TABLE RONDE DU BMS«Wichtig ist, dass Fachpersoneneinander schätzen, dass sieE xpertise der jeweils anderenwahrnehmen.» (Maya Shaha)Der Direktor der Berner Uniklinik für Viszeralchirurgie Daniel Candinas meint, man könne denBegriff «Expertise» in der Medizin auch abschaffen. Die Pflegewissenschaftlerin Maya Shahasieht Expertise als Integration von Erfahrung.Dies habe auch damit zu tun, so Bonfadelli, dassÄrzte eher negativ eingestellt seien gegenüber demInternet-Wissen, und dass sie diese negative Haltunggegenüber ihren Patientinnen durchblicken liessen.Christoph Bosshard ist Orthopäde, Traumatologe,Praxisgruppenleiter bei der SUVA und RessortleiterQualität im Zentralvorstand der FMH. Expertisesei für ihn ein Dauerthema, erklärte er. Sie entsteheunter anderem in der Gremienarbeit inFachgesellschaften und zwischen den Fachgesellschaften.Teamfähigkeit sei damit eine unabdingbareVoraussetzung für Expertise. Die FMH verfüge,so Bosshard, mit der <strong>Schweizerische</strong>n Akademie fürQualität in der Medizin (SAQM) über ein neues undwirksames Instrument für die fachgesellschaftsübergreifendeVernetzungsarbeit. Sein Anforderungsprofilan eine Expertin, einen Experten, sieht so aus:«Hohe Fachkompetenz, Kennen und Respektierender Zuständigkeitsgrenzen und Bescheidenheit. ZurExpertise gehört auch das Wissen, dass die eigene Erkenntnisstets Grenzen hat.»«Ärzte lassen sich durch andere Berufsgruppen,denen das notwendige Wissen fehlt, aus der Gesundheitspolitikhinausdrängen». (Daniel Candinas)«Ich bin froh, dass Ärzte keine Experten sind»,schloss der Direktor der Berner Universitätsklinik fürViszeralchirurgie, Daniel Candinas, seine Ausführungenund damit die erste Runde ab. Davor versuchteer zu ergründen, wie hoch der Anteil anExpertise an der Arbeit der Ärztin sei und welche anderenDimensionen den Arztberuf prägten undlebens wert machten. «Wer einfach nur Experte ist,trägt keine Verantwortung, ist nicht an ethische Vorgabengebunden, kümmert sich nicht um ökonomischeFragen, muss keine Beziehung aufbauen undkeine Institution nachhaltig pflegen.» Er wolle keinExperte sein, sagte der Spitzenchirurg Candinas, amliebsten würde er den Begriff «Expertise» in derMedizin überhaupt abschaffen, denn Expertentumberuhe heute auf abrufbarem Wissen, das keinenWert besitze. «Für eine Juristin ist das Gesamtverständnis<strong>des</strong> Systems entscheidend, nicht ob sie einenGesetzesartikel auswendig kennt.» Das könne auchauf den Arztberuf angewendet werden, fand Candinas,und die Medikalisierung aller möglichen Problemesei nur so weit fortgeschritten, weil viele Ärztesich in die Ecke <strong>des</strong> Fachidioten drängen liessen. AufNachfrage liess sich dann Candinas doch noch eineAlternative zum Experten als Fachidioten entlocken:«Wichtig ist die Selbstreflexion im Umgang mit demeigenen Wissen, und vor allem die Bereitschaft, Verantwortungzu übernehmen.»Wo ist denn nun das Problem?Fast ein wenig enttäuscht zeigte sich der GesprächsleiterWolff angesichts der Harmonie, die in der erstenRunde von Statements zum Ausdruck kam. «Daskann ich einfach nicht glauben», bohrte er nach:«Wo ist denn nun das Problem?»Als Erste ortete es Muff bei den nicht-medizinischenBerufsgruppen wie Manager und Beraterinnen,die ebenfalls als Experten auftreten und viel Gelddamit verdienen würden: «Im Gesundheitswesenund in der Gesundheitspolitik macht man uns dieStellung streitig», erklärte sie und löste damit endlicheine engagierte Diskussion darüber aus, weshalbÄrztinnen als Expertinnen in der Gesundheitspolitikzunehmend in Frage gestellt würden. «Wir sind zuständigfür das Ganze, für das Funktionieren <strong>des</strong> Systems»,ergänzte Bosshard, und Candinas setzte nach:«Ärzte lassen sich durch andere Berufsgruppen, denendas notwendige Wissen fehlt, aus der Gesundheitspolitikhinausdrängen.» Diese Statements provoziertenWolff zur Frage: «Ist also der Arzt derSuper mann, der als einziger fähig ist, das komplexeSystem zusammenzuhalten?»