Einsicht 02 - Fritz Bauer Institut
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Hautval schnell eine privilegierte Position, sie wurde Häftlingsärztin<br />
in einem Block deutscher Frauen. Die Tätigkeit als<br />
Ärztin stellte sie bald vor sehr konkrete praktische und moralische<br />
Fragen: Wie kann man eine Mitwirkung an der Selektion Schwerkranker<br />
umgehen? Was nutzt die Weigerung, unter eine Diagnose<br />
das geforderte Urteil über die Arbeitsfähigkeit – und damit über<br />
Leben und Tod – zu setzen, wenn das sofort von jemand anderem<br />
übernommen werden muss? Macht man sich mitschuldig an<br />
der Vergasung jüdischer Häftlinge, wenn man nicht gegen ihren<br />
Abtransport protestiert? Es sind Refl exionen einer Frau, die sich<br />
selbst vermutlich gar nicht als Widerstandskämpferin verstand,<br />
sich aber die Freiheit erhalten wollte, auch im KZ die eigenen<br />
Überzeugungen zum Maßstab ihres Handelns zu machen. In eine<br />
noch schwierigere Lage geriet Hautval, als sie in den »Versuchsblock«,<br />
Block 10 im Stammlager Auschwitz, verlegt wurde, wo<br />
sie bei medizinischen Experimenten assistieren sollte. Hier wurden<br />
Häftlingsärzte, zunächst ohne eigenes Zutun, aber mit sehr<br />
unterschiedlichen Graden an Eigeninitiative oder Verweigerung,<br />
in die Verbrechen der SS involviert. Ihre Handlungsspielräume<br />
hingen dabei, wie auch Hautval wusste, vor allem von der Frage<br />
ab, welchen Häftlingskategorien sie zugehörten. Die Ausgangsposition<br />
von Hautval war also erheblich günstiger als die ihrer<br />
jüdischen Kollegen. Sie übernahm die Pfl ege der jüdischen »Versuchskaninchen«<br />
und arbeitete Dr. Eduard Wirths bei gynäkologischen<br />
Untersuchungen zu, die ihr anfangs harmlos vorkamen<br />
– eine Einschätzung, die sie bald revidieren musste. Ersten Anweisungen,<br />
Prof. Carl Clauberg bei seinen Sterilisationsexperimenten<br />
zu assistieren, begegnete sie erfolgreich mit einer glatten<br />
Weigerung. Dr. Samuel, ein Häftlingsarzt, versuchte sie zur Mitarbeit<br />
zu zwingen und denunzierte sie – so jedenfalls ihre Annahme<br />
– schließlich beim SS-Standortarzt Wirths. Der bemühte<br />
sich, sie zu überzeugen: »›Sehen Sie denn nicht, dass diese Leute<br />
(die Juden) ganz anders sind als Sie?‹ Ich kann mich nicht hindern<br />
zu antworten, dass in diesem Lager ziemlich viele Leute<br />
anders sind als ich, beispielsweise er selbst.« (S. 74) Sie wurde<br />
zurück nach Birkenau überstellt und konnte sich dort zunächst<br />
verstecken. Auf Wegen, die ihr selbst nicht klar wurden, haben<br />
Mithäftlinge sie offenbar vor einer drohenden Exekution gerettet.<br />
Hautval berichtet mit Selbstdistanz, Empathie, manchmal sogar<br />
ironisch auch von den alltäglichen Begebenheiten in Auschwitz<br />
und Ravensbrück, von Misshandlungen, Massenerschießungen,<br />
den Zuständen in den Krankenrevieren, den selten erfolgreichen<br />
Versuchen, die Kranken zu retten oder ihnen für ein paar Tage<br />
Ruhe zu verschaffen, von der großen Unsicherheit, welche Strategie<br />
gegenüber der SS möglicherweise erfolgversprechend sei.<br />
Sie protokolliert die Fieberträume während ihrer langwierigen Typhuserkrankung,<br />
berichtet über die Befreiung in Ravensbrück, die<br />
Schwierigkeiten, mithilfe der alliierten Soldaten das Überleben und<br />
schließlich die Rückkehr der Befreiten zu organisieren.<br />
Gelegentlich schrieb sie in den Folgejahren für Zeitschriften<br />
der Verfolgtenverbände und war mehrfach Zeugin in Verfahren<br />
gegen Ärzte, die an den medizinischen Experimenten in Auschwitz<br />
