Einsicht 02 - Fritz Bauer Institut
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aus »Ereignissen bestehende Materie« und eine hinreichend weit<br />
gefasste inhaltliche Bestimmung von Zeit. 6<br />
»Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie<br />
machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten,<br />
sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten<br />
Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie<br />
ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.« So lautet eine berühmte<br />
Feststellung, mit der Marx 7 seine Darstellung der Herrschaft von<br />
Louis Bonaparte (Napoleon III.), dem Neffen von Napoleon I., einleitet.<br />
Marx verknüpft Struktur mit Aktion. Akteure sind nicht frei<br />
von Strukturierungen, auch wenn sie vermeintlich frei mit diesen<br />
Gegebenheiten umgehen. Ferner verbindet er Vergangenheit und<br />
Gegenwart, die Vergangenheit strukturiert Handlungsentwürfe,<br />
Geschichtsbilder und Deutungen. Es gibt Akteure, die nach hinten,<br />
und solche, die nach vorn sehen, diese Sichtweise verbindet Marx<br />
mit Lernprozessen und Interessen. Auch für die zukunftsorientierte<br />
politische Bewegung gibt es keinen Sprung in eine geschichtsfreie,<br />
von geschichtlichen Deutungen freie Zeit und Zukunft.<br />
Zu unterscheiden sind aktive wie passive Momente, Freiheit<br />
und Nachwirkung, vergangene, gegenwärtige und zukünftige<br />
Entwicklungen wie Handlungsentwürfe und Deutungen, objektive<br />
Strukturen und deren Strukturierung subjektiver Eindrücke. Der<br />
Schlussstrich bezeichnet eine Absicht, wie man absichtsvoll historischen<br />
Strukturierungen, auch der Moral einer kritisch nachwirkenden<br />
Vergangenheit entgehen möchte.<br />
»Niemand ist frei von der Geschichte« 8 : Gerade die mit Geschichtsbildern<br />
des Nationalsozialismus verbundenen zielgerichteten<br />
Geschichtspolitiken 9 und die unbewusst wirkenden Deutungen<br />
6 Halbwachs, Gedächtnis, S. 126. Hieraus ergibt sich ein Bezug zu James Coleman.<br />
Deutungsmuster leben, wenn sie sich als Summe aus vielen Einzelmeinungen<br />
ergeben, und sie leben so lange, wie diese Aggregierung stattfi ndet und<br />
nachgewiesen werden kann. Das für diese Untersuchung leitende Zitat von<br />
Halbwachs lautet: »Jenseits […] der kollektiven Zeiten […] gibt es nichts<br />
mehr… Die Zeit ist nur in dem Maße reell, als sie einen Inhalt hat, d.h. als sie<br />
dem Denken eine aus Ereignissen bestehende Materie darbietet. Sie ist begrenzt<br />
und relativ, aber voller Wirklichkeit. Sie ist im übrigen weit genug, aber voller<br />
Wirklichkeit. Sie ist im übrigen weit genug, um jedem Individuum einen hinreichend<br />
dichten Rahmen zu bieten, in dem es seine Erinnerungen anordnen und<br />
wieder fi nden kann.« (ebd.)<br />
7 Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1852]. Mit einem<br />
Nachwort von Herbert Marcuse, Frankfurt am Main 1965, S. 9, auch S. 131. Als<br />
Kommentar vgl. Hauke Brunkhorst, Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des<br />
Louis Bonaparte, Frankfurt am Main 2007, S. 191 ff.<br />
8 Vgl. eine Betrachtung dessen, was mit Blick auf die »NS-Zeit« »eine demokratische<br />
Gesellschaft tun soll und was sie nicht tun darf«, Helmut Dubiel, Niemand<br />
ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten<br />
des Deutschen Bundestages, München, Wien 1999, S. 11.<br />
9 Der Begriff »Geschichtspolitik« entsteht im Zusammenhang des »Historikerstreits«<br />
(1986/87). Vgl. u.a. Eike Hennig, »Raus ›aus der politischen Kraft der<br />
