02.12.2012 Aufrufe

Einsicht 02 - Fritz Bauer Institut

Einsicht 02 - Fritz Bauer Institut

Einsicht 02 - Fritz Bauer Institut

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Hautval schnell eine privilegierte Position, sie wurde Häftlingsärztin<br />

in einem Block deutscher Frauen. Die Tätigkeit als<br />

Ärztin stellte sie bald vor sehr konkrete praktische und moralische<br />

Fragen: Wie kann man eine Mitwirkung an der Selektion Schwerkranker<br />

umgehen? Was nutzt die Weigerung, unter eine Diagnose<br />

das geforderte Urteil über die Arbeitsfähigkeit – und damit über<br />

Leben und Tod – zu setzen, wenn das sofort von jemand anderem<br />

übernommen werden muss? Macht man sich mitschuldig an<br />

der Vergasung jüdischer Häftlinge, wenn man nicht gegen ihren<br />

Abtransport protestiert? Es sind Refl exionen einer Frau, die sich<br />

selbst vermutlich gar nicht als Widerstandskämpferin verstand,<br />

sich aber die Freiheit erhalten wollte, auch im KZ die eigenen<br />

Überzeugungen zum Maßstab ihres Handelns zu machen. In eine<br />

noch schwierigere Lage geriet Hautval, als sie in den »Versuchsblock«,<br />

Block 10 im Stammlager Auschwitz, verlegt wurde, wo<br />

sie bei medizinischen Experimenten assistieren sollte. Hier wurden<br />

Häftlingsärzte, zunächst ohne eigenes Zutun, aber mit sehr<br />

unterschiedlichen Graden an Eigeninitiative oder Verweigerung,<br />

in die Verbrechen der SS involviert. Ihre Handlungsspielräume<br />

hingen dabei, wie auch Hautval wusste, vor allem von der Frage<br />

ab, welchen Häftlingskategorien sie zugehörten. Die Ausgangsposition<br />

von Hautval war also erheblich günstiger als die ihrer<br />

jüdischen Kollegen. Sie übernahm die Pfl ege der jüdischen »Versuchskaninchen«<br />

und arbeitete Dr. Eduard Wirths bei gynäkologischen<br />

Untersuchungen zu, die ihr anfangs harmlos vorkamen<br />

– eine Einschätzung, die sie bald revidieren musste. Ersten Anweisungen,<br />

Prof. Carl Clauberg bei seinen Sterilisationsexperimenten<br />

zu assistieren, begegnete sie erfolgreich mit einer glatten<br />

Weigerung. Dr. Samuel, ein Häftlingsarzt, versuchte sie zur Mitarbeit<br />

zu zwingen und denunzierte sie – so jedenfalls ihre Annahme<br />

– schließlich beim SS-Standortarzt Wirths. Der bemühte<br />

sich, sie zu überzeugen: »›Sehen Sie denn nicht, dass diese Leute<br />

(die Juden) ganz anders sind als Sie?‹ Ich kann mich nicht hindern<br />

zu antworten, dass in diesem Lager ziemlich viele Leute<br />

anders sind als ich, beispielsweise er selbst.« (S. 74) Sie wurde<br />

zurück nach Birkenau überstellt und konnte sich dort zunächst<br />

verstecken. Auf Wegen, die ihr selbst nicht klar wurden, haben<br />

Mithäftlinge sie offenbar vor einer drohenden Exekution gerettet.<br />

Hautval berichtet mit Selbstdistanz, Empathie, manchmal sogar<br />

ironisch auch von den alltäglichen Begebenheiten in Auschwitz<br />

und Ravensbrück, von Misshandlungen, Massenerschießungen,<br />

den Zuständen in den Krankenrevieren, den selten erfolgreichen<br />

Versuchen, die Kranken zu retten oder ihnen für ein paar Tage<br />

Ruhe zu verschaffen, von der großen Unsicherheit, welche Strategie<br />

gegenüber der SS möglicherweise erfolgversprechend sei.<br />

Sie protokolliert die Fieberträume während ihrer langwierigen Typhuserkrankung,<br />

berichtet über die Befreiung in Ravensbrück, die<br />

Schwierigkeiten, mithilfe der alliierten Soldaten das Überleben und<br />

schließlich die Rückkehr der Befreiten zu organisieren.<br />

Gelegentlich schrieb sie in den Folgejahren für Zeitschriften<br />

der Verfolgtenverbände und war mehrfach Zeugin in Verfahren<br />

gegen Ärzte, die an den medizinischen Experimenten in Auschwitz<br />

beteiligt waren. 1 Ansonsten sprach sie wenig über ihre<br />

KZ-Erfahrungen. Die Tochter ihrer Freundin und ehemaligen KZ-<br />

Kameradin Aat Breur schrieb, wie lange sie brauchte, um zu erkennen,<br />

»dass die beiden etwas sehr Wichtiges vor uns und vor<br />

sich selbst versteckten: ihren eigenen Widerstand während der Nazizeit<br />

und ihr eigenes Elend« (S. 112). Hautval erhielt einige Ehrungen<br />

in Frankreich und Israel, die Geschichte dieser couragierten<br />

Frau wurde aber zu Lebzeiten kaum wahrgenommen. In ihren<br />

letzten Lebensjahren hat sie an einer Veröffentlichung über »Nationalsozialistische<br />

