Einsicht 02 - Fritz Bauer Institut
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den Augen zu verlieren. Gute Gedenkbücher sollten daher nicht nur<br />
empirische Akkuratesse präsentieren, sondern die Einzelschicksale<br />
im Heimat- und Deportationsort kontextualisieren können.<br />
Beides erfüllt das von Ingo Loose im Auftrag der Berliner<br />
Stiftung Topographie des Terrors bearbeitete Gedenkbuch für die<br />
im Oktober 1941 von Berlin in das Getto von Litzmannstadt (Łódź)<br />
deportierten Juden, das in Kürze auch auf Polnisch erscheint.<br />
Die 4.210 Menschen erhalten in diesem Buch nicht nur Namen,<br />
Geburtstag, Berliner Adresse und ihren Beruf zurück, auch ihre<br />
Anschrift im Getto ist, soweit möglich, rekonstruiert worden. Auch<br />
begnügt sich der empirische Apparat nicht mit einem »verschollen«,<br />
sondern es wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, das<br />
individuelle Todesdatum und den Todesort oder das Überleben zu<br />
verzeichnen. Ermöglicht wurden derlei sensible Recherchen durch<br />
das enzyklopädische Wissen des Archivars am Łódźer Staatsarchiv,<br />
Julian Baranowski, dessen Know-how wohl ganz entscheidend zum<br />
Gelingen des Vorhabens beigetragen hat. Wem bekannt ist, dass sich<br />
in deutschen Archiven lediglich wenige Blätter der vier Berliner<br />
Transportlisten erhalten haben und die weiteren Verschleppungen<br />
in das Vernichtungslager Kulmhof (Chełmno) mitunter lediglich<br />
aus handschriftlichen Marginalien entzifferbar sind, der muss diese<br />
penible Rekonstruktion umso mehr schätzen. Eine erste Kontextualisierung<br />
erfährt dieser Pool mithilfe einer statistischen Auswertung<br />
der Berliner Transporte aus den Akten des »Ältesten der Juden« nach<br />
Alter, Geschlecht, Berufsstruktur, Gesundheitslage und mitgelieferten<br />
Lebensmitteln. Schnell lernt der Leser die Relevanz solcher Daten<br />
begreifen, wenn er erfährt, dass es sich hierbei um ganz konkrete<br />
Einschätzungen der Überlebenschancen handelt. Weiterhin werden<br />
die Lebensumstände der Berliner Juden während und nach ihrer<br />
ersten massenhaften Einquartierung in sogenannten Kollektiven<br />
innerhalb des Gettos nachgezeichnet. Autobiografi sche Aufzeichnungen<br />
sowie biografi sche Rekonstruktionen zeigen sehr anschaulich,<br />
wie schwierig die emotionale und materielle Eingewöhnung für die<br />
deutschen Juden in den Alltag des Gettos gewesen sein muss. Die<br />
fremde Sprache sowie ein ungewohnter kultureller Habitus der schon<br />
seit Anfang 1940 dort eingesperrten polnischen Juden machten das<br />
neue Familien- und Arbeitsleben in dieser auf extreme Ausbeutung<br />
konzentrierten Umgebung zu einer Herausforderung, der die meisten<br />
der älteren Deportierten wegen des Hungers und der medizinischen<br />
Unterversorgung nicht standhalten konnten. Ingo Looses und Julian<br />
Baranowskis Beiträge zu den Berliner Verhältnissen für die Juden<br />
zwischen 1933 und dem Vorabend der Deportationen, zur Rolle des<br />
Großgettos im annektierten Reichsgau Wartheland während des<br />
Massenmordes schreiten den chronologischen und systematischen<br />
Rahmen ab, in dem sich das Lebensschicksal der Juden aus Berlin<br />
abspielte. Alle sechs Beiträge befi nden sich auf der Höhe der für dieses<br />
Getto virulenten Forschung und wirken inhaltlich und stilistisch<br />
gut aufeinander abgestimmt. Abgerundet wird das vorliegende Gedenkbuch<br />
mit der Präsentation von 48 Lebensgeschichten deportierter<br />
Familien und Personen. Es mag sein, dass sich die Auswahl der Kurzbiografi<br />
en an der vorhandenen individuellen Quellendichte orientierte<br />
und deswegen keine Repräsentativität für sich beanspruchen kann,<br />
aber die vorgestellten Ergebnisse tragen ganz erheblich zur Qualität<br />
des Gedenkbuches bei. Wo es nur ging, bekamen die Menschen ein<br />
Gesicht zurück, und sei es auch nur von ihrem Getto-Arbeitsausweis.<br />
Darüber hinaus lassen sich im Anmerkungsapparat zahllose Hinweise<br />
auf noch unpublizierte Erinnerungen und Aussagen fi nden.<br />
