FILMFEST MÜNCHEN MAGAZIN 2017
Das kostenlose Filmfest Magazin finden Sie im Festivalzentrum Gasteig und an den Filmfest-Kinos in München. Hier können Sie online im Magazin stöbern.
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Das politische Autorenkino ist zurück.<br />
Ein Kino, das sich als Seismograph gesellschaftlicher<br />
Prozesse versteht –<br />
und völlig ungewöhnliche Rezepte von<br />
Widerstand entwickelt, die sich im<br />
Grenzbereich von politischem Aktivismus<br />
und künstlerischem Ausdruck bewegen.<br />
Die Belegschaft eines portugiesischen<br />
Fahrstuhlwerks besetzt in<br />
a fábrica de nada die Fabrik und führt<br />
sie in Freestyle-Selbstverwaltung weiter,<br />
nachdem sich die Besitzer mit der<br />
Betriebskasse ins Ausland abgesetzt<br />
haben – und stößt auf die intrinsischen<br />
Widersprüche des Widerstands, die den<br />
Film schließlich in eine Art groteskes<br />
Musical kippen lassen. In santa y<br />
andrés versteckt ein politisch unbequemer<br />
und homosexueller Schriftsteller,<br />
wohnhaft in Fidel Castros Cuba,<br />
das Manuskript seines neuen Romans in<br />
der Schüssel seiner Latrine – um es vor<br />
dem prügelnden und eierwerfenden<br />
Mob zu retten, den die Behörden zu seiner<br />
Erniedrigung vor die Haustür geschickt<br />
haben. Eine bislang im kubanischen<br />
Kino komplett tabuisierte<br />
Realität, die auch umgehend zum Verbot<br />
des Films führte. In era o hotel<br />
cambridge zelebriert eine Hausbesetzergemeinschaft<br />
in São Paulo, bestehend<br />
aus brasilianischen Obdachlosen und<br />
Flüchtlingen aus den Kriegen im Nahen<br />
Osten, ihren Kampf um das Bleiberecht<br />
wie eine künstlerische Suche nach neuen<br />
Überlebenswegen – rebellische<br />
Ideen, die auch im Munitions- und Tränengasgranatenhagel<br />
der Militärpolizei<br />
nicht auszutreiben sind.<br />
Wie reagiert der Film auf die Komplexität<br />
und Ungerechtigkeit, die ständigen<br />
Meinungsmanipulationen und<br />
Widersprüche in einer sich gleichzeitig<br />
globalisierenden und radikalisierenden<br />
Welt? Einer Welt, in der aber auch immer<br />
wieder soziale Bewegungen entstehen,<br />
die den politischen Aktivismus auf<br />
eine neue theoretische Basis stellen<br />
und innovative Formen des Widerstands<br />
etablieren? Nun: Der Film reagiert nicht<br />
mehr mit einem impressionistischen<br />
Rückzug ins Private, in Seelenlandschaften<br />
eines fragmentierten Individuums,<br />
das isoliert und planlos durch eine urbanisiert-globale<br />
Welt irrt; vielmehr<br />
durch modellhafte, abgründige, dramatische<br />
Geschichten, durch welche die<br />
Mechanismen gesellschaftlicher oder<br />
moralischer Unterdrückung aufgedeckt<br />
und verhandelt werden. Bis vor kurzem<br />
war diese Form des politischen Kinos<br />
eher die Domäne einiger der letzten<br />
Mohikaner des Arbeiterkinos wie etwa<br />
Ken Loach. Und damit Schnee von gestern.<br />
Nach dem Motto: Papas Kino ist<br />
tot. Wobei gerade das Kino jener „alten<br />
68er“ mit diesem Anspruch antrat – zu<br />
sehen ist das in den Filmen von Reinhard<br />
Hauff, dem das diesjährige filmfest<br />
münchen eine Hommage widmet.<br />
Wie selten zuvor bietet das derzeitige<br />
Filmschaffen eine Vielfalt politischer<br />
Bruchlinien und neuer Klassenkämpfe:<br />
Porträt eines Augenblicks, in<br />
dem das Individuum sich der Notwendigkeit<br />
seines politischen Handelns bewusst<br />
wird, sei es in Schwellen-, sei es<br />
in den Postindustrieländern. Oder sei es<br />
in von agrarischen Stammesgemeinschaften<br />
geprägten Ländern wie Sambia,<br />
wo Debütregisseurin Rungano Nyoni<br />
mit i am not a witch den atemberaubenden<br />
Widerstand eines neunjährigen<br />
Mädchens ins Kameraauge nimmt. Innerhalb<br />
eines staatlich verwalteten Internierungslagers<br />
für Hexen kämpft das<br />
el amparo<br />
von Rober Calzadilla<br />
a fábrica de nada<br />
von Pedro Pinho<br />
Mädchen gegen die Drohung an, in eine<br />
Ziege verwandelt zu werden – und damit<br />
gegen einen ganzen Macht- und Repressionsapparat.<br />
Oder sei es in deutschen<br />
Kiez-Küchen und in WGs, die von<br />
der gentrifizierenden Entmietung bedroht<br />
sind. Dort – im Berliner Gesellschaftspanorama<br />
des Films der lange<br />
sommer der theorie – begeben sich<br />
drei Frauen aus einem zwar aufgeklärt<br />
linksliberalen, aber bislang gesellschaftlich<br />
weitgehend untätigen Bürgertum<br />
plötzlich auf die Suche nach neuen<br />
Wegen des Aktivismus und stellen sich<br />
Lenins Frage des „Was tun?“ neu.<br />
Also: Was tun? Rückkehr zu den<br />
Wurzeln des aktivistischen Films? Agit-<br />
Prop statt arty-farty? So naiv und einfallslos<br />
machen sich die Filmemacher<br />
von heute nicht ans Werk. Denn wie<br />
schon die hier angerissenen Beschreibungen<br />
zeigen, hat der politische<br />
Kampf sich künstlerisch die formalen<br />
Experimente der vorausgehenden, eher<br />
unpolitischen Generationen zu eigen<br />
gemacht, sie aber zugleich mit aktivistischer<br />
Sprengkraft aufgeladen. Wo alte<br />
Rezepte zur Revolution versagen oder<br />
längst diskreditiert sind, gilt es, neue<br />
Wege ins Unbekannte zu finden. Es ist<br />
die Stunde des kreativen Widerstands.<br />
Ein überraschendes und ermutigendes<br />
Phänomen dabei: Nirgends ist<br />
diese Neuerfindung des Kinos als Mittel<br />
des künstlerischen Widerstands so intensiv<br />
und vielfältig zu beobachten wie<br />
in jenen gebeutelten Ländern, die derzeit<br />
die schlimmsten Wirtschaftskrisen<br />
ihrer Geschichte durchmachen. Sie<br />
dürften eigentlich gar keine Mittel für<br />
die Produktion von Filmen haben – und<br />
erleben doch den vielleicht spannendsten<br />
Moment in der Geschichte ihres<br />
Autorenkinos. Allen voran Portugal<br />
(a fábrica de nada, são jorge und<br />
correspondências) und Venezuela<br />
(el amparo, la soledad, la familia), die<br />
in diesem Jahr mit insgesamt sechs Filmen<br />
stärker beim filmfest münchen<br />
präsent sind als je zuvor.<br />
KREATIVER WIDERSTAND<br />
Florian Borchmeyer<br />
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