Einsicht 02 - Fritz Bauer Institut
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Paxton und anderen folgend – die Handlungsspielräume Vichys<br />
aus. Aber er lässt keinen Zweifel daran, dass die Anwesenheit der<br />
deutschen Besatzer das entscheidende Kriterium zum Verständnis<br />
der Ereignisse zwischen 1940 und 1944 bleibt. Dies gilt nicht nur<br />
für die Repressionsmaßnahmen zur Widerstandsbekämpfung und<br />
die Zwangsaushebung von Hunderttausenden junger Franzosen zur<br />
Arbeit in der deutschen Kriegsindustrie, sondern – so unterstreicht<br />
Rousso – vor allem auch für die Deportation der Juden aus Frankreich<br />
in die Vernichtungslager. Die entscheidende Passage verdient es,<br />
zitiert zu werden, weil hier die Koordinaten zurechtgerückt werden,<br />
die sich bei einer generalisierenden Debatte über die europäische<br />
Kollaboration zu verschieben drohen: »Auch wenn die ersten antisemitischen<br />
Maßnahmen Vichys eher eigenem Willen und Antrieb<br />
als deutschen Forderungen entspringen, so lässt sich doch – im<br />
Unterschied zu jüngst populär gewordenen Auffassungen – seine<br />
Verfolgungspolitik unmöglich verstehen ohne das Gewicht, welches<br />
die ›Judenfrage‹ im Weltbild der Nazis hat, und ohne den permanenten<br />
Einfl uss, den die Besatzer in dieser Frage auf die Politik und<br />
Ideologie des Regimes ausübten.« (S. 87)<br />
Gleichwohl bleibt dieser Einfl uss der faktischen Machthaber in<br />
Frankreich, der Trias aus Militärverwaltung, deutscher Botschaft und<br />
Sicherheitspolizei (SD), in Roussos Darstellung eher unterbelichtet.<br />
Der Politik der Besatzer sind nur wenige Seiten gewidmet, auf denen<br />
die Stichworte »Aufsichtsverwaltung« und »Polykratie« fallen.<br />
Ausführlicher geraten sind die Abschnitte über den französischen<br />
Antisemitismus – der sich nach Roussos Ansicht »strukturell« nicht<br />
vom Nazirassismus unterschied, wenngleich ihm die genozidale<br />
Zielsetzung fehlte –, über die Verfolgung der Juden und den Weg<br />
zur »Endlösung«. Der Autor spricht in diesem Zusammenhang von<br />
einem Prozess der »kumulativen Radikalisierung«. Man sieht: Das<br />
funktionalistische Paradigma ist in der französischen Zeitgeschichtsschreibung<br />
noch nicht außer Kurs gekommen.<br />
Die Mitwirkung Vichys am Genozid gehört zu den am besten<br />
erforschten Kapiteln jener »dunklen Jahre« Frankreichs, doch Rousso<br />
behandelt das Thema nach meinem Dafürhalten nicht stringent<br />
genug, und leider fi nden sich auch manche Irrtümer. Um nur ein<br />
Beispiel zu nennen (über die sprachlich unbeholfene Formulierung<br />
sehen wir hinweg): »Der Beginn der systematischen Ausrottung der<br />
Juden in Frankreich beginnt einige Tage nach der Ankunft von Karl<br />
Oberg in Frankreich. Der erste Eisenbahntransport nach Auschwitz<br />
startet am Bahnhof von Bourget, am 27. März 1942, mit mehr als<br />
1000 größtenteils französischen Juden.« (S. 99) Nun traf der von<br />
Hitler neu ernannte Höhere SS- und Polizeiführer Oberg erst am<br />
5. Mai 1942 in Begleitung Heydrichs in Paris ein, wo beide unter<br />
anderem Gespräche mit dem französischen Polizeichef Bousquet<br />