Das Gedenkbuch an das Schicksal von 4.210 aus Berlin in das<br />
Getto von Litzmannstadt verschleppten Juden erfüllt alle Anforderungen<br />
empirischer Sorgfalt und Kontextualisierung. Profi tiert<br />
haben die Bearbeiter von bereits existierenden Datensätzen, der<br />
Prüfung von Zweifelsfällen anhand der Archivalien in Łódź und der<br />
Beschränkung auf vier historisch wichtige Transporte aus Berlin.<br />
Profi tiert hat das ganze Unternehmen aber auch von der Initiative<br />
deutscher und polnischer Studenten, die nach zwei Jahren der Recherche<br />
wirklich hochinteressante Lebensgeschichten zusammengetragen<br />
und zum Sprechen gebracht haben.<br />
Peter Klein<br />
Berlin<br />
Das Epos und die fehlende Sprache<br />
Patrick Desbois<br />
Der vergessene Holocaust.<br />
Die Ermordung der ukrainischen Juden.<br />
Eine Spurensuche<br />
Mit einem Vorwort von Arno Lustiger.<br />
Aus dem Franz. von Hainer Kober. Berlin:<br />
Berlin Verlag, 2009, 352 S., € 22,90<br />
Die französische Originalausgabe des Buches<br />
erschien unter dem Titel Porteur de<br />
Mémoires. Sur les traces de la Shoah par balles, was auf eine gewisse<br />
Konkretisierung und einen entsprechenden Bedeutungswandel bei<br />
der deutschen Titelübersetzung hinweist. Die porteurs, die Träger der<br />
Erinnerungen, sind für Desbois ohne Zweifel nicht nur einfache alte<br />
ukrainische DorfbewohnerInnen, die er mithilfe eines Dolmetschers<br />
über die Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten und ihre<br />
Gehilfen befragte. Der katholische Priester und Beauftragte der französischen<br />
Bischofskonferenz für die Beziehungen zum Judentum,<br />
Patrick Desbois, und seine persönliche recherche du temps perdu<br />
stehen im Mittelpunkt des Buches, das sich seinem Gegenstand auf<br />
eine verlockende und im akademischen Betrieb hierzulande nach wie<br />
vor niedrig eingestufte essayistische und autobiografi sche Weise in<br />
zwanzig knappen Kapiteln nähert.<br />
Desbois ist in einem besonderen Umfeld aufgewachsen. Verwandte,<br />
die ihre eigene KZ-Geschichte vorzuweisen hatten, haben<br />
zu einer Erziehung beigetragen, bei der »wenig gesprochen wird, bei<br />
der aber alles zur Erzählung oder zum Heldenepos wird« (S. 23). Das<br />
bedeutet für den Autor eine permanente Suche nach den Spuren des<br />
Vergangenen, das ständig vergegenständlicht werden will.<br />
Go East während und nach der Wende bedeutete für Tausende<br />
westlicher Intellektueller und so auch für Patrick Desbois die Gelegenheit,<br />
durch die Berührung mit dem (den) Anderen – um in der<br />
Sprache der Wendezeit zu bleiben – zu ihrem eigenen Unbewussten<br />
zu gelangen. Für die absolute Mehrheit der Suchenden war jedoch<br />
der Fluss Bug, der Polen von der ehemaligen Sowjetunion geografi<br />
sch trennt, die äußere Grenze des physisch und psychisch Wahrnehmbaren.<br />
Denn weiter östlich begann die UdSSR, die jenseits der<br />
mental-politischen Bedenken und Ängste lag und somit unbegehbar<br />
erschien – und das auch de facto war. Patrick Desbois hat es mit<br />
seinem Team bis in die Ukraine geschafft, was ihm und seinem Buch<br />
einen besonderen Status unter den familiengeschichtlich motivierten<br />
Werken über den Holocaust verschafft.<br />
Inspiriert haben Desbois die Ansichten von Papst Johannes<br />
Paul II. über das Judentum. (S. 37) In besonderem Maße war er<br />
fasziniert und persönlich tief beeinfl usst von dem 2007 verstorbenen<br />
charismatischen Pariser Kardinal Jean-Marie Lustiger, der in der<br />
höchsten katholischen Kurie eine Art Schnittstelle zwischen Juden-<br />
und Christentum besetzte. Die Figur Lustiger inspirierte jahrelang<br />
die Juden zwischen Odessa und Boston zur immer gleichen Frage,<br />
ob ein gebürtiger Jude eines Tages Papst werden könnte.<br />
Desbois studierte systematisch und intensiv das Judentum und<br />
den Holocaust unter anderem in der Gedenkstätte Yad Vashem (Jerusalem)<br />
und im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Er setzte<br />
sich zum Ziel, die Spuren des Nazigenozids an den ukrainischen<br />
