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Einsicht 02 - Fritz Bauer Institut

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erster Ort der Freiheit nach der Flucht vor dem NS-Regime; im<br />

zweiten Beitrag zieht er nochmals eine kurze Bilanz des Lebens<br />

von Ernst Leitz als Unternehmer und als Widerständler in der Zeit<br />

des Nationalsozialismus.<br />

Aufgrund der unterschiedlichen Länge der einzelnen Texte und<br />

ihrer verschiedenartigen Themenwahl fehlt dem Band ein größeres<br />

Maß an Stringenz. Zudem hätte man sich eine bessere Einbettung<br />

des Bandes in die aktuelle Forschungsdiskussion durch den Herausgeber<br />

gewünscht. Das Andenken an Ernst Leitz, an einen wirklichen<br />

Unternehmer mit Zivilcourage im NS-System, wird dadurch sicherlich<br />

nicht geschmälert. Vielmehr ist es das Verdienst des Bandes,<br />

den Unternehmer Leitz und seine Aktivitäten während der Diktatur<br />

in den Blickpunkt der Diskussion und damit auch weiterer Forschungen<br />

gerückt zu haben. Daher ist die Publikation sowohl eine<br />

wichtige Ergänzung zu Arbeiten über unternehmerisches Verhalten<br />

während des Nationalsozialismus als auch zu Studien über einzelne<br />

Facetten des Widerstands während dieser Zeit.<br />

Harald Wixforth<br />

Bremen<br />

Wallfahrt nach Polen –<br />

Erinnerungspraxis im Dienst des Staates<br />

Jackie Feldman<br />

Above the death pits, beneath the fl ag. Youth<br />

voyages to Poland and the performance of<br />

Israeli national identity<br />

New York, Oxford: Berghahn, 2008,<br />

328 S., $ 90,–/£ 45,–<br />

Die Öffnung des Ostblocks Mitte der 1980er<br />

Jahre setzte Zeichen für einen Prozess der politischen<br />

Annäherung zwischen Polen und Israel, dessen Folgen für die<br />

Erinnerungskultur im Gedenken an die Shoah im jüdischen Staat zu<br />

jener Zeit noch nicht absehbar waren. 1988 kam der damalige israelische<br />

Erziehungsminister und spätere Staatspräsident Yitzhak Navon<br />

von einem Staatsbesuch in Polen nach Jerusalem zurück und gab Anweisung,<br />

ein neues Programm zur Vermittlung der Shoah in den 11.<br />

und 12. Klassen zu erarbeiten. Den Abschluss der pädagogischen Arbeit<br />

mit den Schülern sollte eine Studienreise nach Polen bilden. Gut<br />

zwanzig Jahre nach Einführung des Programms lässt sich feststellen,<br />

dass kaum eine andere Erinnerungspraxis die jungen Israelis so effektiv<br />

prägt wie die Polenreisen. Inzwischen haben etwa 400.000<br />

Schülerinnen und Schüler an diesem Programm teilgenommen. Die<br />

Bedeutung dieses Phänomens kann man jedoch nicht allein an den<br />

trockenen Zahlen ablesen. Die an den Reisen teilnehmenden Jugendlichen<br />

befi nden sich in einer Lebensphase, in der sie in ihrer<br />

emotionalen Entwicklung besonders beeinfl ussbar sind, und stehen<br />

kurz vor ihrer Einberufung zum Militär (S. 255). Die Polenreisen<br />

sind deshalb als bedeutender Markstein in der Sozialisation vieler<br />

Israelis zu verstehen.<br />

In den ersten Jahren des Programms übernahm das Erziehungsministerium<br />

die Betreuung nahezu aller Gruppen. Inzwischen werden<br />

die Reisen auch von anderen Veranstaltern durchgeführt. Diese<br />

haben aber mehrheitlich das Programm des Erziehungsministeriums<br />

übernommen, das unverändert bei mehr als 90 Prozent der Schülerreisen<br />

Anwendung fi ndet. Das intensive achttägige Programm beinhaltet<br />

die ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, Treblinka<br />

und Majdanek sowie die ehemaligen Ghettos in Warschau,<br />

Kraków und Lublin. Der Besuch des Mahnmals für die Opfer des<br />

Warschauer Ghettos erinnert an den Aufstand vom April/Mai 1943. 1<br />

Auf den Spuren vernichteter jüdischer Lebenswelten werden alte<br />

Synagogen und Friedhöfe besichtigt. Kurze Entspannungsmomente<br />

bieten Exkursionen zu touristischen Sehenswürdigkeiten und die<br />

»Shopping time« (S. 81–82).<br />

Obwohl offi ziell als unpolitisch präsentiert, stieß das pädagogische<br />

Konzept der Polenreisen in den letzten Jahren zunehmend auf<br />

Kritik in der israelischen Öffentlichkeit, vor allem durch linksorientierte<br />

