FILMFEST MÜNCHEN MAGAZIN 2017
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großen Rollen. Die Chronologie einer<br />
langwierigen Genesung darzustellen,<br />
sei eine enorm schwere Aufgabe gewesen,<br />
meint Hauff: „Da muss jeder<br />
kleinste Tick, jeder Wutausbruch, jeder<br />
Erinnerungsbaustein sitzen.“<br />
Auch in der Verfilmung von zündschnüre<br />
(1974) nach dem Roman von<br />
Franz Josef Degenhardt geht es um Widerstand,<br />
um einen „Widerstand in der<br />
Provinz gegen die Nazis, ausgehend von<br />
Menschen, die ihre Opposition nicht<br />
intellektuell betreiben“. Die Geschichte<br />
geht auf die Edelweiß-Gruppe im<br />
Ruhrgebiet zurück. Sie kämpften gegen<br />
das NS-Regime, nachdem die Nazis ihre<br />
Väter weggesperrt hatten.<br />
Der Schläger Kuul (Burkhard Driest) macht mal wieder Drama, während<br />
Franz Blum (Jürgen Prochnow) in Ruhe die Hierarchie umstülpt.<br />
Auch wenn sich Hauff an Stoffe gewagt<br />
hat, die sich in ihrer ungewöhnlichen<br />
Tonart dem Mainstream entzogen,<br />
hatte er keine großen Probleme,<br />
seine Filme finanziert zu bekommen.<br />
Das Fernsehen hatte er auf seiner Seite,<br />
da halfen ihm seine Anfänge in der Unterhaltungsbranche.<br />
Bis er sich an<br />
stammheim – baader-meinhof vor<br />
gericht (1986) wagte, einen Film, den<br />
einfach kein Sender finanzieren wollte:<br />
„Alle waren da einfach noch zu nah<br />
dran.“ Zum Glück konnte er das Hamburger<br />
Thalia Theater und die Hamburger<br />
Filmförderungen überzeugen, das<br />
Projekt zu unterstützen.<br />
Wie in einem Mikrokosmos kämpfen<br />
in stammheim der Staat und seine<br />
radikalste Opposition gegeneinander:<br />
Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun<br />
Ensslin und Jan-Carl Raspe, der<br />
Kern der RAF, verteidigen vor Gericht<br />
ihre Taten und Standpunkte. Hauff konzentrierte<br />
sich auf die Aufzeichnungen,<br />
die dem „Spiegel“-Journalisten Stefan<br />
Aust zugespielt wurden; fast keine<br />
Szene ist frei erfunden. „Das ganze mediale<br />
Drumherum erschien mir nicht<br />
relevant, Action-Szenen hätten den<br />
Blick auf das Wesentliche nur gestört.<br />
Gerade diese konsequente Reduktion<br />
auf den Prozess ermöglicht den Blick<br />
auf die Auseinandersetzung mit dem<br />
Staat.“<br />
Für Hauff war stammheim in vieler<br />
Hinsicht ein wichtiger Film, noch heute<br />
gilt er als Klassiker des politischen<br />
Kinos. 1986 gewann er dafür den Goldenen<br />
Bären auf der Berlinale – auch<br />
wenn Jurypräsidentin Gina Lollobrigida<br />
damals für Aufruhr sorgte, weil sie sich<br />
öffentlich von der Auszeichnung distanzierte.<br />
Heute wirkt der Film vorbildhaft<br />
darin, wie er sich auf fiktionale<br />
Weise mit der politischen Realität<br />
auseinandersetzt. Sieht man sich Fernseh-Experimente<br />
wie terror nach dem<br />
Theaterstück von Ferdinand von Schirach<br />
oder die diversen medialen Auseinandersetzungen<br />
mit den NSU-Protokollen<br />
an, stehen diese in einer Traditionslinie<br />
mit stammheim.<br />
AUTOMATISCH<br />
POLITISCH<br />
Hauff selbst wollte nicht unbedingt<br />
politische Filme machen. Allerdings<br />
wurzeln sie in einer Zeit, in der man<br />
schlichtweg nicht anders als politisch<br />
agieren konnte, „wenn man denn ein<br />
bisschen aufmerksam war“. Nicht nur<br />
stammheim, sondern auch ein Film wie<br />
messer im kopf haben denselben Ansatz,<br />
der auch in Hauffs Spätwerk spürbar<br />
ist. Mit dem Musical linie 1 (1987)<br />
fand er zwar zu seinem Unterhaltungsursprung<br />
zurück, warf aber auch einen<br />
kritischen Blick auf Berlin: In der U-<br />
Bahn bekommt das naive Landei Sunnie<br />
einen unverblümten Eindruck von der<br />
harten, aber auch amüsanten Großstadtrealität.<br />
Hauff hat sich seinen Humor stets<br />
bewahrt und versucht, möglichst genau<br />
die Realität einzufangen. Von den<br />
frühen Sozialreportagen über messer<br />
im kopf, der sich tragikomisch mit dem<br />
Identitätsverlust des Protagonisten<br />
auseinandersetzt, bis hin zum Grips-<br />
Musical linie 1 war er immer wieder bemüht,<br />
klarsichtig die Gesellschaft mit<br />
ihren Problemen und Eigenheiten einzufangen.<br />
HOMMAGE REINHARD HAUFF<br />
Westberlin in den Jahren vor der Wende: Entlang der linie 1<br />
wird jede Trennung munter fortgetanzt.<br />
Auch Marius Müller-Westernhagen<br />
steckt als der mann auf der mauer in<br />
einer politischen Zwickmühle. Laut<br />
Hauff war das „ein Stück deutscher<br />
Schizophrenie: Wir sind die eine Hälfte,<br />
die andere Hälfte ist dort.“ Am Ende<br />
spaziert Westernhagen auf der Mauer<br />
entlang. „Natürlich war das gar nicht<br />
möglich. Aber es entsprach der Absurdität<br />
dieser Situation.“ Von oben blickt<br />
der Mann nach links und rechts. Und<br />
möchte sich dann doch nicht entscheiden.<br />
Hauff wählte ebenfalls die Mitte:<br />
zwischen Entertainment und politischem<br />
Kino, faktenreich und trotzdem<br />
unterhaltsam, dabei immer eigenwillig<br />
kunstvoll.<br />
Julia Weigl<br />
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