führten. Dabei wurden in der Tat die Weichen für den Einsatz der<br />
französischen Polizei bei Massenrazzien gegen ausländische und<br />
staatenlose Juden im Sommer 1942 und für ein Anfang August geschlossenes<br />
Polizeiabkommen zwischen Oberg und Bousquet gestellt<br />
(das Rousso mit den Verhandlungen zwischen der SS-Führung und<br />
dem Polizeichef Vichys vom 2. Juli 1942 zu verwechseln scheint).<br />
Der Beginn der »Endlösung« in Frankreich und die Abfahrt des ersten<br />
Transports am 27. März – Monate früher als im übrigen besetzten<br />
Westeuropa – hing jedoch keineswegs mit der Ernennung oder<br />
Ankunft eines Höheren SS- und Polizeiführers in Paris zusammen,<br />
sondern ging auf eine Initiative des deutschen Militärbefehlshabers<br />
Otto von Stülpnagel zurück, der bereits Ende 1941 die Deportation<br />
von Juden »nach dem Osten« als »Sühnemaßnahme« für voraufgegangene<br />
Attentate der kommunistischen Résistance vorgeschlagen<br />
hatte. Diese für die Ingangsetzung des Genozids im Westen so<br />
entscheidende Tatsache, die Rousso bekannt sein muss, wird durch<br />
die angeführten Sätze mehr verdunkelt als erhellt.<br />
Mit der vorliegenden Überblicksdarstellung beansprucht Rousso<br />
gewiss nicht, Neues zu bieten, und er setzt auch nur knappe eigene<br />
Akzente, wenn er am Schluss auf das Erbe des Vichy-Regimes und<br />
die institutionellen und sozialpolitischen Kontinuitäten zu sprechen<br />
kommt, die weit in die Nachkriegszeit reichten. Aber er referiert<br />
einen breiten, heute mehr noch als zu Anfang der 1990er Jahre kaum<br />
überschaubaren Forschungsstand – und dies sehr gut und in einer<br />
durchweg gelungenen Form. Die deutsche Übersetzung von Matthias<br />
Grässlin ist sachkundig und liest sich, als hätte man das Original in<br />
der Hand. Eher irritierend für den Benutzer ist hingegen die zweifache<br />
Bibliografi e, die zum einen die Titelangaben der französischen<br />
Ausgabe enthält, zum anderen – nach nicht immer ganz einsichtigen<br />
Kriterien – Ergänzungen deutschsprachiger Titel bietet, wobei sich<br />
unnötige Überschneidungen ergeben.<br />
Und noch ein Wort zum Umschlagfoto: Es zeigt Pétain und<br />
Hitler bei einer Begegnung in Montoire am 24. Oktober 1940 zusammen<br />
mit dem Dolmetscher Paul Schmidt. Der Handschlag zwischen<br />
den ungleichen Diktatoren, während der Vichy-Periode als Sinnbild<br />
der Verständigung beider Völker propagandistisch eingesetzt,<br />
wurde nach der Befreiung Frankreichs zum negativen Symbol der<br />
Kollaboration. Dabei blieb umstritten, ob es diese Geste überhaupt<br />
gegeben hatte. Die von Hitlers Fotografen Heinrich Hoffmann<br />
festgehaltene, leicht unscharfe Szene wurde vielfach nachgebessert,<br />
auf verschiedenen Abzügen sind Retuschen an Uniformen und eben<br />
auch beim Handschlag erkennbar – womöglich zu geschichtspolitischen<br />
Zwecken, wie die Verwendung der Fotografi e als Standbild<br />
in einem frühen Nachkriegsfi lm über die Résistance nahelegt. Ein<br />
Vergleich mit der im Bundesarchiv aufbewahrten Fassung zeigt,<br />
dass auch der Verlag C. H. Beck eine retuschierte Vorlage zur Illustration<br />
