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24 politik<br />
die meinung der leser<br />
Betr.: »Was hat Fukushima mit<br />
Reinbek zu tun?« – DR vom<br />
4.4.2011, S. 16<br />
Das Thema »Kernenergie« ist viel zu<br />
ernst, um es nur emotional zu besprechen.<br />
Für mich ist interessant, dass Artikel oder<br />
Leserzuschriften (in DIE WELT oder DIE<br />
ZEIT) oder auch anderen Medien von<br />
Naturwissenschaftlern, insbesondere von<br />
Technikern oder Physikern, grundsätzlich<br />
anders lauten als die übrigen, zum Teil von<br />
Theologen oder Künstlern. Manche lesen<br />
sich dabei so, als ob der Weltuntergang<br />
unmittelbar bevorsteht. Eine Versachlichung<br />
ist deshalb dringend geboten. Auch<br />
sollten die Medien es tunlichst unterlassen,<br />
Meinungen vorzugeben, richtiger wäre es,<br />
die Leser (Betrachter, Hörer) über Fakten<br />
so zu informieren, dass sie selbst in der<br />
Lage sind, eine fundierte Meinung zu<br />
entwickeln.<br />
Die folgenden Zeilen sind ein Versuch,<br />
den Leser mit der Problematik vertraut zu<br />
machen, ohne seine emotionale Position zu<br />
zerstören. Man braucht meine offensichtlich<br />
erkennbare Meinung nicht zu teilen,<br />
es genügt mir, wenn sie zum Nachdenken<br />
anregt. So, wie ich jeden Kernkraftgegner<br />
resektiere, erwarte ich auch ein Respektieren<br />
meiner Meinung.<br />
1. <strong>Der</strong> »GAU« ist lt. Duden<br />
der »größte anzunehmende<br />
Unfall«. <strong>Der</strong> »Super-GAU« wäre<br />
damit ein Unfall, der größer als<br />
der größte wäre, was sich niemand<br />
vorstellen kann. »Super«<br />
ist überflüssig.<br />
2. Die »Richter-Skala«<br />
misst die bei einem Erdbeben<br />
ausgelöste Energie anhand der<br />
Erdbebenwellen in 100 km<br />
Entfernung vom Epizentrum.<br />
Als Maß dient der »Zehner-Logarithmus«,<br />
so dass z.B. ein Wert »5« 10x stärker ist als<br />
»4«. <strong>Der</strong> jetzt im Norden Japans festgestellte<br />
Wert von »9« ist also 10x10x10x10x10x=<br />
100.000x stärker als ein in Deutschland<br />
allenfalls vorkommendes Erdbeben. Lt.<br />
Brockhaus (2001) reicht die Tabelle von »0«<br />
bis »8,5«, weil die bis 2001 registrierten<br />
Werte bis »8,6« gingen. Die Skala ist aber<br />
nach oben offen, weshalb das Erdbeben<br />
März 2011 mit »9,3« weltweit das stärkste<br />
Beben der Neuzeit war, in Deutschland<br />
undenkbar, weil es die geologischen Voraussetzungen<br />
dafür nicht gibt.<br />
3. Die letzten bekannten Erdbeben in<br />
Ländern mit Kernkraftwerken betrafen:<br />
am 16.7.2007 mit »6,6« auf der Richter-<br />
Skala in Kashiwazaki/Japan, wo sich das<br />
größte Atomkraftwerk der Welt befindet.<br />
11 Tote, 12,5 Milliarden $ Schaden, jedoch<br />
keine Strahlungsopfer. Am 12.5.2008 in<br />
Zentral-China mit »7,9«; dort das schwerste<br />
seit 32 Jahren mit 70.000 Toten, 313.000<br />
Verletzten und 5,8 Millionen Obdachlosen<br />
(nur Erdbebenopfer). Am 14.6.2008 in<br />
Fukushima mit »7,2«, keine Strahlungsopfer,<br />
trotz des Austritts von radioaktivem<br />
Wasser. Die japanischen Atomkraftwerke<br />
wurden auf Grund von Auflagen so gebaut,<br />
dass sie ein Beben der Stärke »8« standhalten.<br />
Bei dem jetzigen Erdbeben haben die<br />
Baukörper das ca. 30x stärkere Beben von<br />
»9,3« ausgehalten, nicht jedoch das Kühlsystem.<br />
<strong>Der</strong> durch das Beben ausgelöste<br />
Tsunami war mit einer Flutwelle von bis zu<br />
20 m zu gewaltig.<br />
4. In meinem Geburtsjahr 1929 lebten in<br />
Deutschland 65.430.000 Einwohner, heute<br />
82.380.000 einschl. 6.745.000 Ausländern.<br />