beteiligt waren. 1 Ansonsten sprach sie wenig über ihre<br />
KZ-Erfahrungen. Die Tochter ihrer Freundin und ehemaligen KZ-<br />
Kameradin Aat Breur schrieb, wie lange sie brauchte, um zu erkennen,<br />
»dass die beiden etwas sehr Wichtiges vor uns und vor<br />
sich selbst versteckten: ihren eigenen Widerstand während der Nazizeit<br />
und ihr eigenes Elend« (S. 112). Hautval erhielt einige Ehrungen<br />
in Frankreich und Israel, die Geschichte dieser couragierten<br />
Frau wurde aber zu Lebzeiten kaum wahrgenommen. In ihren<br />
letzten Lebensjahren hat sie an einer Veröffentlichung über »Nationalsozialistische<br />
Massentötungen durch Giftgas« 2 mitgearbeitet<br />
und schließlich auch ihren überarbeiteten Bericht ehemaligen Mithäftlingen<br />
übergeben. Nach dem Tod ihrer Lebensgefährtin nahm<br />
sie sich 1988 das Leben. Ihrem Bericht, der etwas über sechzig<br />
Seiten umfasst, sind Einführungen, ein Text über Menschenversuche<br />
in den KZ, eine Zusammenstellung von Berichten ehemaliger<br />
Mithäftlinge – fast alles politische Häftlinge – beigefügt sowie<br />
eine Dokumentation über die Initiativen der letzten Jahre, an<br />
Adélaïde Hautval zu erinnern. An manchen Stellen hätte dem Buch<br />
eine gründlichere Redaktion gutgetan, manche Redundanzen und<br />
verwirrende Fehler hätten so vermieden werden können, an mehreren<br />
Stellen wäre auch eine Kommentierung hilfreich. 3 Aber dass<br />
der Bericht dieser ungewöhnlichen Frau nun auf Deutsch vorliegt,<br />
ist ohne Zweifel ein Gewinn.<br />
Katharina Stengel<br />
<strong>Fritz</strong> <strong>Bauer</strong> <strong>Institut</strong><br />
1 So im Nürnberger Ärzteprozess, im Ermittlungsverfahren gegen Carl Clauberg<br />
(StA b. LG Kiel), in den Prozessen gegen den SS-Arzt Horst Schumann (LG<br />
Frankfurt am Main) und gegen den ehemaligen Häftlingsarzt Dr. Wladislaw<br />
Dering (London).<br />
2 Eugen Kogon, Hermann Langbein, Adalbert Rückerl (Hrsg.), Nationalsozialistische<br />
Massentötungen durch Giftgas, Frankfurt am Main 1986.<br />
3 So liest man z. B. im Bericht von Charlotte Delbo über einen SS-Arzt namens<br />
Dr. Röder (S. 97), den es in Auschwitz nie gegeben hat; gemeint war sicherlich<br />
Dr. Werner Rohde. Auch die Tatsache, dass Hautval nicht nur den SS-Standortarzt<br />
Dr. Eduard Wirths, sondern auch seinen Bruder, den Frauenarzt Dr. Helmut<br />
Wirths (1943 an einer Frauenklinik in Hamburg-Altona beschäftigt) als Beteiligten<br />
an gynäkologischen Versuchen nennt, wäre einen Kommentar wert gewesen.<br />
Vgl. die richterliche Vernehmung von H. Wirths vom 2.4.1962 im Rahmen des<br />
Auschwitz-Verfahrens (<strong>Fritz</strong> <strong>Bauer</strong> <strong>Institut</strong>, Archiv, FAP-1, HA-64, Bl. 12030–<br />
12033).<br />
Einer der größten Dichter<br />
des 20. Jahrhunderts<br />
Abraham Sutzkever<br />
Wilner Diptychon (Wilner Getto 1941–<br />
1944 / Gesänge vom Meer des Todes),<br />
Prosa und Gedichte<br />
Aus dem Jidd. von Hubert Witt.<br />
Zürich: Ammann Verlag, 2009,<br />
272 und 192 S., € 32,95<br />
Im Sommer 1943 begann das Jüdische Antifaschistische<br />
Komitee, Dokumente über die<br />
Ermordung der Juden in den von den Deutschen besetzten Gebieten<br />
der Sowjetunion zu sammeln. Es war ein Schwarzbuch geplant, das<br />
Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman herausgeben sollten, doch von<br />
Anfang an gab es Schwierigkeiten. 1947 wurde die Produktion durch<br />
die Zensurbehörde Glawlit schließlich ganz gestoppt. Haupteinwand<br />
gegen das Schwarzbuch war, dass die Juden unter den Opfern der<br />
