Einsicht 02 - Fritz Bauer Institut
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schweren Verantwortung«, fuhren die Richter fort, »weil es uns<br />
obliegt, auf juristischem Wege historische Wahrheiten über die Vorgänge<br />
festzustellen, die unsere Erde in einer der dunkelsten Epochen<br />
in der Geschichte der Völker heimgesucht haben, und speziell im<br />
Lebenslauf der jüdischen Nation.« Erst an diesem Punkt erwähnten<br />
sie, dass »die schwere Verantwortung« sie auch verpfl ichtete, über<br />
das Wohl und Wehe eines Menschen zu entscheiden.<br />
Der Prozess betonte erneut die nationalen Lehren, die Israel – im<br />
Geist der zionistischen Ideologie – gemeinhin aus der Shoah zieht,<br />
an erster Stelle das Existenzrecht des Staates Israel und die Notwendigkeit,<br />
seine Sicherheit zu wahren. Er unterstrich jedoch nicht die<br />
allgemein menschlichen Lehren, die sich aus dem Nationalsozialismus<br />
ergeben. Demjanjuks Geschichte macht deutlich, dass jeder<br />
Soldat die Pfl icht hat, einen offensichtlich rechtswidrigen Befehl zu<br />
verweigern. Viele Israelis haben diesen Imperativ, der unter anderem<br />
im israelischen Gesetz verankert ist, bis heute nicht verinnerlicht.<br />
Die Anklage, die Richter und die Medien vernachlässigten diesen<br />
Aspekt. Insoweit erscheint der Prozess als verpasste Gelegenheit.<br />
*<br />
Fünf Jahre waren zwischen dem erstinstanzlichen Urteil und der<br />
Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vergangen, und in dieser<br />
Zeit hatte sich die Welt verändert. Der Zusammenbruch des kommunistischen<br />
Imperiums rettete John Demjanjuk das Leben.<br />
Der Berufungsprozess lief ab Mai 1989 in sachlicher Atmosphäre,<br />
ohne dramatische Zwischenfälle, in einem Saal des Obersten Gerichtshofs.<br />
Immer wieder wurden Anträge gestellt, die eine Verschiebung<br />
der Urteilsverkündung forderten, denn dank der neuen Situation in<br />
Osteuropa konnten Vertreter der Verteidigung und der Anklage Material<br />
auswerten, das die Sowjetbehörden, aufgrund der angespannten<br />
Beziehungen zwischen den beiden Staaten, den Anwälten aus Israel<br />
bisher nicht zugänglich gemacht hatten. Shaked brachte aus Moskau<br />
einen großen Stapel Akten mit, über 15.000 Seiten, darunter Dutzende<br />
von Zeugnissen, die den Namen von »Iwan dem Schrecklichen« aus<br />
Treblinka nannten: Iwan Martschenko. Die Fairness des Staatsanwalts<br />
nützte Demjanjuk demnach mehr als alle Schachzüge der Verteidigung.<br />
Auch das Urteil des Obersten Gerichtshofs ist ein Wälzer von<br />
über 400 Seiten und beginnt in biblischer Sprache. Das Programm<br />
zur Judenvernichtung wird als »Satansplan« bezeichnet, dessen<br />
Wurzeln im Psalm 83:5 liegen: »Sie sprechen: Auf! Wir wollen sie<br />
ausrotten als Nation. Israels Name soll aus dem Gedächtnis gelöscht<br />
werden.« 7 Der Oberste Gerichtshof bemühte sich nach Kräften,<br />
7 Zit. nach: Bibel in gerechter Sprache, hrsg. von Ulrike Bail, Frank Crüsemann,<br />
Marlene Crüsemann, Erhard Domay, Jürgen Ebach, Claudia Janssen, Hanne<br />
