Einsicht 02 - Fritz Bauer Institut
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Philosophie nach Auschwitz<br />
Rolf Zimmermann<br />
Moral als Macht. Eine Philosophie der<br />
historischen Erfahrung<br />
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag,<br />
2008, 234 S., € 12,95<br />
Nach Rolf Zimmermanns grundlegendem<br />
Werk Philosophie nach Auschwitz. Eine<br />
Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft (Reinbek<br />
bei Hamburg 2005) lässt sich seine neue Studie als eine Ergänzung<br />
und Vertiefung der dort entwickelten Thesen verstehen. Ergänzt<br />
wird die These des Gattungsbruchs und seiner revisionären<br />
Bedeutung für die Moralphilosophie durch eine umfassende Phänomenologie<br />
der historischen Erfahrung, in der neben dem Holocaust<br />
andere epochal bedeutsame Geschehnisse wie die moralische<br />
Katastrophe des Holodomor unter Stalin in der Ukraine,<br />
der Völkermord an den Armeniern durch die jungtürkische Bewegung<br />
sowie das »Massaker von Nanking« in China durch die japanischen<br />
Besatzer in ihrer moralisch-kulturellen Bedeutung interpretiert<br />
werden.<br />
Vertieft wird dann in der Auseinandersetzung mit der Moralphilosophie<br />
Nietzsches die These des historischen Universalismus, mit<br />
der sich Zimmermann gegen Moralbegriffe absetzt, die von der apriorischen<br />
Bestimmung des Menschen zur Moral ausgehen.<br />
Das erste Kapitel soll mit der genannten Auswahl an epochalen<br />
Erfahrungen die innere Beziehung zwischen moralischen Selbstverständnissen<br />
und moralischen Katastrophen explizit machen und<br />
erschließt damit den ersten Aspekt der These von der »Moral als<br />
Macht«: Entgegen pauschalisierenden Interpretationen, die Auschwitz,<br />
den Gulag oder Hiroshima unter dem Vorzeichen einer Technikkritik<br />
der Moderne oder ihrer funktionalistisch-instrumentellen<br />
Vernunft deuten, betont Zimmermann den Faktor »Moral« als geschichtlich<br />
prägende Macht. Damit reduziert er Geschichte nicht auf<br />
Moral, sondern erschließt für die jeweiligen historischen Konstellationen<br />
die Bedeutung von moralischen Selbstverständnissen. In<br />
einer moralischen Typologie differenziert der Autor zwischen<br />
universalistischen Integrationsmoralen und partikularistischen<br />
Erlösungsmoralen und zeigt einleuchtend, inwiefern sich die moralischen<br />
Katastrophen im Kontext einer auf die Befreiung der<br />
Menschheit von bestimmten Menschengruppen gerichteten Perspektive<br />
(Nazismus, Bolschewismus, Jungturkismus) oder eines<br />
extremen Verständnisses von göttlicher Auserwähltheit (japanischer<br />
Ethnozentrismus) verstehen lassen. Die Fruchtbarkeit dieses<br />
Ansatzes liegt in der differenzierten Betrachtung epochaler Geschehnisse,<br />
wie die Einordnung der Katastrophe von Hiroshima zeigt:<br />
Das Selbstverständnis der Verantwortlichen des Atombombenabwurfs<br />
lässt sich nicht außerhalb der universalistischen Integrationsmoral<br />
verorten, wodurch dieser in einem anderen moralischen<br />
Kontext steht als die anderen genannten Verbrechen. Zimmermann<br />
gelingt damit eine beeindruckende Vermittlung von historischer Forschung<br />
und philosophischer Refl exion.<br />
Das zweite Kapitel versucht den schon in der ersten Studie<br />
zu einer Neubestimmung von Philosophie führenden Aspekt von<br />
»Moral als Macht« mit Nietzsche als Verbündetem zu vertiefen.<br />
Zimmermann zeigt, wie Nietzsche die existenzielle Selbstauslegung<br />
des Menschen in moralischen Werten gesehen und in ihren<br />
geschichtlichen Variationen durchschaut hat, und formuliert dessen<br />
Grundeinsicht so: Moralische Selbstauslegungen wollen sich normativ<br />
gegen andere behaupten und Dominanz über sie gewinnen.<br />
Für seine die Moralphilosophie herausfordernde These des historischen<br />