verwendet hat. Der auf dem Original ebenfalls abgebildete<br />
Außenminister Ribbentrop wurde gleich ganz weggeschnitten. Kein<br />
gutes Zeichen für den seit Langem geforderten kritischen Umgang<br />
mit historischem Bildmaterial.<br />
Ahlrich Meyer<br />
Oldenburg<br />
Unverhofftes Überleben<br />
Edith Raim (Hrsg.)<br />
Überlebende von Kaufering. Biografi sche<br />
Skizzen jüdischer ehemaliger Häftlinge.<br />
Materialien zum KZ-Außenlagerkomplex<br />
Kaufering<br />
Berlin: Metropol Verlag, 2008, 191 S.,<br />
zahlr. Abb., € 19,–<br />
Die Überlebenden der Shoah werden bald allesamt<br />
von uns gegangen sein. Sie sind eine<br />
aussterbende Spezies. Die Ära der Zeugenschaft des Nationalsozialismus<br />
endet defi nitiv. Erleichterung wird in den Ländern der Täter,<br />
in Deutschland und Österreich, aufkommen. Die lästigen Mahner an<br />
das Menschheitsverbrechen, an den Mord an den europäischen Juden,<br />
werden nicht länger die geschichtsvergessene Ruhe der braven Bürger<br />
stören. Recht wenige sind es nur, die gegen das Vergessen arbeiten,<br />
die sich um ein geschichtsverantwortliches Gedenken bemühen.<br />
Die Historikerin Edith Raim (<strong>Institut</strong> für Zeitgeschichte/<br />
München) 1 beschäftigt sich seit mehr als zwanzig Jahren (S. 12) mit der<br />
Geschichte der Kauferinger Lager, jener elf Außenlager des KZ Dachau,<br />
in denen ab Mitte 1944 bis Kriegsende mehr als 30.000 Häftlinge,<br />
davon circa 4.200 Frauen und 850 Kinder (S. 15), zur Zwangsarbeit<br />
für das Deutsche Reich gepresst wurden. Im Auftrag des sogenannten<br />
Jägerstabs, der sich aus Angehörigen des Rüstungs- und des Luftfahrtministeriums<br />
sowie der Flugzeugindustrie zusammensetzte, plante<br />
die Organisation Todt den Bau von halb unterirdischen Betonbunkern.<br />
Das Naziregime wollte, die militärische Niederlage vor Augen, dort<br />
Kampffl ugzeuge für den »Endsieg« produzieren.<br />
An Arbeitskräften herrschte großer Mangel. Der »Jägerstab« griff<br />
mit Zustimmung der Naziführung auf die wenigen Mitte 1944 noch<br />
lebenden Juden zurück und transportierte sie von Auschwitz-Birkenau<br />
und den letzten im besetzten Osten vorhandenen Ghettos und Lagern<br />
zum Arbeitseinsatz ins Reich. Unter primitivsten Lebens- und schrecklichsten<br />
Arbeitsbedingungen mussten die Häftlinge mörderische Fron<br />
leisten. Wer erkrankte und als arbeitsunfähig galt, wurde selektiert und<br />
zur Vergasung nach Auschwitz-Birkenau verbracht. Als der Mordbetrieb<br />
in dem Vernichtungslager im November 1944 eingestellt wurde,<br />
richtete die Kauferinger Lageradministration Kranken- und Sterbelager<br />
ein. Von den circa 30.000 Arbeitssklaven der Organisation Todt hat<br />
jeder Zweite den Tod durch die deutschen Mörder gefunden (S. 18).<br />
1 Siehe die Studie von Edith Raim, Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering<br />
und Mühldorf. Rüstungsbauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/45.<br />
Landsberg am Lech: Landsberger Verlagsanstalt Martin Neumeyer, 1992.<br />
Das von Edith Raim herausgegebene Buch geht auf eine Ausstellung<br />