Köhler, Helga Kuhlmann, Martin Leutzsch und Luise Schottroff, Gütersloh:<br />
Gütersloher Verlagshaus, 2006, S. 1124.<br />
die Befunde des Bezirksgerichts nicht zu widerlegen, und betonte<br />
wiederholt, dass Demjanjuk aufgrund der neuen Erkenntnisse, die<br />
dem Gericht vorgelegt worden waren, wegen verbleibender Zweifel<br />
freigesprochen werde. Abgesehen von seiner aktuellen Bedeutung<br />
lieferte dieses Urteil auch ein unschlagbares Argument gegen die<br />
Todesstrafe: Es können immer neue Informationen auftauchen.<br />
*<br />
Vor ein paar Monaten zeigte das israelische Fernsehen einen biografi<br />
schen Film über Meir Shamgar, den ehemaligen Präsidenten<br />
des Obersten Gerichtshofs von Israel, der auch den Vorsitz bei<br />
Demjanjuks Freispruch führte. Am Anfang des Films sieht man<br />
Shamgar in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem in harter<br />
Auseinandersetzung mit Yosef Czarny, einem Zeugen der Anklage<br />
in dem Prozess.<br />
Das Bezirksgericht hatte befunden, man müsse seiner herzzerreißenden<br />
Aussage großes Gewicht beimessen, »könne sich mit<br />
beinahe absoluter Gewissheit darauf stützen«. Czarny hatte »Iwan<br />
den Schrecklichen« als Riesen beschrieben, und das Gericht befand:<br />
»Er erweist sich als feinfühliger und feingliedriger Mensch […]<br />
Nicht umsonst schildert er die Stärke und Körpergröße Iwans, der<br />
im Vergleich zu seinem kleinen Wuchs ein wahrer Goliath war […]«<br />
Einundzwanzig Jahre später war Czarny, der vor Kurzem<br />
verstorben ist, über achtzig, ein gebrechlicher Mann, noch kleiner<br />
als früher. Als das israelische Fernsehen ein Treffen mit dem ehemaligen<br />
Gerichtspräsidenten Shamgar arrangierte, brach Czarny<br />
in Tränen aus. Nicht nur Erinnerungen an die Shoah peinigten ihn,<br />
sondern auch der Umstand, dass der Oberste Gerichtshof Demjanjuk<br />
freigesprochen hatte. Sein Schmerz und seine Schmach waren<br />
grenzenlos. »Wie leben Sie heute mit diesem Urteil?«, wollte er<br />
von Shamgar wissen.<br />
Shamgar, der die Achtzig auch schon überschritten hatte, ist ein<br />
zurückhaltender Mensch, spart mit Worten. Er erzählte Czarny, wie<br />
Gestapo-Schergen sein Elternhaus in Danzig durchsucht hatten. Er<br />
bemühte sich, ihm das Dilemma eines Richters nahezubringen: Er ist<br />
nicht befugt, frei seinen Gefühlen zu folgen. Er ist an Rechtsnormen<br />
gebunden. Er zitierte den letzten Absatz des Urteils, der vermutlich<br />
für Situationen dieser Art verfasst wurde: »Wir haben den Wachmann<br />
Iwan Demjanjuk, zweifelshalber, von den Anklagen freigesprochen,<br />
die sich gegen Iwan den Schrecklichen aus Treblinka richteten.<br />
Richtern steht es nicht zu, einen Menschen auf Herz und Nieren zu<br />
prüfen, ihnen steht nur das zur Verfügung, was ihre Augen sehen und<br />
lesen. Der Fall ist abgeschlossen, aber unvollendet. Vollkommenheit<br />
ist einem Richter aus Fleisch und Blut nicht gegeben.«<br />
Czarny war nicht zu überzeugen. Er brach erneut in Tränen aus.<br />
Aharon Barak, Shamgars Nachfolger an der Spitze des israelischen<br />
Obersten Gerichtshofs, hatte als Beisitzer am Berufungsprozess<br />