und post-zionistische Intellektuelle. So beschrieb der Historiker<br />

Tom Segev bereits 1991 die Reisen – in Anspielung auf Saul<br />

Friedländer 2 – als eine rituelle »Vereinigung von Kitsch und Tod«.<br />

Gespeist aus »dem Nationalismus und der Religion« verströmten<br />

sie »Isolationismus bis hin zur Fremdenfeindlichkeit«. 3 Es hat jedoch<br />

noch einige Jahre gedauert, bis die Sozialforschung die Polenreisen<br />

zum Gegenstand eigener Untersuchungen gemacht hat. Die<br />

jetzt als Buch vorliegende Dissertation des israelischen Anthropologen<br />

Jackie Feldman (Ben-Gurion-Universität des Negev, Beerscheba)<br />

stellt zum ersten Mal eine systematische Analyse dieser Gedenkpraxis<br />

vor. Gerade deshalb ist zu bedauern, dass das Buch erst jetzt,<br />

acht Jahre (!) nach Abschluss des Forschungsprojekts erschienen ist.<br />

1 Der Aufstand im Warschauer Ghetto hat als Symbol des Widerstands eine<br />

zentrale Bedeutung in der kollektiven israelischen Erinnerung an die Shoah.<br />

Mit Beit Lohamei HaGethaot – dem »Ghettokämpfer-Museum« – ist ihm eine<br />

eigene Gedenkstätte in Israel gewidmet.<br />

2 Saul Friedländer, Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, München,<br />

Wien: Carl Hanser Verlag, 1984 (Franz. Orig., 1982). Erweiterte Neuausgabe,<br />

Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1999.<br />

3 Tom Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung,<br />

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1995 (Hebr. Orig., 1991), S. 638.<br />

Seine Vertrautheit mit dem Forschungsgegenstand erlangte der<br />

Autor zunächst über eine mehrmonatige Ausbildung des Erziehungsministeriums<br />

zum »Guide« von Schülerreisen nach Polen. In dieser<br />

Funktion begleitete Feldman vier Gruppen. Allerdings basieren<br />

die Beispiele im Buch fast ausschließlich auf einer weiteren Reise<br />

im Jahr 1995, bei der er als teilnehmender Beobachter fungierte.<br />

Um mit dem von ihm zusammengetragenen Material möglichst<br />

unbefangen umgehen zu können, musste Feldman – selbst Sohn eines<br />

Holocaustüberlebenden – zunächst seine Position und emotionale<br />

Betroffenheit refl ektieren. Seine Empfi ndungen während der<br />

Reise spricht er offen aus: »I was often touched by the depth of students’<br />

reactions towards the remains […]. I sometimes had to choke<br />

back my anger with students whose interest in the Jewish past and in<br />

the Shoa was limited to nationalist displays of the fl ag and a hopedfor<br />

fi ghting with a Polish skinhead.« (S. 22)<br />

Feldmans anthropologische Herangehensweise erweist sich als<br />

besonders ergiebig und erkenntnisfördernd. Anhand seiner eigenen<br />

Beobachtungen sowie der Auswertung von Reiseberichten der Teilnehmer<br />

und zahlreicher Interviews wird der Ablauf der Reisen akribisch<br />

rekonstruiert. Ihre Vielschichtigkeit gewinnt die Studie durch<br />

die Verknüpfung einer systematischen Analyse des Programms und<br />

der darin eingeschlossenen offi ziellen Gedenkrituale mit detaillierten<br />

Informationen über die Kommunikation innerhalb der Gruppe:<br />

Witze, Kommentare und Bemerkungen, Einträge in Tagebüchern<br />

und Kritzeleien auf Schmierzetteln werden zur Untersuchung herangezogen<br />

und feinfühlig ausgewertet.<br />

In seinem zentralen Forschungsparadigma betrachtet Feldman<br />

die Polenreisen nicht als Studienreisen, sondern vielmehr als ritualisierte<br />