Juden – jenes Massenmords jenseits der großen Vernichtungslager<br />
– unmittelbar vor Ort zu erforschen. Abseits der Lager, ohne<br />
Gaskammer und ohne ein »bloodless bureaucratic undertaking«<br />
wurden in einem »vast wave of brutal, intimate, and endlessy bloody<br />
massacres« 1 circa 1,6 Millionen ukrainischer Juden ermordet. Mit<br />
seinem aus einem Fotografen, einem Ballistiker (sie suchten nach<br />
den Massengräbern der Erschossenen) und einem Dolmetscher<br />
bestehenden Team bereiste Desbois zahlreiche ukrainische Dörfer<br />
und Kleinstädte und landete somit mitten im aktuellen ukrainischen<br />
Diskurs über den Holocaust.<br />
1 Omer Bartov, Erased. Vanishing Traces of Jewish Galicia in Present-Day<br />
Ukraine, New Jersey: Princeton University Press, 2007, S. XVII.<br />
In Rawa-Ruska, einem Städtchen im äußersten Westen der<br />
Ukraine, in dem es von 1942 bis 1944 ein KZ gab, traf Desbois den<br />
lokalen Bürgermeister. »Herr Bürgermeister, wo sind die Juden der<br />
Stadt begraben?«, fragte der Spurensucher. »Der Bürgermeister<br />
wendet sich mir zu […] und antwortet mit abwesender Miene: Das<br />
wissen wir nicht.« Gleich darauf steht er auf: »Es lebe Frankreich!<br />
Es lebe die Ukraine!« (S. 47) Die surreal wirkende Szene – deren<br />
genauere Hintergründe mir nicht bekannt sind – kann darauf hinweisen,<br />
dass der Bürgermeister auf diese pathetisch-geschmacklose<br />
Weise seinen sowjetischen Pseudointernationalismus zum Ausdruck<br />
bringen wollte, der jahrzehntelang prägend war: Alle Völker der<br />
Sowjetunion hätten gelitten. Lediglich keine Absonderung der<br />
Juden! Und der jüdischen Gräber. Der Bürgermeister hätte meines<br />
Erachtens angesichts der heutigen Situation um den Holocaust in<br />
der Ukraine mit ihrer codierten Sprache des politisch-kommerziellen<br />
Umgangs mit diesem Thema nur noch alternativ Geld für seine Auskunft<br />
verlangen können. Sein Schweigen könnte allerdings jenseits<br />
des rein antisemitischen Kontextes platziert werden, den Patrick<br />
Desbois suggeriert.<br />
Was erzählten die heute über 80-jährigen Menschen Desbois?<br />
Viele der Interviewpartner haben ihr ganzes Leben in ihrem Geburtsort,<br />
ja in ihren Geburtshäusern verbracht, so dass die Anmerkung<br />
einer Dorfbewohnerin, sie könne bis heute nicht verstehen,<br />
warum die Deutschen ausgerechnet unter ihrem Fenster die Juden<br />
umgebracht hätten, sich ein wenig wie ein fortdauernder lokaler<br />
Familienstreit liest. (S. 91)<br />
Die Authentizität des von Patrick Desbois und seinen Mitarbeitern<br />
in der Ukraine Gesehenen hatte einen Preis: Die von der<br />
Stalin-Regierung organisierte Hungersnot in der Ukraine (1932–33),<br />
die Verfolgung der <strong>Bauer</strong>n als »Kulaken«, der Zweite Weltkrieg mit<br />
den gravierenden Folgen für die Ukraine, der tödliche Hunger der<br />
ersten Nachkriegsjahre und die Armut und Rechtlosigkeit der darauffolgenden<br />
Zeit führten dazu, dass im Bewusstsein der einfachen,<br />
nicht selten des Lesens und Schreibens nicht kundigen Menschen<br />
sich ein Katastrophenkontinuum bildete, in dem die Shoah zwar<br />
eine besondere (weil jüdische), aber keinesfalls prägende und<br />
entscheidende Katastrophe ausmachte. Das menschliche Leben<br />
war in der Ukraine über 60 Jahre lang nicht viel wert, und die Menschenwürde<br />
gab (und gibt es) dort oft umsonst. Die von Dan Diner<br />
hervorgehobene Unterscheidung zwischen anthropologischem und<br />
historischem Ansatz in der Holocaust-Historiografi e – eine signifi<br />
kante methodologische Anmerkung – trifft auf den ukrainischen<br />
Fall möglicherweise nicht ganz zu. 2 Der ›Anthropologie‹ mit ihrer<br />
universalisierenden Handlungsperspektive begegnet hier eher die<br />
›Geschichte‹, bei der allerdings das historische EREIGNIS zu einer<br />
2 Vgl. Dan Diner, Gegenläufi ge Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des<br />
Holocaust, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 14 f.<br />
54 Rezensionen<br />
<strong>Einsicht</strong> <strong>02</strong> Herbst 2009 55