Einsicht 02 - Fritz Bauer Institut
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on heranziehen für das geringe Interesse Altwassers an einer Rekonstruktion<br />
der ideologischen Vorstellungen Konrad Morgens. Am<br />
wenigsten aber zu überzeugen vermag die Entscheidung, im Kapitel<br />
über Schmelz’ Erfahrungen an der Ostfront lauter Landser nach<br />
deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts zu benennen – wie den Rottenführer<br />
Grass, den Schützen Walser oder den Kanonier Köppen.<br />
Das Verdienst des Romans besteht gleichwohl in der eindrücklichen<br />
Darstellung einer außergewöhnlichen Täterbiografi e, die Ambivalenzen<br />
zulässt, letztlich aber dem aus der aktuellen Täterforschung<br />
bekannten Muster von Idealismus und Karrierestreben folgt.<br />
Hans-Joachim Hahn<br />
Leipzig<br />
»Es ist alles nicht so einfach,<br />
wie du vielleicht denkst«<br />
Ulrike Kolb<br />
Yoram. Roman<br />
Göttingen: Wallstein Verlag, 2009, 296 S.,<br />
€ 19,90<br />
»Es ist alles nicht so einfach, wie du vielleicht<br />
denkst«, sagt Yoram zu Clara in<br />
einem ungemütlichen Restaurant, in dem sie während eines spontanen<br />
Wochenendes in Paris gelandet sind. Ausgerechnet dort hat<br />
Yoram das Bedürfnis, ihr zu erzählen, dass und warum seine Mutter<br />
Aliza gegen ihre Verbindung war. Und er gesteht ihr, »er wisse<br />
im Moment so vieles nicht, was ihm noch vor Kurzem gewiss erschien«<br />
(S. 109). Dieses Gespräch, das damit endet, dass Clara weggeht<br />
und durch Paris irrt, ist charakteristisch für die Problematik der<br />
deutsch-israelisch-jüdischen Beziehung, um die es in diesem Roman<br />
von Ulrike Kolb geht.<br />
Clara blickt zurück auf die Achterbahn eines fast drei Jahrzehnte<br />
dauernden gemeinsamen Lebens, zu dem neben ihrem<br />
Mann Yoram auch ihre und Yorams Mutter und die Tochter Vered<br />
gehören. Hin und wieder bezieht sie sich auf Aufzeichnungen<br />
und Notizen, die sie sich früher gemacht hat, oder Erinnerungen<br />
tauchen unvermittelt auf. Das löst den Roman an vielen Stellen<br />
in Episoden auf, die ihre Verknüpfung erst im Verlauf der Handlung<br />
fi nden.<br />
Die junge deutsche Pädagogin lernt auf ihrer ersten Reise nach<br />
Israel Yoram in einem Kibbuz kennen. Die beiden verlieben sich<br />
und beziehen in Frankfurt am Main eine gemeinsame Wohnung, wo<br />
bald die Tochter Vered geboren wird. Yoram hat gerade sein Architekturstudium<br />
abgeschlossen und beginnt eine Karriere in einem renommierten<br />
Architekturbüro. Seine Eltern sind deutscher Herkunft<br />
und haben sich in Palästina/Israel kennengelernt, wo Yoram zur<br />
Welt gekommen war. Gegen seinen Wunsch und den seiner Mutter<br />
ist die Familie nach Deutschland zurückgekehrt, wo der inzwischen<br />
verstorbene Vater, Rechtsanwalt Max Schemes (ursprünglich Sonnenschein),<br />
sich vor allem mit Wiedergutmachungsangelegenheiten<br />
beschäftigte. Clara erfährt wenig über Yorams Familie, erst nach<br />
und nach und häufi g in Krisensituationen werden ihr Einzelheiten<br />
über Verfolgung, Flucht, Deportation und die schwierige Rückkehr<br />
nach Deutschland berichtet, und sie erfährt mehr über die Traumata,<br />
von denen Aliza heimgesucht wird. Clara selbst hat ein großes Bedürfnis,<br />
Yoram über die Haltung ihrer Eltern im Nationalsozialismus<br />
aufzuklären. Sie weiß nur wenig, und als sie sich genauer dafür<br />
interessiert, Verbindungen zwischen der Verfolgung der Juden<br />
und dem Handeln ihres Vaters zieht, als sie unbekannte Fotos fi ndet<br />
und recherchiert, muss sie lernen, dass sie mit Halbwahrheiten<br />
und Lügen aufgewachsen ist.<br />
Die Spannung erhält der Roman durch die Schwankungen der<br />
kleinen Familie zwischen höchstem Glück, Selbstsicherheit, gemeinsamer<br />