Universalismus jedoch bietet der Autor mit dem Bezug auf<br />
Nietzsche leider keine wirkliche Klärung, sondern eine seinen<br />
Kritikern in die Hände spielende vereinfachende Argumentation:<br />
Weil das moralische Universum offensichtlich nicht wohlgeordnet<br />
ist, sondern eine Pluralität von Moralentwürfen aufweist, scheitern<br />
apriorische Moralbegründungen. Nach seiner differenzierteren<br />
Begründung in seiner ersten Studie hätte man sich weitere Klärungen<br />
der für seine These grundlegenden Begriffe Begründen,<br />
Überzeugen, Rationalität und Macht gewünscht. Mit Nietzsche wird<br />
das leider nicht geboten, und so bleibt auch Zimmermanns vielversprechender<br />
Begriff der konkret vergleichenden Begründung von<br />
Moral und sein Verhältnis zum subjektiven Modus der Begründung<br />
unterbelichtet.<br />
Das letzte Kapitel widmet sich der Formulierung eines Begriffs<br />
historischer Verantwortung im Rahmen einer politischen Ethik. Es<br />
geht darum, die kommunikative Macht der universalistischen Moral<br />
in der Konfrontation mit der historischen Gegenwart von moralischkulturellen<br />
Katastrophen zu stärken und ihren Zusammenhang angemessen<br />
zu institutionalisieren. Die Gegenwart von und damit die<br />
Verantwortung gegenüber historischen Geschehnissen bemisst sich<br />
daran, wieweit sie unser moralisches Selbstverständnis herausfordern<br />
und aktuell wie potenziell unsere moralische Zukunft betreffen.<br />
Der Begriff historischer Verantwortung erschließt sich damit aus<br />
der Scham über die moralische Verfasstheit des Menschen bzw. seine<br />
moralische Unverfasstheit, seine prinzipielle moralische Transformierbarkeit,<br />
während die je individuelle oder kollektive Verantwortung<br />
darin besteht, die jeweiligen historischen Konstellationen<br />
angemessen moralisch zu bearbeiten.<br />
Zimmermanns Formulierung einer politischen Ethik der historischen<br />
Verantwortung ist wohl weniger kontrovers als die grundlegende<br />
Situierung der universalistischen Moral als Macht in den<br />
vorangegangenen Kapiteln. Trotz der Unklarheiten bei der Begrün-<br />
dung einer solchen Situierung bleibt die Stoßrichtung seines Ansatzes<br />
Ausdruck eines verantwortlichen Umgangs mit moralischen<br />
Begriffsstrategien: Die Frage nach den (kontingenten) sozialen,<br />
institutionellen und motivationalen Ressourcen für eine menschenrechtliche<br />
Einstellung sollte angesichts der moralischen Bedeutung<br />
historischer Erfahrungen den Schwerpunkt ethischer Refl exion<br />
bilden.<br />
Christian Wendelborn<br />
Frankfurt am Main<br />
Jüdische Studentenverbindungen<br />
Miriam Rürup<br />
Ehrensache. Jüdische<br />
Studentenverbindungen an deutschen<br />
Universitäten 1886–1937<br />
Göttingen: Wallstein Verlag, 2008, 5<strong>02</strong> S.,<br />
€ 40,–<br />
Zu den Paradoxien der deutschen Geschichte<br />
des 19. Jahrhunderts gehört es, dass genau<br />
in jener Zeit, als sich die Wirtschaft von den kulturellen Einbindungen<br />
und korporativen Hinterlassenschaften der mittelalterlichen<br />
Subsistenzökonomie frei machte, ebendiese Korporationen mitsamt<br />
ihrem kulturellen Kapital an Ehrenhändeln und martialischen Riten,<br />
habituellem Gebaren und gewalttätigen Streitaustragungen im<br />
deutschen Bildungsbürgertum fröhliche Urständ feierten. Im Kontext<br />
der kulturhistorischen Forschungen hat sich die Geschichtswissenschaft<br />
dieses Themas insbesondere am Beispiel des Duellwesens<br />
oder der Burschenschaften angenommen. Gerade für Letztere konnte<br />
gezeigt werden, wie sehr die atavistischen Habitusformen und Ehrbegriffe<br />
in den studentischen Korporationen mit Prozessen der Nationalisierung<br />
und Verbürgerlichung der deutschen Gesellschaft im<br />
