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16 EARLY BIRD<br />
STORY<br />
Aus dem Reich der Golfspieler – Folge 1:<br />
Der Pfadfinder<br />
Golf ist ein schöner Sport. Nicht nur wegen<br />
des Spiels an sich, sondern auch,<br />
weil man jede Menge interessanter Menschen<br />
kennen lernt. Menschen, deren Bekanntschaft<br />
man ohne Golf niemals gemacht<br />
hätte. Ach, was sag ich, von dessen<br />
Existenz man gar nichts geahnt hätte.<br />
Es gibt da interessante Arten, die sich durch<br />
ganz besondere Eigenschaften auszeichnen.<br />
Wenn Sie desöfteren auf den Golfplätzen<br />
dieser Welt unterwegs sind, wird Ihnen der<br />
eine oder andere Vertreter seiner Art schon<br />
mal über den Weg gelaufen sein. Ich spreche<br />
zum Beispiel von den Vielquatschern,<br />
den Schweigsamen, den Massiv-Wagglern,<br />
den Spontan-Abschlagern, den Flanierern<br />
oder auch den Hetzern, um nur ein paar<br />
zu nennen.<br />
Eine ganz spezielle, erst jüngst entdeckte<br />
Spezies, sind die Pfadfinder. Die Vertreter<br />
dieser Art zeichnen sich dadurch aus, dass<br />
sie jeden Ball finden, aber wirklich jeden.<br />
Also zumindest jeden ihrer eigenen Bälle.<br />
Bei den Bällen der anderen Spieler im<br />
Flight sieht das etwas anders aus. Ich<br />
möchte Ihnen eine Beispielsituation schildern,<br />
anhand derer man das artgerechte<br />
Verhalten des Pfadfinders sehr schön erkennen<br />
kann.<br />
Während einer Golfrunde schlägt der Pfadfinder<br />
seinen Ball gefühlte hundert Meter<br />
links ins tiefe Rough. Noch während der<br />
Flugphase, ruft er sehr zur Freude seiner<br />
Flight-Partner laut aus: „Ich weiß, wo der<br />
liegt!“ Der ganze Flight stapft ob dieses<br />
Ausrufes etwas zweifelnd in Richtung Rough<br />
los, um bei der Ballsuche behilflich zu sein.<br />
Doch das ist gar nicht nötig, denn – oh<br />
Wunder – obwohl in eben diesem Rough<br />
etwa 2.386 Bälle liegen, findet der Pfadfinder<br />
umgehend den seinigen, der – Wunder<br />
Nummer zwei – auch noch erstaunlich<br />
gut liegt.<br />
Ein Bösewicht, wer Übles dabei denkt! Der<br />
Pfadfinder ist nämlich mitnichten ein Betrüger,<br />
der nur sein eigenes Fortkommen im<br />
Auge hat. Es ist schlicht und ergreifend so,<br />
dass er zu seinem Ball (und eben nur zu<br />
seinem) eine ganz besondere Beziehung<br />
hat. Er erkennt ihn quasi blind unter hunderten<br />
anderer.<br />
Mit einem Vertreter dieser Art war ich im vergangenen<br />
Jahr auf dem Golfplatz unter-<br />
wegs. Wir spielten zu viert einen fremden<br />
Platz mit sehr viel Wasser und spielten die<br />
üblichen Wetten. Der Pfadfinder hatte einen<br />
schlechten Tag und so ziemlich keiner seiner<br />
Abschläge wollte die Fairways treffen.<br />
Ganz egal, wo seine Schläge landeten, sie<br />
waren immer gut spielbar. Nach jedem Abschlag<br />
rannte er als erster los und seine<br />
Bälle lagen immer entweder kurz vor dem<br />
Wasser, knapp neben dem Wasser oder im<br />
Rough schön hoch oben auf. Der Rest des<br />
Flights dachte schon, man hätte es mit<br />
einem echten Glückspilz zu tun – bis das<br />
achtzehnte Loch kam.<br />
Der Pfadfinder schlug als erster ab und sein<br />
Ball flog in hohem Bogen direkt in ein großes<br />
frontales Wasserhindernis. Er nestelte<br />
an seiner Tasche herum und durchsuchte<br />
jeden Winkel seines Bags. Schließlich drehte<br />
er sich zu uns um und fragte: „Kann mir<br />
jemand mal einen Ball leihen?“<br />
Zuerst sprach keiner ein Wort. Wir anderen<br />
drei sahen uns nur erstaunt an. Es dauerte<br />
etwas, bis ich ihn fragte. „Du willst sagen,<br />
dass du den ganzen Tag mit nur einem einzigen<br />
Ball gespielt hast?“ „Noch nicht mal<br />
einen Ersatzball dabei?“, hakte mein Flight-<br />
Partner mit hoch gezogenen Augenbrauen<br />
nach. Weitere Fragen waren gar nicht mehr<br />
nötig. Die Wetten wurden annulliert und der<br />
Pfadfinder zog mit hängenden Schultern<br />
von dannen.<br />
Merke: Nur wahre Pfadfinder haben immer<br />
genügend Bälle dabei und finden sie<br />
auch sofort und immer. Alle anderen sind<br />
Betrüger!<br />
Holger Stenger