«Nein», erwiderte Shaha, «die Menschen werdenälter und haben mehr chronische Krankheiten. Daskönnen die Ärzte nicht allein bewältigen. AdvancedPractice Nurses, also speziell geschulte Pflegefachpersonen,sind ebenfalls kompetent im Umgang mitEditores Medicorum Helveticorum<strong>Bulletin</strong> <strong>des</strong> <strong>médecins</strong> <strong>suisses</strong> | <strong>Schweizerische</strong> <strong>Ärztezeitung</strong> | Bollettino dei medici svizzeri | <strong>2013</strong>;94: <strong>44</strong> 1656
TABLE RONDE DU BMSkomplexen Situationen. Für jeden von uns, für alleBerufsgruppen, gibt es genug zu tun.» Shaha stellteaber auch fest, dass sowohl Angehörige der Gesundheitsberufewie auch Patienten ambivalent auf diesteigenden Kosten reagierten: «Wenn wir betroffensind, kümmern uns die Kosten keinen Deut mehr.Wenn dann andere Fachpersonen versuchen, unseinen Weg zu zeigen, müssen wir uns auf die Diskussioneneinlassen.»«Zur Expertise gehört auch das Wissen, dass die eigeneErkenntnis stets Grenzen hat.» (Christoph Bosshard)Eine von vielen engagierten Stellungnahmen aus dem Publikum: Der MedizinhistorikerAlfons Labisch nimmt Guidelines und evidenzbasierte Medizin kritisch unter die Lupe.Der Orthopäde Christoph Bosshard, RessortleiterQualität im Zentralvorstand der FMH, sieht in denFachgesellschaften ein hohes Mass an Expertise.Für Bonfadelli sind die Zeiten der «natürlichenVertrauenszuweisung» an den Hausarzt vorbei. «Esgibt zunehmend Medieninformationen, die denNimbus Arzt zerstören, etwa über hohe Einkommenund Geschenke der Pharmaindustrie.» Das Vertrauenkönne nur mit aktiver Kommunikation zurRolle und zum Selbstverständnis der Ärzteschaft wiederhergestelltwerden.In den Voten aus dem Publikum wurde verschiedentlichthematisiert, wie ökonomische Zwänge,evidenzbasierte Medizin und Guidelines zum Vertrauensverlustbetragen würden. «Das ist eine enormeEinschränkung der ärztlichen Handlungsfreiheit»,beklagte zum Beispiel der Medizinhistoriker undehemaliger Rektor der Universität Düsseldorf AlfonsLabisch. Es handle sich um Versuche, Unsicherheitenauszuschliessen und ökonomische Wege zu beschreiten.«Aber ich kann doch nicht wie ein bekloppterAutofahrer in den Fluss fahren, wenn mir dasNavi das sagt!» Guidelines finde er etwas Grossartiges,entgegnete darauf Candinas, denn das bedeute,dass er zu 80 % den Leitlinien folgen könne und dadurchZeit gewinne, um sich mit den interessanten20 % der Arbeit zu beschäftigen.Die Podiumsdiskussion, so harmonisch sie aufden ersten Blick dahinfloss, offenbarte beim genauerenHinhören doch tiefe Spaltungen zwischen Ärzteschaftund anderen Berufsgruppen, aber auch innerhalbder Ärzteschaft: Wer ist hauptsächlich für dieBewältigung der Herausforderungen zuständig, diesich mit der demographischen Alterung und der Zunahmechronischer Erkrankungen ergeben? Werkommt für die Kosten der zunehmenden Spezialisierungund Technisierung der Medizin auf, und wohinfliesst das Geld? Und wie gross ist eigentlich der Beitragder Medizin zur Gesundheit der Bevölkerung?Die Diskussion hat erst eingesetzt, und wir dürfenauf die Fortsetzung gespannt sein.Editores Medicorum Helveticorum<strong>Bulletin</strong> <strong>des</strong> <strong>médecins</strong> <strong>suisses</strong> | <strong>Schweizerische</strong> <strong>Ärztezeitung</strong> | Bollettino dei medici svizzeri | <strong>2013</strong>;94: <strong>44</strong> 1657