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18 politik<br />
»Wählt die weniger Schlechten!«<br />
Joachim Gauck sprach über die Einheit, die Freiheit und das Glück<br />
Reinbek – Ganz besondere Gäste hatte Krankenhausdirektor<br />
Lothar Obst für den diesjährigen<br />
Frühjahrsvortrag am St. Adolf-Stift gewinnen<br />
können. Joachim Gauck sprach über »20 Jahre<br />
deutsche Einheit – ist zusammengewachsen,<br />
was zusammengehört?« Zwei Tage zuvor konnte<br />
bereits Gerhard Lauter, letzter Zuständiger für das<br />
Pass- und Meldewesen in der DDR und Verfasser<br />
des legendären »Schabowskis Zettel« Spannendes<br />
zu den Tagen um den 9. November 1989 berichten.<br />
»Ich würde eigentlich viel lieber über die<br />
Freiheit als Verantwortung sprechen« begrüßte<br />
Joachim Gauck sein <strong>Reinbeker</strong> Publikum, davon<br />
über 200 in der Aula der Krankenpflegeschule<br />
und noch einmal 120 am Bildschirm in einem<br />
Nebenraum. Ohne einen Satz Manuskript trat er<br />
ans Rednerpult und schaffte es binnen weniger<br />
Minuten, die Zuhörer in seinen Bann zu ziehen.<br />
Es gelang ihm, das immer noch schwierige<br />
Verhältnis zwischen Deutschen Ost zu Deutschen<br />
West humorvoll bis komisch zu schildern, dabei<br />
aber in jedem Moment deutlich zu machen, wie<br />
wichtig ihm die Menschen, die Demokratie, die<br />
Freiheit sind.<br />
Last der Vorurteile<br />
Die Jahre der Einheit seien mit Vorurteilen<br />
bepflastert. Ossi: arbeitsscheu, undankbar, schuld<br />
am Soli; Wessi: verschlagen, egoistisch, mit<br />
Hornhaut an den Ellenbogen. »Je weniger man<br />
weiß, desto sicherer ist man sich«, erklärte Gauck<br />
das Entstehen der Stereotype.<br />
Als »zweitgrößter Feind der PDS« ließ der<br />
ehemalige Kandidat zum Amt des Bundespräsidenten<br />
keinen Zweifel aufkommen, dass er bei<br />
dieser Partei kein Konzept für die Zukunft sieht.<br />
Doch »Die Mauer ist in Berlin immer noch bei<br />
den Wahlen erkennbar«, akzeptiert der frühere<br />
Rostocker Pastor und erste Leiter der Behörde<br />
für Stasi-Unterlagen, dass viele Menschen in der<br />
DDR unter Rollenverlust leiden, sich heimatlos<br />
und fremd im geeinten Deutschland fühlen. »Wir<br />
stellten uns 1990 vor, nach 20 Jahren könne man<br />
Ossi und Wessi nicht mehr unterscheiden. Das<br />
war ein schwerer Irrtum«, erklärt er, wie Prägung<br />
von Haltung und Mentalität in der DDR unterschätzt<br />
werde. Als »unüberzeugte Minimalloyalität«<br />
benennt er die Haltung vieler Familien in der<br />
DDR, in der man mit Kindern nicht über Politik<br />
sprach, um sie zu schützen.<br />
Plädoyer für das Wählen<br />
Und so kommt Gauck denn doch noch zu seinem<br />
Lieblingsthema, die Freiheit als Schatz und<br />
zugleich als Aufgabe. Es sei eine selbstgewählte<br />
Ohnmacht, Verbraucher statt Bürger zu sein«<br />
wettert Gauck gegen Nichtwähler. In jede Abiturklasse<br />
gehöre vor einer Wahl die Schilderung<br />
von Annette Simon (Tochter von Christa Wolf)<br />
zur Wahl in der DDR. Und Gauck schildert das<br />
»Zettelfalten«, wie DDR-Wahlen im Volksmund<br />
hießen so komödiantisch schockierend, dass<br />
jeder im Saal ihm diesen Satz aufs Wort glaubt:<br />
»Ich kann heute gar nicht NICHT wählen.«<br />
Man solle sich nicht das Schlaraffenland erhoffen.<br />
»Wählt die weniger Schlechten!«, gibt er den<br />
Zuhörern mit auf den Weg.<br />
»Man muss etwas riskieren, statt das Leben<br />
zu ver-warten« ist für ihn ein Schritt zum Glück<br />
und eine der Lehren der Wende, wo Massen mit<br />
dem hartnäckigen »Wir sind das Volk« die DDR-<br />
Führung erschüttert haben.<br />
Chaos im November<br />
Über die entscheidenden Tage im November<br />
berichtete Zeitzeuge Gerhard Lauter. Als Leiter<br />
Gerhard Lauter, heute Anwalt in<br />
Leipzig, besitzt noch die originalen<br />
Dokumente, die die Maueröffnung<br />
herbeiführten.<br />
des Pass- und Meldewesens hatte<br />
er den Auftrag, am Morgen des 9.<br />
Novembers 1989 eine Übergangsregelung<br />
bis zum geplanten Reisegesetz<br />
zu formulieren. Er setzte<br />
sich über die Anordnung des Zentralkomitees<br />
hinweg und regelte<br />
nicht nur Ausreisen, sondern auch<br />
zeitweilige Privatreisen.<br />
»Ich hatte die Hoffnung, dass<br />
die Führung erkennen würde, dass<br />
es nicht anders geht«, erklärte er<br />
seine Eigenmächtigkeit. »Das war<br />
kein konspirativer Akt, sondern<br />
eine Reaktion darauf, dass DDR<br />
bereits in Agonie lag. Ich wollte<br />
politisch logisch handeln.«<br />
Lauter saß im Theater<br />
Seine Papiere gingen fast ohne<br />
Änderung durch die Sitzung<br />
des Politbüros und des ZK zur<br />
Pressekonferenz und wurden als<br />
»Schabowskis Zettel« berühmt,<br />
die die Mauer öffneten. Dabei<br />
war dies gar nicht Lauters Absicht,<br />
denn er hatte die Mitteilung mit<br />
einer Sperrfrist für den folgenden<br />
Morgen versehen. Bis dahin sollte<br />
es »geordnete« Regeln geben. Er<br />
saß im Theater, während sich vor<br />
den Grenzübergängen schon die<br />
Menschen drängten.<br />
Das Chaos bei der politischen<br />
Führung habe eine Kettenreaktion<br />
herbeigeführt, ist sich Lauter sicher.<br />
Die Massendemo am 4. November<br />
in Ost-Berlin sei der Partei<br />
unter die Haut gefahren, dazu<br />
am 7. November die Drohung der<br />
tschechischen Regierung, ihre<br />
Grenze zur DDR zu schließen. Die<br />
Regierenden seien gar nicht fähig<br />
gewesen, mit den Forderungen<br />
der Menschen umzugehen. »Die<br />
lebten doch hoch oben in den<br />
Wolken.«<br />
Elke Güldenstein<br />
FOTO: ElkE GüldEnsTEin<br />
18. April 2011<br />
Im Anschluss an seine Rede signierte Joachim Gauck seine Erinnerungen<br />
»Winter im Frühling – Sommer im Herbst«. Sigrid Müller (re.) aus Börnsen<br />
schob ihm dabei ein altes Bild zu: Tanzstunde 1957 in Rostock, Joachim<br />
Gauck 17-jährig dabei. Er bedankte sich begeistert.<br />
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