Wallfahrt (pilgrimage). Es geht dabei vorrangig nicht um<br />

das kognitive Lernen, sondern um Identifi kation, Personifi kation<br />

und um spirituelle Erfahrung. Während man sich hierzulande in den<br />

Gedenkstätten von der »Betroffenheitspädagogik« der 1980er Jahre<br />

immer mehr distanziert, lösen die israelischen Schülerreisen eine<br />

intendierte und wirkungsvolle emotionale Reaktion in Bezug auf<br />

das Verhältnis zum eigenen Staat aus, was sich beispielsweise auch<br />

in der steigenden Bereitschaft der Jugendlichen zur Ableistung des<br />

Militärdienstes niederschlägt (S. 247).<br />

Das Hauptverdienst der Studie besteht darin, das Verhältnis<br />

zwischen Ideologie und ihrer Vermittlungspraktiken in einem spezifi<br />

schen pädagogischen Kontext zu beleuchten. Feldman arbeitet<br />

heraus, wie mit diskursiven, strukturellen und performativen Praktiken<br />

das Meta-Narrativ der Reise – Mehurban Le’geula (»von der<br />

Katastrophe zur Erlösung«) 4 – von den Jugendlichen als eigene au-<br />

4 Dieses Erlösungsmotiv mit zionistischer Akzentuierung fi ndet sich auch in der<br />

neuen Dauerausstellung des 2005 eröffneten Museums zur Geschichte des<br />

Holocaust der nationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem – The Martyrs’<br />

and Heroes’ Remembrance Authority in Jerusalem.<br />

thentische Erfahrung erlebt wird. Um diese Wirkung zu erzielen,<br />

wird der Erfahrungsraum, in dem die Gruppen sich in Polen bewegen,<br />

aufgeteilt zwischen »inside Israeli life spaces« und »outside<br />

Polish death spaces« (S. 257). Die Jugendlichen werden durch die<br />

strengen Sicherheitsmaßnahmen von der polnischen Umgebung isoliert.<br />

Treffen mit polnischen Jugendlichen (falls sie denn stattfi nden)<br />

und die Einbindung von polnischen Reiseführern werden so strukturiert,<br />

dass sie die Teilnehmer nicht oder kaum beeinfl ussen können.<br />

Bereits in der Vorbereitung werden die Jugendlichen vor einem<br />

verbreiteten Antisemitismus in Polen gewarnt. Folglich suchen sie<br />

während der Reise stets nach Indizien, um diese Annahme zu bestätigen:<br />

»Polish inscriptions on memorial sites that ignore Jewish<br />

victims, as well as real or perceived anti-Semitic insults and graffi -<br />

ti, confi rm the students’ preconception of Poland as a hostile anti-<br />

Semitic country.« (S. 241)<br />

Wie ein Mosaik fügt Feldman die verschiedenen Komponenten<br />

der Reise zusammen, um schließlich das Gesamtbild zu präsentieren:<br />

Die diversen Identifi zierungsstrategien, die Rolle des Begleitpersonals,<br />

die Sicherheitsregeln, die Gestaltung der zahlreichen Gedenkzeremonien,<br />

der Einsatz von Fahnen und anderer nationaler und<br />

religiöser Symbole erwecken vor dem Hintergrund der Gräuel der<br />

Shoah ein patriotisches Gefühl des nationalen Stolzes. Dabei wandeln<br />

sich die Identifi kationsobjekte der Teilnehmer im Verlauf der<br />

Reise über drei Stationen: vom Opfer zum siegreichen Widerständler<br />

und Überlebenden und schließlich zum Olim, dem Einwanderer<br />

nach Israel. »The sequence of texts of each ceremony, the raising<br />

of the fl ag, the progression from silence to triumphant singing, the<br />

sequence of ceremonies – each of these describe a cycle of transformation<br />

from child to victim to victorious survivor to witness and<br />

future soldier.« (S. 257)<br />

Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der<br />

Erinnerungspraxis in Israel und schafft damit die Grundlage für eine<br />

fundierte und sachliche Debatte über ein hochbrisantes Thema.<br />

Dabei geht ihre Bedeutung über den israelischen Kontext hinaus.<br />

Nicht zuletzt geht es darum, zu zeigen, dass auch im Zeitalter einer<br />

globalisierten Welt kollektive Identität immer noch maßgeblich über<br />

lokale Rituale und Gedenkpraktiken tradiert wird.<br />

Meron Mendel<br />

Frankfurt am Main<br />

78 Rezensionen<br />

<strong>Einsicht</strong> <strong>02</strong> Herbst 2009 79

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