Mitte‹« in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 38 (1987), S. 160–170; Norbert<br />
Frei, Vergangenheitspolitik, München 1996; Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik<br />
illustrieren dies beispielhaft. Schlussstrich, Aufarbeitung, Vergangenheitsbewältigung<br />
und Historisierung sind differente Modi 10 des<br />
pädagogischen, psychologischen, politischen und wissenschaftlichen<br />
Umgangs mit der Geschichte des Nationalsozialismus.<br />
Viele Wege sind denkbar, um sich den angeführten Dimensionen<br />
von Handeln, Deuten und Geschichte, der nationalsozialistischen<br />
Geschichte und ihrer Wirkung und Bedeutung nach 1945<br />
aus Sicht verschiedener Wissenschaftsdisziplinen mit spezifi schen<br />
Blickwinkeln und Methoden zu nähern. »Schlussstrich« ist eine<br />
Metapher, die in vielen Feldern gebraucht wird. An Nennungen bei<br />
der Suchmaschine Google (abgerufen am 10. August 2009) erbringt<br />
»Schlussstrich« ohne jede Erläuterung 67.200 Einträge; das Thema<br />
beginnt persönlich als Strich unter einer Beziehung. Schlussstrich<br />
und Nationalsozialismus ergibt 22.100 Eintragungen, es soll kein<br />
Strich unter Zwangsarbeit gezogen werden, aktive Erinnerungs-<br />
und Bildungsarbeit mögen betrieben werden. Die Kombination aus<br />
Schlussstrich und Zeitgeschichte führt zu 7.980 Fundstellen, beginnend<br />
mit Stasiakten. Erst die Verbindung Schlussstrich und Erich<br />
Mende ergibt »nur« 1.730 Nennungen und führt zum Ausgangspunkt<br />
der Metapher. Hier wird <strong>Fritz</strong> <strong>Bauer</strong> genannt. 11<br />
Differenzen im Schlussstrichdenken<br />
»Man-wird-ja-wohl-noch-mal-sagen-dürfen« 12 : Das Spiel mit Spannungen<br />
und Andeutungen bestimmt die Bilder um den Schlussstrich<br />
unter die NS-Vergangenheit. Vorgestellt werden emanzipative (sich<br />
von festlegenden Gleisen trennende) ebenso wie antisemitisch und<br />
rechtsextrem schillernde Akzente. Die Debatte zwischen Ignatz<br />
Bubis und Martin Walser (1998) deutet solche Akzente an 13 , veranschaulicht<br />
plastisch, dass es gegenüber Deutungsprozessen und<br />
Geschichtsbildern keine einfache Haltung und Semantik gibt. 14<br />
(Walser kritisiert die »Drohroutine«, wendet sich gegen »Moralpistole«<br />
und »Moralkeule«, gegen die »Dauerrepräsentation« von<br />
Auschwitz, ohne die Shoah leugnen zu wollen. Bubis betrachtet dies<br />
in der Bundesrepublik Deutschland, Darmstadt 1999. Stärker psychoanalytisch<br />
orientiert ist die Auseinandersetzung mit Hermann Lübbes Bemerkungen zum<br />
Verschweigen und zur Stille (1983). Vgl. Klaus Heuer, Die geschichtspolitische<br />
Gegenwart der nationalsozialistischen Vergangenheit, Kassel 2001.<br />
10 Vgl. Detlef Siegfried, »Zwischen Aufarbeitung und Schlussstrich«, in: Axel<br />
Schildt u.a. (Hrsg.), Dynamische Zeiten, Hamburg 2000, S. 77–113.<br />
11 Vgl. Claudia Fröhlich, »Wider die Tabuisierung des Ungehorsams.«<br />
<strong>Fritz</strong> <strong>Bauer</strong>s Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen,<br />
Frankfurt am Main, New York 2006.<br />
12 Philipp Schwenke, »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen…«, in: Aus Politik<br />
und Zeitgeschichte, 31/2007, S. 3–4; »Antisemitismus« lautet das Thema des<br />
Heftes.<br />
13 Siehe Frank Schirrmacher (Hrsg.), Die Walser-Bubis-Debatte, Frankfurt am<br />
Main 1999.<br />
14 Habermas, »Schadensabwicklung«, S. 73, sieht ein einfaches Kriterium, entweder<br />
