Einsicht 02 - Fritz Bauer Institut
Einsicht 02 - Fritz Bauer Institut
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Ereigniskette, einer Aneinanderreihung von Katastrophen wurde.<br />
Eine grundsätzlich andere Lebensnorm entstand somit östlich vom<br />
Bug. Die Hoffnungen der Sowjetmenschen, dass die seit 1917<br />
geführten unzähligen bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen<br />
in dem für die UdSSR siegreichen Zweiten Weltkrieg – dem »Armageddon<br />
der Revolution« (Amir Weiner) – gipfeln und fortan<br />
einer harmonischeren, weil ruhigeren Zeit Platz machen würden,<br />
blieben unerfüllt. Als Folge machten sich in der Gesellschaft eine<br />
Gleichgültigkeit und Apathie breit. Diese (Dis-)Kontinuitäten in der<br />
heutigen Ukraine zu untersuchen war nicht das Anliegen von Patrick<br />
Desbois. Doch die Antwort einer Dorfbewohnerin auf seine Frage:<br />
»Was ist in diesem Wald zwischen den Deutschen und den Juden<br />
vorgefallen?«, ist durchaus als eine Widerspiegelung dieser postsowjetischen<br />
Wahrnehmungsperspektive anzusehen: »Die Deutschen<br />
haben die Juden getötet.« (S. 87) Der lebenslange Umgang mit den<br />
katastrophalen Realien machte die Menschen extrem müde und ihre<br />
Antworten statisch. Genau deshalb folgte auf die Frage von Desbois:<br />
»Möchten Sie noch etwas hinzufügen?« die Antwort einer anderen<br />
Interviewpartnerin: »Wir wollen unser Leben lediglich friedlich<br />
beschließen und dass es unsere Enkel einmal gut haben.« (S. 278)<br />
Die Menschen erzählen – das stellt Desbois fest, das merkt<br />
man auch als Leser –, als wären »diese Dinge«, die Vernichtung<br />
der jüdischen Bevölkerung, erst gestern geschehen. Die aufregende<br />
und inspirierende Authentizität der weniger attraktiven ukrainischen<br />
Provinz, die sich zwar einem Epos öffnet – ein Unikat im heutigen<br />
Europa –, verschließt sich jedoch nach wie vor einer semantischen<br />
Aufschlüsselung des Holocaust.<br />
In Krakau, in Kazimierz, Anfang der 1990er Jahre hatte man<br />
ein ähnliches Gefühl: sich in einem gestern verlassenen jüdischen<br />
Viertel zu befi nden. Dann, 1993, wurde dort SCHINDLERS LISTE von<br />
Steven Spielberg gedreht.<br />
Dmitrij Belkin<br />
<strong>Fritz</strong> <strong>Bauer</strong> <strong>Institut</strong><br />
Gelungener Überblick<br />
über das Vichy-Regime<br />
Henry Rousso<br />
Vichy. Frankreich unter deutscher<br />
Besatzung 1940–1944<br />
Aus dem Franz. von Matthias Grässlin.<br />
München: Verlag C. H. Beck, 2009,<br />
150 S., € 11,95<br />
Anfang der 1990er Jahre, als man hierzulande<br />
noch glaubte, die Kollaboration des<br />
Vichy-Regimes mit den deutschen Besatzern sei in Frankreich ein<br />
Tabuthema, konstatierte Henry Rousso in einem Interview mit der<br />
französischen Tageszeitung Le Monde: »Vichy beherrscht immer<br />
noch unsere Vorstellungswelt und unser nationales Gewissen, und<br />
zwar in einem solchen Ausmaß, dass ich selbst manchmal Schwierigkeiten<br />
habe, mir einen Überblick über die Aktualitäten auf diesem<br />
Gebiet zu verschaffen, weil sie so zahlreich sind.« Und er fügte hinzu,<br />
er habe den Eindruck, dass man sich inzwischen nicht mehr nur auf<br />
Einzelaspekte jener Epoche beschränke, wie die Kollaboration und<br />
den Antisemitismus des Regimes, sondern die Ereignisse in einen<br />
komplexeren Zusammenhang zu stellen versuche.<br />
Tatsächlich begann die historische Aufarbeitung der Vichy-<br />
Periode in Frankreich erst relativ spät, in den Jahren nach 1968, und<br />
dazu bedurfte es zudem eines Anstoßes von außen: Es war der amerikanische<br />
Autor Robert O. Paxton, der mit der Legende aufräumte,<br />
die von 1940 bis 1944 in dem zentralfranzösischen Kurort Vichy<br />
amtierende, autoritäre Regierung des greisen Marschalls Pétain habe<br />
in Kriegszeiten das Schlimmste verhindert und ein doppeltes Spiel<br />
gespielt. Paxton zeigte – ähnlich übrigens wie Eberhard Jäckel in<br />
seinem frühen Buch über Frankreich in Hitlers Europa (Stuttgart<br />
1966) – die Eigeninitiativen und den politischen Handlungsspielraum<br />
des Regimes im Verhältnis zur Besatzungsmacht auf. Der Schlüssel<br />