Die Steigerung beträgt also 26 %. Auf<br />
der Erde lebten 1929 ca. 2,0 Milliarden<br />
Menschen, heute ca. 7,0 Milliarden. Die<br />
Steigerung macht damit 250% aus. Zum<br />
Vergleich: China 400 Millionen 1929/<br />
heute 1.400 Millionen. Diese Relation auf<br />
Deutschland übertragen, hätten wir heute<br />
230 Millionen Einwohner. Für das 21.<br />
Jahrhundert dürfte eine Schätzung von 10<br />
Milliarden zur Mitte und von 15 Milliarden<br />
zum Ende des Jahrhunderts realistisch sein.<br />
5. <strong>Der</strong> Energieverbrauch stieg überproportional<br />
in 2009 – nur in Deutschland –<br />
auf das 10-fache von 1929. In meiner Kindheit<br />
gab es Dampf-Loks, Strom erzeugten<br />
die Stadtwerke aus Koks, elektrische Haushaltsgeräte<br />
waren weitgehend unbekannt,<br />
Kühe wurden noch mit der Hand gemolken<br />
und die Industriegebiete waren voller<br />
Rauch und Smog von den Kohlekraftwerken.<br />
Die Umstellung war nur möglich, weil<br />
immer mehr Kraftwerke entstanden sind<br />
mit immer größeren Leistungen. Das wird<br />
sich fortsetzen und steigern, wenn auch die<br />
Autos in wenigen Jahren an der Steckdose<br />
»tanken«. Wieviele Windkraft-und Solaranlagen<br />
werden erforderlich sein, um diesen<br />
Bedarf zu decken, und zwar in Deutschland<br />
und weltweit? Ohne Energieversorgung mit<br />
Atomkraftwerken unmöglich.<br />
6. Zur Zeit gibt es 438 Reaktoren in<br />
Betrieb in 31 Ländern. 14 weitere Staaten<br />
planen den Einstieg. Insgesamt werden z.<br />
Kann nur am deutschen<br />
grünen Wesen schließlich<br />
die ganze Welt genesen?<br />
Zt. 374 Reaktoren neu geplant, wovon 45<br />
bereits im Bau sind. Wegen der globalen<br />
Bedeutung hat es keinen Sinn, nur die 17<br />
Reaktoren in Deutschland abzuschalten.<br />
Wahrscheinlicher Bestand deshalb in 10<br />
Jahren 500, Ende des Jahrhunderts mindestens<br />
1.000 Atomkraftwerke.<br />
7. Bei allen Unfällen in Kernkraftanlagen<br />
sind die, die auf technische Mängel und<br />
menschliches Versagen zurückzuführen<br />
sind, von denen zu unterscheiden, die<br />
durch Naturereignisse (höhere Gewalt)<br />
ausgelöst wurden. Bei den ersteren sind<br />
die betreffenden Kernkraftwerke Täter, bei<br />
den letzteren sind sie Opfer. Die Gefahren<br />
in Kernkraftwerken werden international<br />
einheitlich in der sog. Ines-Scala (international<br />
nuclear event scale) erfasst. Ines 1 ist<br />
eine Störung. Ines 2 ein Störfall, Ines 3 ein<br />
ernster Störfall, Ines 4 ein Unfall, Ines 5 ein<br />
ernster Unfall, Ines 6 ein schwerer Unfall,<br />
Ines 7 ein katastrophaler Unfall. Schadensvorfälle<br />
ohne Auswirkungen auf den Nuklearbereich<br />
werden unter Ines 0 eingestuft.<br />
Bei den deutschen Kernkraftwerken gab es<br />
in den letzten 15 Jahren 2.158 gemeldete<br />
Vorfälle. Davon gehörten 96,6% zu Ines<br />
0, 3,3% zu Ines 1 nur 3 Ereignisse waren<br />
Störfälle nach Ines 2. Größere Schadensfälle<br />
gab es nicht.<br />
<strong>Der</strong> schwerste Unfall im Westen war am<br />
28.3.1979 in Three Mile Island bei Harrisburg<br />
(USA), ein vorübergehender Ausfall<br />
der Kühlung mit Überhitzung, deshalb eine<br />
partielle Kernschmelze und ein geringer<br />
Austritt von radioaktiven Stoffen. Es gab<br />
keine Personenopfer.<br />
<strong>Der</strong> schwerste Fall im Osten war am<br />
26.4.1986 in Tschernobyl (damals UDSSR),<br />
ausgelöst durch eine Häufung technischer<br />
Fehler und menschliches Versagen: der<br />
Notfallknopf auf dem Steuerpult war viel<br />
zu spät gedrückt worden. »Wenn 1986<br />
jemand diesen Knopf früher gedrückt hätte,<br />
