31.08.2016 Aufrufe

CRUISER im September 2016

Gender-Marketing: Wie unser Umfeld uns Geschlechterrollen zuweist. Ausserdem: Die ausführliche Buchrenzension von Sunil Manns neustem Buch, Ellen DeGenres im grossen Interview und...was macht eigentlich "The Nanny" Fran Drescher?

Gender-Marketing: Wie unser Umfeld uns Geschlechterrollen zuweist. Ausserdem: Die ausführliche Buchrenzension von Sunil Manns neustem Buch, Ellen DeGenres im grossen Interview und...was macht eigentlich "The Nanny" Fran Drescher?

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

30<br />

KOLUMNE<br />

Thommen meint<br />

Niemand hat etwas gegen<br />

Homosexuelle!<br />

Interessant ist, dass es <strong>im</strong>mer wieder Leute gibt, die öffentlich gegen<br />

uns sch<strong>im</strong>pfen, aber «persönlich nichts» gegen uns haben.<br />

VON PETER THOMMEN<br />

E<br />

ine Cousine von mir ist von einer<br />

Freikirche zur anderen bei den<br />

«Mennoniten» angekommen, einer<br />

Glaubensgemeinschaft aus der Täuferbewegung<br />

des 16. Jahrhunderts. Ihr Sohn hat<br />

mit 30 sein Coming-out gewagt. Als ich ihr<br />

theologisch-liberale Texte zur Homosexualität<br />

zusandte, schrieb sie mir genervt zurück,<br />

sie brauche sowas nicht, «als Mutter<br />

hätte sie damit kein Problem». Frau «unterwirft<br />

sich» also einer Sekte und hat gleichzeitig<br />

«als Mutter» kein Problem mit der<br />

Homosexualität ihres Sohnes?<br />

Ich habe schon früher hier darauf hingewiesen,<br />

dass die meisten Leute, die Sex mit<br />

dem gleichen Geschlecht haben, ebenso<br />

«einfach» und «separat» denken wie die<br />

meisten heterosexuell Orientierten. Denen<br />

genügt das. Bei homosexuellen Jungs von<br />

Zugewanderten ist mir schon <strong>im</strong>mer aufgefallen,<br />

dass ihre Kultur das eine, aber ihre<br />

Orientierung hier «etwas ganz anderes» ist.<br />

Magnus Hirschfeld wies schon 1914 in<br />

seinem Buch mit dem Kapitel über die Geschichte<br />

der religiösen Verfolgung darauf hin,<br />

dass die anti-homosexuellen Gesetze ursprünglich<br />

nicht gegen Homosexuelle gerichtet<br />

waren, sondern darauf, die «Heterosexuellen»<br />

vor «solchen Handlungen zu bewahren».<br />

Denn eine «homosexuelle Identität» gab es in<br />

vorgeschichtlicher Zeit gar noch nicht. Es war<br />

einfach «Männerliebe».<br />

<strong>CRUISER</strong> september <strong>2016</strong><br />

An einer Diskussion kürzlich in Zürich<br />

meinte ein Junghomo, er wolle nicht mehr<br />

«schwuler Wichser» genannt werden, sondern<br />

«nur noch Wichser, wie alle anderen<br />

auch». Er weiss natürlich nicht, dass diese<br />

Bezeichnung für sich allein vor mehr als<br />

hundert Jahren für homosexuell tätige Männer<br />

verwendet wurde. Sie war eine der gegenseitigen<br />

Praktiken, die in alten Gesetzen<br />

nicht bestraft wurde, diese verboten nur den<br />

Analverkehr.<br />

«Wir sollten generell bei<br />

ethnologisch-kulturellen<br />

Vergleichen vorsichtig sein.»<br />

Wir sollten generell bei ethnologischkulturellen<br />

Vergleichen vorsichtig sein, mit<br />

der Interpretation des jeweiligen Homosexualitätstabus<br />

und dem öffentlichen Umgang<br />

damit. Bei Hermann Tertilts Studie<br />

einer Jugendbande (1) bin ich auf die<br />

guppenspezifische Funktion der (öffentlichen)<br />

Zuschreibung von Homosexualität<br />

anderen gegwenüber gestossen. Sie dient der<br />

sozialen Dominanz über und Unterwerfung<br />

untereinander, so etwa wie der SM-Kult<br />

unter gewissen Homosexuellen und dieser<br />

ist sogar zwischen Männern und Frauen<br />

teilweise üblich. Das sei aber «nicht ernst gemeint«,<br />

heisst es jeweils.<br />

Alles heute «zum Fetisch Erklärte» hat<br />

eine psychische, soziale und historische Vergangenheit,<br />

die auch fürderhin beachtet<br />

werden sollte. Viele «einfach Denkende» haben<br />

mir <strong>im</strong>mer wieder vorgeworfen, ich solle<br />

mir «nicht so einen Kopf» darüber machen.<br />

Die Differenz zwischen dem kulturellen<br />

und dem persönlichen Anspruch der<br />

Homosexuellendiskr<strong>im</strong>inierung kann aber<br />

mit diesen Kenntnissen verständlicher werden.<br />

Dass Reggae-, Dancehall- und andere<br />

Musiker mit alten Drohungen in ihren öffentlichen<br />

Auftritten heute wieder «spielen»<br />

heisst aber nicht, dies zu entschuldigen. So<br />

ist Capleton 2008 in Basel in ein Wespennest<br />

getreten, als er wie gewohnt AUCH über das<br />

Feuer und das Verbrennen von Schwulen<br />

singen wollte – offiziell «nicht ernst gemeint»<br />

(stopmurdermusic.ch). Einige Jahre vor seinem<br />

Auftritt in Basel war nämlich ein<br />

Schwuler in einer WC-Kabine mit Benzin<br />

übergegossen und wirklich grausam angezündet<br />

worden. Damals hatte sich die ganze<br />

Stadt und Politik darüber öffentlich empört.<br />

Aber das hatten die jungen, un-verantwortlich<br />

Organisierenden nicht gewusst. So kurz<br />

ist eben ein «kollektives Gedächtnis» – selbst<br />

in einer Stadt. Best<strong>im</strong>mte «kulturelle Vorstellungen»<br />

in eine andere Kultur hinein zu<br />

tragen, kann Probleme aufflammen lassen.<br />

Es ist schwer, die breite Strasse des einfachen<br />

Denkens zu verlassen – ich weiss.<br />

Aber genauso, wie die Heterosexuellen ihren<br />

«Fortpflanzungs- und Ehekult» demografisch<br />

überdenken müssen, muss auch in der<br />

Homosexualität, an der auch viele andere<br />

noch beteiligt sind, <strong>im</strong>mer wieder einiges<br />

überdacht werden – auch in der Hierarchie<br />

unter Diskr<strong>im</strong>inierten oder Emigrierten.<br />

Wer erinnert sich noch an den Überfall<br />

<strong>im</strong> Admirals Pub in London 1999? Oder an<br />

den Angriff auf die Bar Noar in Tel Aviv<br />

2009? Oder an Überfälle in Argentinien in<br />

den 80ern? Wer kennt die Repressionen unter<br />

dem Franco-Reg<strong>im</strong>e in Spanien? (Alles<br />

recherchierbar <strong>im</strong> Internet.)<br />

1) Tertilt, Hermann: Türkish Power Boys.<br />

Ethnographie einer Jugendbande, st 2501, 1996,<br />

260 S. (siehe besonders ab Seite 189)

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!