zum Verständnis dieser Politik wurde – mit einem Begriff von Stanley<br />
Hoffmann – in der »Staatskollaboration« gesehen, die sich von<br />
anderen Formen der politisch-ideologisch motivierten Kollaboration<br />
und von Marionettenregimes à la Quisling unterschied. Vichy suchte<br />
in erster Linie seine Souveränität auf dem französischen Territorium<br />
zu bewahren und war deswegen den Deutschen gegenüber zu<br />
weitgehenden Konzessionen bereit.<br />
Paxton kommt auch das Verdienst zu, 1981 gemeinsam mit<br />
dem kanadischen Forscher Michael R. Marrus die erste Gesamtdarstellung<br />
der Judenverfolgung unter Vichy veröffentlicht zu haben.<br />
Kurz darauf folgte das Buch Vichy – Auschwitz (dt. Hamburg 1989)<br />
des französischen Rechtsanwalts und Historikers Serge Klarsfeld,<br />
das zum Standardwerk 1 werden sollte und das die Diskussion um<br />
die Mitverantwortung des Vichy-Regimes für die »Endlösung der<br />
Judenfrage« in Frankreich nachhaltig beeinfl usst hat. Außerdem<br />
fanden in den 1980er und 1990er Jahren exemplarische Prozesse<br />
statt wie der gegen den ehemaligen Gestapochef von Lyon, Klaus<br />
Barbie, mit denen die Erinnerung an die »dunklen Jahre« in die<br />
französische Öffentlichkeit zurückkehrte.<br />
Henry Rousso, der langjährige Direktor des renommierten Pariser<br />
<strong>Institut</strong>s für Zeitgeschichte (IHTP) und Verfasser zahlreicher<br />
Arbeiten über Vichy und dessen Nachwirkung im kollektiven Gedächtnis<br />
der Franzosen, ist der historiografi schen Schule verpfl ichtet,<br />
die auf die »révolution paxtonienne« zurückgeht und die in der<br />
französischen Forschungslandschaft über Jahrzehnte führend war.<br />
Gleichwohl stagniert die Vichy-Geschichtsschreibung seit einiger<br />
Zeit, womöglich ist sie zu einem vorläufi gen Abschluss gekommen,<br />
während die von Präsident Sarkozy angebahnte Wende in der<br />
Erinnerungspolitik noch keine festen Konturen angenommen hat.<br />
Da scheint die Zeit für Bilanzen gekommen. An solchen zusammenfassenden<br />
Darstellungen mangelt es nicht, Marc Olivier Baruch<br />
hatte schon 1996 eine beachtliche Geschichte des Vichy-Regimes<br />
vorgelegt, die auch ins Deutsche 2 übersetzt wurde. Nun folgt eine<br />
meisterhafte Synthese aus der Feder von Henry Rousso.<br />
Die Originalausgabe des hier anzuzeigenden knappen Abrisses,<br />
der den Charakter einer Einführung hat und ohne jeden wissenschaftlichen<br />
Apparat auskommt, erschien 2007 in der enzyklopädischen<br />
Reihe »Que sais-je« (übersetzt etwa: Wissen für jedermann) der<br />
Presses Universitaires de France unter dem Titel Le régime de<br />
Vichy. Dass der Verlag C. H. Beck der deutschen Fassung jetzt den<br />
Untertitel »Frankreich unter deutscher Besatzung 1940–1944« hinzugefügt<br />
hat, mag der Information des Publikums dienen, das keine<br />
oder andere Assoziationen mit dem Namen Vichy verbindet, trifft<br />
aber den Inhalt nur ungenau. Man darf jedenfalls kein Buch über<br />
die deutsche Besatzung in Frankreich erwarten. Dagegen werden die<br />
militärischen und politischen Entwicklungen der Weltkriegsjahre als<br />
Rahmenbedingungen für die Politik Vichys ebenso berücksichtigt<br />
wie die Gesellschaftsgeschichte des besetzten Landes.<br />
Rousso zeigt, dass das Vichy-Regime nicht allein ein Produkt<br />
der verheerenden militärischen Niederlage Frankreichs war, sondern<br />
der Tradition der nationalistisch-konservativen und xenophoben<br />
französischen Rechten entstammte (wobei es zugleich technokratisch-modernistische<br />
Elemente integrierte), und er lotet – hierin<br />
1 Vgl. die dt. Neuausgabe: Serge Klarsfeld, Vichy – Auschwitz. Die »Endlösung der<br />
Judenfrage« in Frankreich. Aus dem Franz. übersetzt und mit einem Vorwort<br />
versehen von Ahlrich Meyer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft,<br />
2007.<br />
2 Marc Olivier Baruch, Das Vichy-Regime. Frankreich 1940–1944. Aus dem Franz.<br />
übersetzt von Birgit Martens-Schöne. Für die deutsche Ausgabe bearbeitet von<br />
Stefan Martens. Stuttgart: Reclam Verlag, 2000.<br />
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56 Rezensionen<br />
<strong>Einsicht</strong> <strong>02</strong> Herbst 2009 57<br />
gegen das Vergessen