zurück, die 2005 in Landsberg am Lech 2 gezeigt wurde.<br />
In jahrelanger Arbeit hat Raim Kontakte zu den Überlebenden der<br />
Kaufi nger Lager gepfl egt, die Davongekommenen an den Ort ihrer<br />
Leiden eingeladen, die nach der Befreiung aus Europa Ausgewanderten<br />
in ihrer neuen Heimat besucht. Raim hat Lebensgeschichten<br />
aufgezeichnet, hat die niedergeschriebenen Zeugnisse der Überlebenden<br />
gesammelt, hat die wenigen Fotos zusammengetragen, die<br />
es von den Opfern und ihren Nächsten gibt.<br />
In 42 biografi schen Skizzen gelingt es Raim, in einer einfühlsamen<br />
Sprache das Schicksal der Opfer nationalsozialistischer Verfolgungs-<br />
und Vernichtungspolitik und ihrer Familien eindrucksvoll<br />
darzustellen. Die Viten mussten, wie die Autorin betont, notwendig<br />
knapp ausfallen. Über jedes dargestellte Leben ließe sich ein Buch<br />
schreiben (S. 8). Mit den biografi schen Abrissen hat Raim jedoch für<br />
die Überlebenden und ihre Nachkommen, aber auch für die Kinder<br />
und Kindeskinder der Tätergenerationen, ein bleibendes Denkmal<br />
geschaffen. Der Holocaust, in seiner Dimension, in seiner Durchführung,<br />
in seinem Ablauf nur unangemessen vorstellbar, wird konkret<br />
anhand der individuellen Opfergeschichten.<br />
Neben den Lebensbeschreibungen fi nden sich in dem Buch aus<br />
dem Jiddischen übersetzte Artikel, die in der Landsberger Displaced-<br />
Persons-Zeitschrift Fun letstn Churbn (Von der letzten Zerstörung) veröffentlicht<br />
worden sind. Der Todesmarsch und die Tage der Befreiung<br />
werden in den Texten dargestellt. Auch Auszüge aus der bereits 1940 in<br />
Kaunas (Litauen) gegründeten, in Kaufering fortgesetzten Untergrundzeitung<br />
Nitzotz (Der Funke) hat die Herausgeberin in die Publikation<br />
aufgenommen. Noch im Lager, unter allgegenwärtiger Lebensgefahr,<br />
brachten Häftlinge die Kraft auf, über die Zukunft des Zionismus und<br />
der jüdischen Nation zu refl ektieren und zu schreiben. Die in seiner<br />
deutschen Muttersprache verfasste Lebensgeschichte von Max Mordechai<br />
Livni (1926 in Prag geboren) und die von Raim aus dem Englischen<br />
übersetzten Aufzeichnungen von Alexander Gringauz (Sohn<br />
von Samuel Gringauz, u. a. Präsident des DP-Lagers Landsberg am<br />
Lech) eröffnen einen umfassenden Einblick in Überlebensgeschichten.<br />
Raims ausgezeichnete Auswahlbibliografi e, in der sie insbesondere<br />
die Zeugnisse der Überlebenden anführt, schließt die Publikation ab.<br />
Wenn die Zeitzeugen der Shoah nicht mehr da sein werden, ermöglichen<br />
uns ihre Berichte und Darstellungen, ihre Interviews und<br />
Erinnerungen sowie beispielhafte Bücher wie das besprochene die<br />
Vergegenwärtigung der unvergänglichen Vergangenheit.<br />
Werner Renz<br />
<strong>Fritz</strong> <strong>Bauer</strong> <strong>Institut</strong><br />
2 Zu Landsberg am Lech vgl. auch Ein Ort wie jeder andere. Bilder aus einer deutschen<br />
Kleinstadt. Landsberg 1923–1958. Hrsg. von Martin Paulus, Edith Raim<br />
und Gerhard Ziegler. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1995.<br />
58 Rezensionen<br />
<strong>Einsicht</strong> <strong>02</strong> Herbst 2009 59