gehe es um »die Kraft einer refl exiven Erinnerung« oder um »die nationalgeschichtliche<br />
Aufmöbelung einer konventionellen Identität«.<br />
als »geistige Brandstiftung«, da die Erinnerung ausgelöscht werde.)<br />
In Politik und Zeitgeschichte ist ein Schlussstrich jedenfalls erheblich<br />
schwieriger zu setzen als in der Musik, und von »geschichtlicher<br />
Rückfallversicherung« 15 gilt es Abstand zu nehmen. 16<br />
Zur Geschichte des Schlussstrichs<br />
Geschichtsbilder unterliegen der Sozialisation, sie werden erneuert<br />
oder verworfen, unterliegen selbst der Geschichte. Dabei entwickelt<br />
sich, mit Akzenten insbesondere um 1960 und 1980, ein Widerspruch<br />
zwischen privater Sozialisation und Sozialisationsinstanzen. Offi ziell<br />
wird kein Schlussstrich gefordert, inoffi ziell nehmen Positionen<br />
zu, die der vom Nationalsozialismus ausgehenden Mahnungen<br />
überdrüssig sind, die für Normalisierung und eine Versöhnung mit<br />
dem »gesunden« Nationalgefühl eintreten. Allbus 2006 verzeichnet<br />
20 Prozent, die sehr stolz sind, Deutsche(r) zu sein.<br />
Die Semantik der Schlussstrich-Argumentation unterliegt Wandlungen<br />
und verbindet sich in der Bundesrepublik mit verschiedenen<br />
Intentionen, von der Amnestie für Militär und Bürokratie über<br />
Geschichtsbilder bis zur politischen Bildung. Auch die Kritik am<br />
Schlussstrich gehört zur Geschichte der Bundesrepublik. Die Metapher<br />
beginnt explizit mit der Verjährungsdebatte, mit Äußerungen<br />
von Erich Mende. Die Rede ist vom »Blick nach vorn«. Ohne den<br />
Nationalsozialismus zu nennen, will Mende einen Schlussstrich<br />
»unter alle durch die Vor- und Nachkriegswirren entstandenen<br />
Verhältnisse« ziehen. Vor allem Verwaltung und Wehrmacht sollen<br />
aus der kritischen Betrachtung herausgehalten werden. 17 Der<br />
Amnestiedebatte verleiht Mende eine Stoßrichtung gegen die 1958<br />
gegründete, zuerst nur außerhalb, dann ab 1964 auch innerhalb der<br />
Bundesrepublik ermittelnde »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen<br />
zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« in<br />
Ludwigsburg. Gegen die Betonung der »Verstrickung« von Verwaltung<br />
und Wehrmacht mit dem Nationalsozialismus richtet Mende<br />
den Blick nach vorn, dagegen richten sich die (deutlich vor 1968)<br />
intensivierten vergangenheitspolitischen Beiträge der 1960er Jahre.<br />
Neben dieser affi rmativen Bedeutung entwickelt sich – nach den<br />
kritischen Akzenten der 1960er Jahre – eine relativierende Sichtweise<br />
in Debatten der 1980er Jahre zur Versöhnung von Demokratie und<br />
deutscher Geschichte und Nation. 18 Die zur Episode »verkleinerte<br />
15 Dubiel, Niemand ist frei, S. 294.<br />
16 Vgl. für eine »Befriedung der Vergangenheit«, gegen die »Hitlerisierung der Geschichte«<br />
Pascal Bruckner, Der Schuldkomplex, München 2008; dazu Sascha<br />
Lehnartz, »Die neue Lust am Schlussstrich«, in: FAS vom 6.7.2008, S. 51.<br />
17 Mende verwendet die Metaphorik seit 1952 (vgl. Bundestagssitzung vom<br />
17.9.1952), vgl. Marc von Miquel, Ahnden oder amnestieren? Göttingen 2004,<br />
hier bes. S. 187.<br />
18 Vgl. hierzu und zur Geschichte des Schlussstrichs quer zur Geschichte der Bundesrepublik<br />
Peter Reichel, Harald Schmidt, Peter Steinbach (Hrsg.), Der Nationalsozialismus<br />
– die zweite Geschichte, München 2009.<br />
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<strong>Einsicht</strong> <strong>02</strong> Herbst 2009<br />
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