschungsstation erfährt. Und dann gerät<br />
er noch in die lokalen politischen Auseinandersetzungen<br />
hinein und wird als Geisel festgehalten.<br />
Derselbe sinnlose Aktivismus ergreift<br />
auch jenen dritten Teil des Romans, in <strong>dem</strong> von<br />
der einstigen Ankunft Megans auf der Insel erzählt<br />
wird: Lappert jagt seine Figuren von einer<br />
brenzligen Situation in die nächste – doch dabei<br />
verliert er sie immer mehr aus den Augen.<br />
Umso schmerzlicher empfindet man<br />
die Banalität solcher Plothascherei, nach<strong>dem</strong><br />
der Autor im <strong>mit</strong>tleren Teil des Buches in die<br />
irische Kindheit seines Geschwisterpaars zurückgeblendet<br />
und dabei an die Kraft seines<br />
musikalischen Sprachvermögens erinnert hat.<br />
Das Laute, Wichtigtuerische liegt diesem Autor<br />
nicht; das spürt man in diesen IrlandPassagen.<br />
Offensichtlich war Lappert da nicht nur geografisch<br />
näher an seinen Quellen.<br />
Rolf Lappert: «Auf den Inseln<br />
des letzten Lichts». Hanser. München<br />
2010. 544 Seiten. Fr. 37.90.<br />
Selbst gefertigte Rollstühle, stark gebrauchte Instrumente: Staff Benda Bilili. foto: Enrico Dagnino<br />
und einigen hungrigen Affen, zum Freiluftstudio.<br />
Kongolesischer Rumba mischt sich da <strong>mit</strong><br />
Vogelgezwitscher zu berauschender Musik.<br />
2009 erscheint die CD «Très Très Fort»<br />
von Staff Benda Bilili. Die Band erhält dafür<br />
den Weltmusikpreis Womex Award 2009 und<br />
geht auf Tour in Europa. Am Eurockéennes in<br />
Belfort spielen sie vor einem begeisterten Publikum.<br />
Ob der inzwischen neunzehnjährige<br />
Roger Landu <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> grossen Erfolg umgehen<br />
kann, rätseln die übrigen Band<strong>mit</strong>glieder, als<br />
sie in einem Hotelzimmer im eiskalten Oslo<br />
sitzen. Die Kinder von Papa Ricky und den anderen<br />
jedenfalls haben eine bessere Zukunft,<br />
da sind sie sich sicher.<br />
Aus <strong>dem</strong> Dokumentarfilm über die Stadt,<br />
die früher Léopoldville hiess, ist ein Film über<br />
die Band Staff Benda Bilili geworden. Tullaye<br />
und Barret haben sich viel Zeit genommen<br />
und sind zwischen 2004 und 2009 beinahe im<br />
Jahresrhythmus nach Kinshasa gereist. Zwischendurch<br />
haben sie in Paris gearbeitet und<br />
zusätzliche Mittel für den Film und die Tonaufnahmen<br />
organisiert. Die Bilder von «Benda<br />
Bilili!» erzählen mehr über die Stadt, als es das<br />
ursprünglich geplante Projekt hätte tun können.<br />
Die Musiker, ihre Familien und Kinder –<br />
die eigenen und die Strassenkinder – zeigen einen<br />
lebendigen Kosmos, in <strong>dem</strong> bei aller Armut<br />
und allem Leid der Optimismus nicht verloren<br />
gegangen ist.<br />
«Benda Bilili!». Frankreich 2010. Regie: Florent<br />
de la Tullaye und Renaud Barret. Ab 9. Dezember<br />
in Deutschschweizer Kinos.<br />
Staff Benda Bilili: «Très Très Fort». Crammed<br />
Discs / Musikvertrieb.<br />
Siehe «Mit der WOZ» auf Seite 27.