Massentötungen durch Giftgas« 2 mitgearbeitet<br />

und schließlich auch ihren überarbeiteten Bericht ehemaligen Mithäftlingen<br />

übergeben. Nach dem Tod ihrer Lebensgefährtin nahm<br />

sie sich 1988 das Leben. Ihrem Bericht, der etwas über sechzig<br />

Seiten umfasst, sind Einführungen, ein Text über Menschenversuche<br />

in den KZ, eine Zusammenstellung von Berichten ehemaliger<br />

Mithäftlinge – fast alles politische Häftlinge – beigefügt sowie<br />

eine Dokumentation über die Initiativen der letzten Jahre, an<br />

Adélaïde Hautval zu erinnern. An manchen Stellen hätte dem Buch<br />

eine gründlichere Redaktion gutgetan, manche Redundanzen und<br />

verwirrende Fehler hätten so vermieden werden können, an mehreren<br />

Stellen wäre auch eine Kommentierung hilfreich. 3 Aber dass<br />

der Bericht dieser ungewöhnlichen Frau nun auf Deutsch vorliegt,<br />

ist ohne Zweifel ein Gewinn.<br />

Katharina Stengel<br />

<strong>Fritz</strong> <strong>Bauer</strong> <strong>Institut</strong><br />

1 So im Nürnberger Ärzteprozess, im Ermittlungsverfahren gegen Carl Clauberg<br />

(StA b. LG Kiel), in den Prozessen gegen den SS-Arzt Horst Schumann (LG<br />

Frankfurt am Main) und gegen den ehemaligen Häftlingsarzt Dr. Wladislaw<br />

Dering (London).<br />

2 Eugen Kogon, Hermann Langbein, Adalbert Rückerl (Hrsg.), Nationalsozialistische<br />

Massentötungen durch Giftgas, Frankfurt am Main 1986.<br />

3 So liest man z. B. im Bericht von Charlotte Delbo über einen SS-Arzt namens<br />

Dr. Röder (S. 97), den es in Auschwitz nie gegeben hat; gemeint war sicherlich<br />

Dr. Werner Rohde. Auch die Tatsache, dass Hautval nicht nur den SS-Standortarzt<br />

Dr. Eduard Wirths, sondern auch seinen Bruder, den Frauenarzt Dr. Helmut<br />

Wirths (1943 an einer Frauenklinik in Hamburg-Altona beschäftigt) als Beteiligten<br />

an gynäkologischen Versuchen nennt, wäre einen Kommentar wert gewesen.<br />

Vgl. die richterliche Vernehmung von H. Wirths vom 2.4.1962 im Rahmen des<br />

Auschwitz-Verfahrens (<strong>Fritz</strong> <strong>Bauer</strong> <strong>Institut</strong>, Archiv, FAP-1, HA-64, Bl. 12030–<br />

12033).<br />

Einer der größten Dichter<br />

des 20. Jahrhunderts<br />

Abraham Sutzkever<br />

Wilner Diptychon (Wilner Getto 1941–<br />

1944 / Gesänge vom Meer des Todes),<br />

Prosa und Gedichte<br />

Aus dem Jidd. von Hubert Witt.<br />

Zürich: Ammann Verlag, 2009,<br />

272 und 192 S., € 32,95<br />

Im Sommer 1943 begann das Jüdische Antifaschistische<br />

Komitee, Dokumente über die<br />

Ermordung der Juden in den von den Deutschen besetzten Gebieten<br />

der Sowjetunion zu sammeln. Es war ein Schwarzbuch geplant, das<br />

Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman herausgeben sollten, doch von<br />