gegen Demjanjuk teilgenommen und berichtet in seinem<br />
neuen Buch ebenfalls von seinen damaligen Gefühlen: »Du weißt<br />
im innersten Herzen, dass er (Demjanjuk) sicher ein Wachmann in<br />
einem Vernichtungslager war, und wenn er nicht Demjanjuk der<br />
Schreckliche ist, dann war er der weniger schreckliche Demjanjuk,<br />
wenn nicht Iwan der Schreckliche – dann der weniger schreckliche<br />
Iwan […]« 8<br />
Barak, in Litauen geboren und selbst Holocaust-Überlebender,<br />
bereute das Urteil des Berufungsverfahrens nicht: »Ich meine, Demjanjuks<br />
Freispruch macht dem Staat Israel alle Ehre. Ich weiß, das<br />
Urteil wird hierzulande viel kritisiert, aber es macht dem Staat Ehre.<br />
Es ist die ethische Grundlage für unsere Rechtsprechung. Und wenn<br />
wir Naziverbrecher richten können – dann kann es jeder Staat tun.« 9<br />
22 <strong>Einsicht</strong><br />
<strong>Einsicht</strong> <strong>02</strong> Herbst 2009<br />
23<br />
*<br />
Als die Richter des Bezirksgerichts Demjanjuk zum Tod verurteilten,<br />
kamen im Publikum Jubel- und Racheschreie auf. Als der Oberste<br />
Gerichtshof seinen Freispruch verkündete, weinten viele Anwesende<br />
vor Wut und Schmerz. Viele hatten das Gefühl, das Urteil verbiege<br />
die Gerechtigkeit. Dass der Mann aufgrund von Zweifeln freigespro-<br />
8 Ariel Ben-Dor, Ze‘ev Segal, Oseh Hakova‘im: Din Udevarim im Aharon Barak<br />
[Der Hutmacher: Hintergrundgespräche mit Aharon Barak], Tel Aviv, Kinneret<br />
Zmora-Bitan Dvir, 2009, S. 249.<br />
9 Ebd., S. 250.<br />
chen worden war, verstärkte den Eindruck, dass nur übertriebener<br />
Rechtspurismus zu seiner Freilassung geführt hatte – und nicht<br />
seine Unschuld.<br />
Etwas Ähnliches könnte auch in Deutschland passieren: Gleich<br />
vielen Naziverbrechern vor ihm könnte Demjanjuk kraft irgendeines<br />
juristischen Arguments der Strafe entgehen: Wenn das Münchner<br />
Schwurgericht zum Beispiel entschiede, dass man seinen Fall nicht<br />
erneut verhandeln könne, weil er derselben Verbrechen schon in<br />
Jerusalem angeklagt gewesen war. Er ist 89 Jahre alt und wird das<br />
Ende des deutschen Gerichtsverfahrens vielleicht nicht mehr erleben.<br />
Trotzdem ist es richtig, ihn vor Gericht zu stellen.<br />
Denn in den sechs Jahrzehnten seit den Nürnberger Prozessen<br />
sind weitere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />
begangen worden, darunter auch Völkermord. Die Menschenrechte<br />
wahren sich nicht selbst. Sie bedürfen ständiger Pfl ege. Die<br />
Fortführung von Prozessen gegen Naziverbrecher, bis zum letzten<br />
Greis unter ihnen, muss in erster Linie als Warnhinweis für künftige<br />
Kriegsverbrecher dienen, der ihnen sagt: Bis zu deinem letzten<br />
Atemzug kannst du dich auf der Anklagebank wiederfi nden. Das sollte<br />
auch die Botschaft des Demjanjuk-Prozesses in Deutschland sein.<br />
Aus dem Hebräischen<br />
von Ruth Achlama<br />
John Demjanjuk in seiner Zelle im<br />
Ayalon-Gefängnis in Ramle, 24. Juni 1993.<br />
Foto: Government Press Offi ce, State of Israel/<br />
Sa‘ar Ya‘acov