Überwindung von psychischen und alltäglichen Schwierigkeiten<br />
und Ausbrüchen, Einsamkeit, Angst, Unehrlichkeit und<br />
Verzweifl ung. Nichts ist einfach. Die beiden sind überzeugt, dass<br />
die »Last der Geschichte« ihre Liebe nicht erdrücken wird, aber<br />
sie geraten immer wieder bei Einladungen von Freunden, in Gesprächskreisen,<br />
in Alltagsdingen unerwartet in Situationen, die<br />
Yoram nicht aushalten kann. Die Tochter ist die Hoffnung für die<br />
gemeinsame Zukunft. Vered entwickelt eine besondere Nähe zu<br />
Yorams Mutter, zeigt großes Interesse für ihre Geschichte und erfährt<br />
hierüber mehr von ihr als Clara. Stärker als seine Frau bindet<br />
die Tochter Yoram an die Familie und bestätigt immer von Neuem<br />
die Richtigkeit seiner Entscheidung, in Frankfurt am Main bzw.<br />
später in Berlin mit einer Deutschen zusammenzuleben. Zweifel daran<br />
plagen ihn häufi g. Er durchlebt sie sehr existenziell, muss sich<br />
zurückziehen, trennen, nach Israel fahren, das andere Land auf sich<br />
wirken lassen und sich dort mit Freunden beraten. Alle drei Hauptpersonen<br />
nutzen die beibehaltene Wohnung Alizas in Tel Aviv als<br />
einen Ort der Besinnung, des Suchens und Findens, der Trauer und<br />
des Weitermachens.<br />
Ungetrübt und unbelastet von den Spannungen bleibt das Leben<br />
der Tochter nicht. Sie spürt die Belastungen, unter denen die<br />
Eltern stehen, und muss sie oft teilen. Vered selbst sucht eine Entscheidung,<br />
wohin sie gehört, bezieht die Eltern aber in die Identi-<br />
tätssuche nicht ein. Aus einem gedruckten Interview erfährt die Mutter,<br />
dass die Tochter sich seit ihrem 13. Lebensjahr intensiv mit jüdischen<br />
Fragen auseinandersetzt und wie belastend die Familienbedingungen<br />
für sie sind. »Ihre Mutter sei das Eine und der Vater das<br />
Andere, und das gehe oft nicht zusammen, das sei wie Fisch und<br />
Vogel«, berichtet Clara aus dem Interview. (S. 138) Clara spürt die<br />
große Distanz zu der heranwachsenden Tochter. Sie leidet darunter,<br />
während Yoram die Sache nicht so tragisch zu nehmen scheint. In<br />
Israel bereitet Vered den Übertritt zum Judentum vor, von dem die<br />
Eltern erst im Nachhinein erfahren: »Kurz bevor sie aus Israel zurückkam,<br />
rief sie an. ›Mama, ich hab’s geschafft, ich bin jetzt eine<br />
richtige Jüdin.‹« (S. 140)<br />
Turbulente Zeiten folgen. Jeder hält seine großen Probleme und<br />
die Bemühungen, sie zu bewältigen, vor den anderen geheim. Clara<br />
fährt heimlich nach Auschwitz und liest alle greifbaren Bücher über<br />
die Shoah. Sie will mehr wissen über die Taten ihres Vaters und der<br />
SS-Leute, mit denen er als Lazarettarzt in Polen zu tun hatte. Sie erleidet<br />
einen totalen Zusammenbruch. Die schwangere Tochter verlässt<br />
ihren Freund, nimmt Drogen und trinkt und landet in der Klinik.<br />
Yoram verkriecht sich in seine Arbeit und sucht sich eine Geliebte.<br />
Die Familie scheint an der »Last der Geschichte« zu zerbrechen<br />
und fi ndet doch wieder zueinander, aber man ahnt, dass die<br />
nächste Erschütterung kommen wird.<br />
Die letzten 45 Seiten des Buches tragen die Überschrift »Epilog«<br />
und beinhalten das Nachdenken der Tochter Vered über ihre innige<br />
Beziehung zu der Großmutter Aliza, die ihr kurz vor dem Tod<br />
noch viel über das Leben ihrer Familie in Berlin vor der Zeit des Nationalsozialismus<br />
erzählt, über die Hachscharah und die Auswanderung<br />
nach Palästina und die sehr schwere Rückkehr nach Deutschland.<br />
Vered berichtet weiter von ihrer Beziehung zu Marcel, dem Vater<br />
des inzwischen geborenen David, den sie verlassen hat. In Israel<br />
gelingt es ihr, sich für das Kind und auch für Marcel zu entscheiden.<br />