Anfang an gab es Schwierigkeiten. 1947 wurde die Produktion durch<br />

die Zensurbehörde Glawlit schließlich ganz gestoppt. Haupteinwand<br />

gegen das Schwarzbuch war, dass die Juden unter den Opfern der<br />

deutschen Aggression zu sehr hervorgehoben würden.<br />

Einer der wichtigsten Mitarbeiter an dem Schwarzbuch war der<br />

jiddische Dichter Abraham Sutzkever, der sich als Mitglied der Vereinigten<br />

Partisanenorganisation FPO nach seiner Flucht aus dem Wilnaer<br />

Getto im September 1942 der jüdischen Partisanengruppe in den<br />

Narocz-Wäldern angeschlossen hatte. Ehrenburg war von Sutzkevers<br />

Arbeiten so beeindruckt, dass er ihn nach Moskau ausfl iegen ließ,<br />

wo er dann den Bericht schrieb, der jetzt – fast 65 Jahre nach seinem<br />

Entstehen – erstmals vollständig auf Deutsch publiziert wurde.<br />

Abraham Sutzkever, der heute in Jerusalem lebt, wurde 1913 im<br />

litauischen Smorgon geboren. Als er zwei Jahre alt war, wurde die<br />

Familie zusammen mit eineinhalb Millionen Leidensgenossen nach<br />

Sibirien verbannt. Das Zarenregime sah in den Ostjuden »deutsche<br />

Spione«, die ihm im Ersten Weltkrieg womöglich gefährlich werden<br />

konnten. Nach dem Tod des Vaters kehrte die Familie nach Wilna<br />

(Vilnius) zurück. Als Sutzkever zwölf Jahre alt ist, stirbt die hochbegabte<br />

ältere Schwester an einer verschleppten Meningitis. Sutzkever<br />

beschließt, an ihrer Stelle sein Leben der Poesie zu weihen.<br />

Wilna, das »Jerusalem des Nordens«, war seit dem 17. Jahrhundert<br />

ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit. Fünf bedeutende Bibliotheken<br />

gab es hier, darunter die beiden größten jüdischen Bibliotheken<br />

Europas. 1925 wurde das Yidisher Visnshaftlikher <strong>Institut</strong><br />

(YIVO) gegründet. Hier wurde die Wissenschaft vom Judentum<br />

erstmals in der Sprache des Judentums betrieben; das Gegenstück<br />

zum YIVO ist die Hebräische Universität Jerusalem, die ebenfalls<br />

1925 ihren Betrieb aufnahm und erstmals Lehrveranstaltungen<br />

auf Hebräisch anbot. Das YIVO hatte bald Verbindungen in ganz<br />

Europa, zu seinen korrespondierenden Mitgliedern gehörten unter<br />

anderen Sigmund Freud, Albert Einstein und Marc Chagall. Abraham<br />

Sutzkever studierte am YIVO bei dem bedeutenden Jiddisten<br />

Max Weinreich, der nach 1940 das <strong>Institut</strong> in New York neu aufbaute,<br />

wo es noch heute seinen Sitz hat.<br />

Am 22. Juni 1941 erfolgte der deutsche Überfall auf die Sowjetunion.<br />

Sutzkever notierte: »Als ich am 22. Juni frühmorgens mein<br />

Radio anschloss, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen:<br />

ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache. Aus all dem<br />

Lärm folgerte ich nur: Das deutsche Militär war über unsere Grenzen<br />

ins Land gedrungen.« (Wilner Getto, S. 9) Einige Wochen später<br />

wurde das Getto in Wilna errichtet. Von den 80.000 Menschen,<br />

die hier zusammengepfercht wurden, überlebten nur etwas mehr als<br />

2.000. In diesem Getto, dem der Dramatiker Joshua Sobol mit einem<br />

später verfi lmten Schauspiel ein Denkmal gesetzt hat, entfaltete<br />

sich ein einzigartiges Kulturleben. Es gab ein jiddisches Theater,<br />

ein Orchester, eine literarische Vereinigung, die ihren ersten Literaturpreis<br />

an Abraham Sutzkever verlieh, außerdem Schulen und sogar<br />

eine Universität. Von den über 300 Kulturschaffenden, die hier<br />

wirkten, hat fast keiner überlebt.<br />

Christlich-jüdischer Dialog<br />

Medien - Materialien - Informationen<br />

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis<br />

für das christlich-jüdische Gespräch<br />

in Hessen und Nassau www.ImDialog.org<br />

BlickPunkt.e<br />

MATERIALIEN ZU CHRISTENTUM, JUDENTUM, ISRAEL UND NAHOST<br />

Gottesdienst in Israels Gegenwart<br />

MATERIALHEFTE ZUR GOTTESDIENSTGESTALTUNG<br />

Schriftenreihe<br />

THEMEN ZU THEOLOGIE, GESCHICHTE UND POLITIK<br />

Ausstellungen zu verleihen<br />

JÜDISCHE FESTE UND RITEN • ANTIJUDAISMUS •<br />

HOLOCAUST UND RASSISMUS • DIE BIBEL<br />

ImDialog • Robert-Schneider-Str. 13a • 64289 Darmstadt<br />

Tel. 06151- 423900 • Fax 06151 - 424111<br />

Email info@imdialog.org • Internet www.imdialog.org<br />

66 Rezensionen<br />

<strong>Einsicht</strong> <strong>02</strong> Herbst 2009 67

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!