19. Jahrhundert zusammenhingen. Dabei ging es den Studenten immer<br />
auch um den Ausweis und die Pfl ege ihrer Männlichkeit. Die<br />
studentischen Korporationen entwickelten sich so zu einer der folgenreichsten<br />
Sozialisationsinstanzen in Deutschland, die nicht zuletzt<br />
für die Durchsetzung autoritärer Charakterstrukturen verantwortlich<br />
waren. Die Aufführung und Tradierung der korporativen<br />
Riten und Gebräuche wurden als Beweis für die Zugehörigkeit zur<br />
deutschen Nation und als Inbegriff für die Partizipation an der deutschen<br />
bürgerlichen Kultur gewertet.<br />
Miriam Rürup hat sich in ihrer Dissertation der Frage zugewandt,<br />
ob und inwiefern auch jüdische Studenten an diesen<br />
überkommenen Vergesellschaftungsformen teilhatten, welche<br />
spezifi schen Erfahrungen jüdische Studenten in diesen soziokulturellen<br />
Korporationen machten und wie sie auf die besonderen<br />
Herausforderungen, mit denen sie in diesen konfrontiert<br />
waren, reagierten. Grundlage und Ausgangspunkt ihrer Untersuchung<br />
ist das historische Faktum, dass jüdische Studenten in<br />
Deutschland und Österreich im Kontext der entstehenden antisemitischen<br />
Bewegung sukzessive aus den studentischen Korporationen<br />
hinausgedrängt wurden. Als Antwort auf den Antisemitismus<br />
der christlichen Studenten schufen jüdische Studenten<br />
daraufhin seit Mitte der 1880er Jahre eigene Verbindungen. Jüdische<br />
Studenten übernahmen dabei die kulturelle Überlieferung<br />
der akademischen Korporationen und machten sich nicht nur deren<br />
Habitusformen und Ehrbegriffe zu eigen, sondern auch deren<br />
deutsch-vaterländischen Patriotismus. Mit der Gründung dieser<br />
Verbindungen wollten sie ihrerseits ihre Zugehörigkeit zur<br />
deutschen Kultur und Nation demonstrieren. Im Zuge der innerjüdischen<br />
Debatten und mit der Entstehung des Zionismus in<br />
Deutschland und Österreich bildeten sich neben diesen deutschvaterländischen<br />
Verbindungen jüdisch-nationale Korporationen,<br />
die sich bald der zionistischen Bewegung anschlossen. Im Mittelpunkt<br />
der Studie von Miriam Rürup stehen die vielfältigen Fragen<br />
von Zugehörigkeit: Zugehörigkeit zur deutschen Nation versus<br />
Zugehörigkeit zur jüdischen Nation sowie die changierenden<br />
Bindungen jüdischer Studenten in diesen Feldern. Die ihre Forschungen<br />
leitenden Interessen beziehen sich vor allem auf die innerjüdischen<br />
Differenzen.<br />
Nach einer prägnanten Skizze des akademischen Umfeldes, den<br />
durch den Antisemitismus der christlichen Studenten gebildeten Voraussetzungen<br />
sowie den innerjüdischen Debatten um Zionismus<br />
versus Assimilation sowie einem Abriss der Entstehung der verschiedenen<br />
jüdischen Studentenverbindungen geht Rürup den für<br />
sie zentralen Debatten über die Identifi zierungen und Selbsteinschätzungen<br />
der jüdischen Studenten und ihrem Kampf um Anerkennung<br />
nach. Mit der Teilhabe an den verschiedenen Korporationen und der<br />
Übernahme der sie bestimmenden Kultur wollten die jüdischen Studenten<br />
sowohl ihr Selbstbewusstsein stärken und ihre Selbstachtung<br />
manifestieren als auch dem Antisemitismus im akademischen Milieu<br />
entgegentreten.<br />
Ausführlich schildert Rürup die ritualisierten Umgangsformen<br />
und die habituellen Verhaltensweisen der jüdischen Korpsstudenten,<br />
ihren Begriff der Ehre, ihre Praxis des Turnens, Fechtens und Duellierens<br />
sowie die exorbitante Aufmerksamkeit, die auch jüdische<br />
Studenten dabei Farben, Wimpeln und Schärpen widmeten. Selbst<br />
die exzessiven Trinkrituale hatten sowohl deutsch-vaterländische<br />
als auch zionistische Studenten von den christlichen Kommilitonen<br />
übernommen.<br />
80 Rezensionen<br />
<strong>Einsicht</strong> <strong>02</strong> Herbst 2009 81