Damit fi ndet der Roman ein zukunftsgerichtetes Ende.<br />
Meine Empfehlung ist, diesen Roman zweimal zu lesen. Beim<br />
ersten Lesen konzentriert man sich unweigerlich darauf, die Familiengeschichte<br />
zu verstehen, Claras Gedanken zu folgen und die<br />
Rückblenden einzuordnen. Das ist spannend genug, obwohl man<br />
manchmal zweifelt, ob so viel »Last der Geschichte« in einer kleinen<br />
Familie kulminieren kann. Beim zweiten Lesen dann kann der<br />
Leser sich auf die feinsinnige Sprache konzentrieren, Claras Feinfühligkeit,<br />
die Art der tiefen Liebe, das Verständnis und die Geduld<br />
wie auch die Beschreibung von Angst, Verlust, Differenz. Der<br />
Roman ist ein bewegender Gang durch eine verwirrende deutschisraelisch-jüdische<br />
Nachkriegsgeschichte, die normalerweise nur<br />
auf der einen oder anderen Seite, selten auf der einen und anderen<br />
erlebt wird.<br />
Helga Krohn<br />
Frankfurt am Main<br />
Ein Fall der zweiten Generation<br />
Lizzie Doron<br />
Es war einmal eine Familie. Roman<br />
Aus dem Hebr. von Mirjam Pressler.<br />
Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag, 2009,<br />
143 S., € 16,80<br />
Es war einmal eine Familie ist der zweite Roman<br />
der israelischen Autorin Lizzie Doron.<br />
Dass er erst jetzt, nach ihrem vierten, Der Anfang von etwas Schönem<br />
(2007), in der deutschen Übersetzung von Mirjam Pressler vorliegt,<br />
scheint in der gewählten Erzählstruktur der Schiwa, der siebentägigen<br />
jüdischen Totenwache, begründet zu sein, die hierzulande weitgehend<br />
unbekannt ist.<br />
Zunächst weist Es war einmal eine Familie Parallelen zu Dorons<br />
gelobtem Erstling Warum bist Du nicht vor dem Krieg gekommen?<br />
auf, der in Israel mittlerweile als Schullektüre empfohlen wird. Wieder<br />
ist die Erzählerin Elisabeth, die Tochter der Shoah-Überlebenden<br />
Helena. Nach dem Tod der Mutter 1990 kehrt Elisabeth in das<br />
Haus zurück, in dem sie am Rande von Tel Aviv allein mit ihrer Mutter<br />
aufgewachsen ist. Es befi ndet sich in einem Viertel, in dem in den<br />
1950er und 1960er Jahren fast ausschließlich Überlebende der Shoah<br />
mit ihren in Israel geborenen Kindern lebten. In den sieben Tagen der<br />
Totenwache kommen ehemalige Nachbarn und Freunde ins Haus. In<br />
den Erzählungen der Besucher und Elisabeths eigenen Erinnerungen<br />
werden ihre Kindheit und die Menschen des Viertels wieder lebendig.<br />
Da sind: Efraim, der Lebensmittelhändler, der stolz darauf ist,<br />
dass sein Sohn keinen Hunger kennen wird; der Nachbar Joschi Postawski,<br />
der das ganze Jahr hingebungsvoll die Blumen in seinem Vorgarten<br />
pfl egt, um sie am Shoah-Gedenktag alle auszureißen; die Mutter,<br />
die ihrem Kind verbietet, sich zu waschen, weil sie Angst hat, der<br />
aufsteigende Wasserdampf sei Gas. Beschrieben wird die schmerzhafte<br />
Normalität traumatisierter Leben, denn: »Wer von dort entkommen<br />
ist, muss weiterleben, auch wenn er tot ist.« (S. 141) Obwohl fast keiner<br />
der Shoah-Überlebenden über seine Erlebnisse spricht, sind diese<br />
und ihre Folgen allgegenwärtig.<br />
Erstmals wird erzählt, wie deren Traumata vor dem eigenen Tod<br />
erneut aufbrechen. Im Krankenhaus verlangt die Mutter der Erzählerin<br />
ohne physische Atemnot verzweifelt nach Sauerstoff. Sie kann<br />
erst beruhigt werden, als die Tochter dafür sorgt, dass ihr noch einmal<br />
die Haare blondiert werden und sie eine Sonnenbrille erhält, um<br />
die dunklen Augen zu verbergen: »›Danke‹, fl üsterte sie, und um kein<br />
Missverständnis aufkommen zu lassen, erklärte sie mir mit letzter<br />
86 Rezensionen<br />
<strong>Einsicht</strong> <strong>02</strong> Herbst 2009<br />
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