wäre das Unglück nicht passiert« (Ranga<br />
Yogeshwar im Zeit-Magazin 14/2011, S.<br />
43). Dieser Fall war unmittelbar tödlich für<br />
28 Personen, kurzfristig für ca 5.000 Personen;<br />
an Folgeschäden starben nach den<br />
Feststellungen internationaler Gutachter<br />
25.000, nach Schätzungen von Greenpeace<br />
ca 90.000 Personen, insbesondere von<br />
den ca. 350.000 Militärangehörigen, die<br />
eingesetzt wurden. Hinzu kommen die<br />
langfristigen Schäden durch Kontaminierung<br />
eines Gebietes von ca. 25.000 qkm.<br />
9. Nur diese Fälle lt. Abs.8 sind bekannt.<br />
Vergessen die Fälle von anderen Energiegewinnungsanlagen.<br />
So der Bruch des<br />
Staudamms bei Frejus (Frankreich) am<br />
2.12.1959 (421 Tote), bei Longarone (Italien)<br />
am 9.10.1963 (2.500 Tote), bei Morvi (Indien)<br />
am 11.8.1979 (15.000 Tote), in 1975 am<br />
Huai-Fluss in China (230.000 Tote), sowie<br />
der Bombenangriff 1943 auf die Staumauer<br />
an der Möhnetalsperre mit 1.600 Toten.<br />
Verdrängt sind die Bergwerksopfer (jährlich<br />
ca 7.000 nur in China) sowie die Ölkatastrophen<br />
wie zuletzt in der Karibik.<br />
10. Es gibt Umweltziele, die sich gegenseitig<br />
behindern, unter Umständen sogar<br />
ausschließen. Für das Klima wäre es besser,<br />
die Kernenergie zu stärken, um alle Kraftwerke<br />
mit fossilen Brennstoffen schließen<br />
zu können. Für den Straßenverkehr wäre<br />
es besser, von Mineralöl auf Elektrizität<br />
(!) umzustellen. <strong>Der</strong> Strom wird zur Zeit<br />
hauptsächlich durch Windkraft im Norden<br />
produziert, aber im Süden<br />
verbraucht; das wiederum<br />
setzt neue Stromleitungen<br />
voraus. Wind und Sonne<br />
gibt es nicht immer, das setzt<br />
Lagerkapazitäten voraus und<br />
Ersatz aus anderen Quellen.<br />
Stromimport? Im Zweifel<br />
von ausländischen Kernkraftanlagen.<br />
Man kann nicht<br />
gleichzeitig alles haben und<br />
muss deshalb gewichten.<br />
11. Greenpeace sieht das im internationalen<br />
Vergleich auch so. <strong>Der</strong> Mitbegründer<br />
und frühere Präsident von Greenpeace<br />
international, Dr. Patrick Moore: »Die<br />
Verlängerung der Betriebserlaubnis für<br />
die deutschen Kernkraftwerke markiert<br />
den Wendepunkt und den Beginn der<br />
Reduzierung des C0 ² -Ausstoßes, ohne der<br />
Wirtschaft damit zu schaden. <strong>Der</strong> Bedarf<br />
nach Elektrizität wird sogar noch höher sein<br />
als heute, um die Batterien der Plug-In-Hybridfahrzeuge<br />
aufzuladen und die Wärmepumpen<br />
in Gebäuden am Laufen zu halten.<br />
Auf diese Weise kann saubere Kernenergie<br />
zusammen mit Windkraft den Verbrauch<br />
von fossilen Brennstoffen ... auch in der<br />
Elektrizitätsgewinnung reduzieren.« (Januar<br />
2011). Inhaltlich ähnlich Stephen Tindale,<br />
Greenpeace UK, (Januar 2011).<br />
12. Ist Deutschland noch ein Land<br />
des technischen Fortschritts, wenn die<br />
Forschung auf dem Gebiet der Kernenergie<br />
seit Jahren behindert und gedrosselt<br />
wird? Die Kugelbett-Reaktortechnik, die<br />
in Hamm-Uentrop entwickelt worden ist,<br />
die eine Kernschmelze ausschließt und<br />
auch bei Ausfall der Kühlung funktioniert,<br />
kommt nicht bei uns, sondern bei zwei<br />
Kernkraftwerks-Neubauten in China zum<br />
Einsatz. Die Transmutation (Umwandlung<br />
des hoch radioaktiven Mülls) wird in Belgien<br />
erfolgversprechend entwickelt. Man<br />
steht unter dem Eindruck, dass mancher<br />
Politiker es begrüßen würde, wenn in<br />
Deutschland ein schwerer Störfall eintreten<br />
möge, um sagen zu können: »Wir haben<br />
