23.05.2017 Aufrufe

FILMFEST MÜNCHEN MAGAZIN 2017

Das kostenlose Filmfest Magazin finden Sie im Festivalzentrum Gasteig und an den Filmfest-Kinos in München. Hier können Sie online im Magazin stöbern.

Das kostenlose Filmfest Magazin finden Sie im Festivalzentrum Gasteig und an den Filmfest-Kinos in München. Hier können Sie online im Magazin stöbern.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Das politische Autorenkino ist zurück.<br />

Ein Kino, das sich als Seismograph gesellschaftlicher<br />

Prozesse versteht –<br />

und völlig ungewöhnliche Rezepte von<br />

Widerstand entwickelt, die sich im<br />

Grenzbereich von politischem Aktivismus<br />

und künstlerischem Ausdruck bewegen.<br />

Die Belegschaft eines portugiesischen<br />

Fahrstuhlwerks besetzt in<br />

a fábrica de nada die Fabrik und führt<br />

sie in Freestyle-Selbstverwaltung weiter,<br />

nachdem sich die Besitzer mit der<br />

Betriebskasse ins Ausland abgesetzt<br />

haben – und stößt auf die intrinsischen<br />

Widersprüche des Widerstands, die den<br />

Film schließlich in eine Art groteskes<br />

Musical kippen lassen. In santa y<br />

andrés versteckt ein politisch unbequemer<br />

und homosexueller Schriftsteller,<br />

wohnhaft in Fidel Castros Cuba,<br />

das Manuskript seines neuen Romans in<br />

der Schüssel seiner Latrine – um es vor<br />

dem prügelnden und eierwerfenden<br />

Mob zu retten, den die Behörden zu seiner<br />

Erniedrigung vor die Haustür geschickt<br />

haben. Eine bislang im kubanischen<br />

Kino komplett tabuisierte<br />

Realität, die auch umgehend zum Verbot<br />

des Films führte. In era o hotel<br />

cambridge zelebriert eine Hausbesetzergemeinschaft<br />

in São Paulo, bestehend<br />

aus brasilianischen Obdachlosen und<br />

Flüchtlingen aus den Kriegen im Nahen<br />

Osten, ihren Kampf um das Bleiberecht<br />

wie eine künstlerische Suche nach neuen<br />

Überlebenswegen – rebellische<br />

Ideen, die auch im Munitions- und Tränengasgranatenhagel<br />

der Militärpolizei<br />

nicht auszutreiben sind.<br />

Wie reagiert der Film auf die Komplexität<br />

und Ungerechtigkeit, die ständigen<br />

Meinungsmanipulationen und<br />

Widersprüche in einer sich gleichzeitig<br />

globalisierenden und radikalisierenden<br />

Welt? Einer Welt, in der aber auch immer<br />

wieder soziale Bewegungen entstehen,<br />

die den politischen Aktivismus auf<br />

eine neue theoretische Basis stellen<br />

und innovative Formen des Widerstands<br />

etablieren? Nun: Der Film reagiert nicht<br />

mehr mit einem impressionistischen<br />

Rückzug ins Private, in Seelenlandschaften<br />

eines fragmentierten Individuums,<br />

das isoliert und planlos durch eine urbanisiert-globale<br />

Welt irrt; vielmehr<br />

durch modellhafte, abgründige, dramatische<br />

Geschichten, durch welche die<br />

Mechanismen gesellschaftlicher oder<br />

moralischer Unterdrückung aufgedeckt<br />

und verhandelt werden. Bis vor kurzem<br />

war diese Form des politischen Kinos<br />

eher die Domäne einiger der letzten<br />

Mohikaner des Arbeiterkinos wie etwa<br />

Ken Loach. Und damit Schnee von gestern.<br />

Nach dem Motto: Papas Kino ist<br />

tot. Wobei gerade das Kino jener „alten<br />

68er“ mit diesem Anspruch antrat – zu<br />

sehen ist das in den Filmen von Reinhard<br />

Hauff, dem das diesjährige filmfest<br />

münchen eine Hommage widmet.<br />

Wie selten zuvor bietet das derzeitige<br />

Filmschaffen eine Vielfalt politischer<br />

Bruchlinien und neuer Klassenkämpfe:<br />

Porträt eines Augenblicks, in<br />

dem das Individuum sich der Notwendigkeit<br />

seines politischen Handelns bewusst<br />

wird, sei es in Schwellen-, sei es<br />

in den Postindustrieländern. Oder sei es<br />

in von agrarischen Stammesgemeinschaften<br />

geprägten Ländern wie Sambia,<br />

wo Debütregisseurin Rungano Nyoni<br />

mit i am not a witch den atemberaubenden<br />

Widerstand eines neunjährigen<br />

Mädchens ins Kameraauge nimmt. Innerhalb<br />

eines staatlich verwalteten Internierungslagers<br />

für Hexen kämpft das<br />

el amparo<br />

von Rober Calzadilla<br />

a fábrica de nada<br />

von Pedro Pinho<br />

Mädchen gegen die Drohung an, in eine<br />

Ziege verwandelt zu werden – und damit<br />

gegen einen ganzen Macht- und Repressionsapparat.<br />

Oder sei es in deutschen<br />

Kiez-Küchen und in WGs, die von<br />

der gentrifizierenden Entmietung bedroht<br />

sind. Dort – im Berliner Gesellschaftspanorama<br />

des Films der lange<br />

sommer der theorie – begeben sich<br />

drei Frauen aus einem zwar aufgeklärt<br />

linksliberalen, aber bislang gesellschaftlich<br />

weitgehend untätigen Bürgertum<br />

plötzlich auf die Suche nach neuen<br />

Wegen des Aktivismus und stellen sich<br />

Lenins Frage des „Was tun?“ neu.<br />

Also: Was tun? Rückkehr zu den<br />

Wurzeln des aktivistischen Films? Agit-<br />

Prop statt arty-farty? So naiv und einfallslos<br />

machen sich die Filmemacher<br />

von heute nicht ans Werk. Denn wie<br />

schon die hier angerissenen Beschreibungen<br />

zeigen, hat der politische<br />

Kampf sich künstlerisch die formalen<br />

Experimente der vorausgehenden, eher<br />

unpolitischen Generationen zu eigen<br />

gemacht, sie aber zugleich mit aktivistischer<br />

Sprengkraft aufgeladen. Wo alte<br />

Rezepte zur Revolution versagen oder<br />

längst diskreditiert sind, gilt es, neue<br />

Wege ins Unbekannte zu finden. Es ist<br />

die Stunde des kreativen Widerstands.<br />

Ein überraschendes und ermutigendes<br />

Phänomen dabei: Nirgends ist<br />

diese Neuerfindung des Kinos als Mittel<br />

des künstlerischen Widerstands so intensiv<br />

und vielfältig zu beobachten wie<br />

in jenen gebeutelten Ländern, die derzeit<br />

die schlimmsten Wirtschaftskrisen<br />

ihrer Geschichte durchmachen. Sie<br />

dürften eigentlich gar keine Mittel für<br />

die Produktion von Filmen haben – und<br />

erleben doch den vielleicht spannendsten<br />

Moment in der Geschichte ihres<br />

Autorenkinos. Allen voran Portugal<br />

(a fábrica de nada, são jorge und<br />

correspondências) und Venezuela<br />

(el amparo, la soledad, la familia), die<br />

in diesem Jahr mit insgesamt sechs Filmen<br />

stärker beim filmfest münchen<br />

präsent sind als je zuvor.<br />

KREATIVER WIDERSTAND<br />

Florian Borchmeyer<br />

91

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!