deutschen Aggression zu sehr hervorgehoben würden.<br />
Einer der wichtigsten Mitarbeiter an dem Schwarzbuch war der<br />
jiddische Dichter Abraham Sutzkever, der sich als Mitglied der Vereinigten<br />
Partisanenorganisation FPO nach seiner Flucht aus dem Wilnaer<br />
Getto im September 1942 der jüdischen Partisanengruppe in den<br />
Narocz-Wäldern angeschlossen hatte. Ehrenburg war von Sutzkevers<br />
Arbeiten so beeindruckt, dass er ihn nach Moskau ausfl iegen ließ,<br />
wo er dann den Bericht schrieb, der jetzt – fast 65 Jahre nach seinem<br />
Entstehen – erstmals vollständig auf Deutsch publiziert wurde.<br />
Abraham Sutzkever, der heute in Jerusalem lebt, wurde 1913 im<br />
litauischen Smorgon geboren. Als er zwei Jahre alt war, wurde die<br />
Familie zusammen mit eineinhalb Millionen Leidensgenossen nach<br />
Sibirien verbannt. Das Zarenregime sah in den Ostjuden »deutsche<br />
Spione«, die ihm im Ersten Weltkrieg womöglich gefährlich werden<br />
konnten. Nach dem Tod des Vaters kehrte die Familie nach Wilna<br />
(Vilnius) zurück. Als Sutzkever zwölf Jahre alt ist, stirbt die hochbegabte<br />
ältere Schwester an einer verschleppten Meningitis. Sutzkever<br />
beschließt, an ihrer Stelle sein Leben der Poesie zu weihen.<br />
Wilna, das »Jerusalem des Nordens«, war seit dem 17. Jahrhundert<br />
ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit. Fünf bedeutende Bibliotheken<br />
gab es hier, darunter die beiden größten jüdischen Bibliotheken<br />
Europas. 1925 wurde das Yidisher Visnshaftlikher <strong>Institut</strong><br />
(YIVO) gegründet. Hier wurde die Wissenschaft vom Judentum<br />
erstmals in der Sprache des Judentums betrieben; das Gegenstück<br />
zum YIVO ist die Hebräische Universität Jerusalem, die ebenfalls<br />
1925 ihren Betrieb aufnahm und erstmals Lehrveranstaltungen<br />
auf Hebräisch anbot. Das YIVO hatte bald Verbindungen in ganz<br />
Europa, zu seinen korrespondierenden Mitgliedern gehörten unter<br />
anderen Sigmund Freud, Albert Einstein und Marc Chagall. Abraham<br />
Sutzkever studierte am YIVO bei dem bedeutenden Jiddisten<br />
Max Weinreich, der nach 1940 das <strong>Institut</strong> in New York neu aufbaute,<br />
wo es noch heute seinen Sitz hat.<br />
Am 22. Juni 1941 erfolgte der deutsche Überfall auf die Sowjetunion.<br />
Sutzkever notierte: »Als ich am 22. Juni frühmorgens mein<br />
Radio anschloss, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen:<br />
ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache. Aus all dem<br />
Lärm folgerte ich nur: Das deutsche Militär war über unsere Grenzen<br />
ins Land gedrungen.« (Wilner Getto, S. 9) Einige Wochen später<br />
wurde das Getto in Wilna errichtet. Von den 80.000 Menschen,<br />
die hier zusammengepfercht wurden, überlebten nur etwas mehr als<br />
2.000. In diesem Getto, dem der Dramatiker Joshua Sobol mit einem<br />
später verfi lmten Schauspiel ein Denkmal gesetzt hat, entfaltete<br />
sich ein einzigartiges Kulturleben. Es gab ein jiddisches Theater,<br />
ein Orchester, eine literarische Vereinigung, die ihren ersten Literaturpreis<br />
an Abraham Sutzkever verlieh, außerdem Schulen und sogar<br />
eine Universität. Von den über 300 Kulturschaffenden, die hier<br />
wirkten, hat fast keiner überlebt.<br />
Christlich-jüdischer Dialog<br />
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ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis<br />
für das christlich-jüdische Gespräch<br />
in Hessen und Nassau www.ImDialog.org<br />
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<strong>Einsicht</strong> <strong>02</strong> Herbst 2009 67