das geahnt und schon immer gewarnt!«<br />
13. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass<br />
wir auf einer grünen Insel der Glückseligkeit<br />
leben können. Die Bürger anderer<br />
Staaten und anderer Religionen (z.B. China,<br />
Japan) haben eine andere Einstellung und<br />
18. April 2011<br />
betrachten die »gutgemeinten« Ratschläge<br />
deutscher Instanzen als arrogante Besserwisserei.<br />
»Nirgends sonst wird so rücksichtslos<br />
und falsch über das Atomunglück<br />
in Japan geredet wie hier« und »Die Angst<br />
ist heute ein Meister aus Deutschland. Wer<br />
solche Freunde hat, braucht keinen Super-<br />
GAU« (so der Professor für Japanologie an<br />
der Uni Bonn, R. Zöllner). Auch wir würden<br />
uns verbieten, wenn man versucht, unser<br />
Denken und Handeln zu beeinflussen.<br />
14. In Europa (m.W. sogar weltweit)<br />
gab es in der Zeit nach Tschernobyl kein<br />
einziges tödliches Strahlungsopfer in Kernkraftanlagen.<br />
In den ersten 10 Tagen nach<br />
Frühlingsanfang gab es in Deutschland ca.<br />
100 Tote und Verletzte nach Motorrad-<br />
Unfällen. Wenn die Universitäten und die<br />
beteiligten Firmen alles unternehmen, eine<br />
optimale Sicherheit zu gewährleisten, sind<br />
alle Menschen besser geschützt als durch<br />
Demonstrationen und Blockaden.<br />
15. Jeder, der sich zu einem so ernsten<br />
Thema äußert, handelt verantwortungslos,<br />
wenn er Thesen vertritt, die den Fakten<br />
nicht entsprechen. Am gefährlichsten ist<br />
dabei ein Halbwissen, das geeignet ist, die<br />
Ängste der Menschen bis zur Hysterie zu<br />
steigern.<br />
Helmut Fischer,<br />
Rehkoppel 2, Aumühle<br />
Ein Besuch<br />
in Pripjat . . .<br />
Wir nähern uns einer roten Ampel.<br />
Wer ist auf die Idee gekommen,<br />
am Eingang einer Geisterstadt<br />
eine Ampel aufzustellen? Dahinter<br />
erstreckt sich eine Metallwand,<br />
dazu Scheinwerfer, Stacheldraht,<br />
ein Wachhäuschen, in dem ein<br />
grimmiger Soldat sitzt – eine Szenerie<br />
wie im Gazastreifen. Noch<br />
einmal werden unsere Papiere<br />
kontrolliert. »Herkunftsland?«,<br />
fragt der Soldat. »Besuchszweck?<br />
Route? Aufenthaltsdauer?«<br />
»Internationalisten auf der Reise<br />
in die Vergangenheit.« Sergej<br />
kann sich solche Bemerkungen<br />
erlauben, er ist hier bekannt, ein<br />
Teil des Zonenapparates.<br />
»Die gepflasterten Wege nicht<br />
verlassen!«, mahnt der Soldat.<br />
»Die sind dekontaminiert. <strong>Der</strong><br />
Rest ist unberechenbar. Keine<br />
Alleingänge, sagen Sie das den<br />
Ausländern!«<br />
Das Wachhäuschen steht bereits<br />
auf strahlendem Terrain, der<br />
Geigerzähler piepst hektisch, bis<br />
auf zwei Millisievert Cäsium pro<br />
Stunde klettert die Digitalanzeige.<br />
48 Stunden dauert die Schicht des<br />
Wachsoldaten, inklusive Übernachtung<br />
am Rand der Geisterstadt.<br />
Was könnte es Gruseligeres<br />
geben?<br />
»<strong>Der</strong> Job ist beliebt«, sagt<br />
Sergej. »Man hat viel Freizeit und<br />
kann früh in Rente.«<br />
Zitiert aus dem Buch: »Tschernobyl Baby. Wie wir<br />
lernten, das Atom zu lieben.« Von Merle Hilbk.<br />
Erschienen im Eichborn Verlag, 1. Auflage 2011<br />
Merle Hilbk, Jahrgang 1969, ist nach Redaktionstätigkeit<br />
bei Spiegel und Zeit als freie Journalistin<br />
in Russland und Osteuropa tätig. 2009 und 2010<br />
reist sie mehrere Monate durch die verstrahlten<br />
Gebiete in Weißrussland und der Ukraine, bis hin<br />
zum Reaktor, spricht mit Frauen in kleinen Dörfern,<br />
deren Männer zu müde und zu kraftlos sind, um zu<br />
arbeiten – Folgen der Verstrahlung.