COMPACT Magazin 6-2017
Jagd auf Naidoo - Zensur in Deutschland
Jagd auf Naidoo - Zensur in Deutschland
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<strong>COMPACT</strong> Kolumnen<br />
Unsere Helden _ Hildegard von Bingen<br />
Hildegard von Bingen (1089–1179) ist bekannt<br />
als mittelalterliche Mystikerin – diese Bezeichnung<br />
wird ihrem Wirken aber nicht gerecht. Sie war eine<br />
der geachtetsten Persönlichkeiten ihrer Zeit und ist<br />
eine absolute Ausnahmeerscheinung des europäischen<br />
Mittelalters. Schon zu Lebzeiten wurde sie<br />
als Heilige verehrt, viele Menschen suchten sie<br />
auf und baten sie um Rat und Hilfe. Ihr umfangreiches<br />
Werk ist das einer Universalgelehrten, es zeugt<br />
von einer ganzheitlichen, umfassenden Schau der<br />
Schöpfung und des Menschen im Kosmos. Als Heilige,<br />
Ärztin, Dichterin, Komponistin, «Prophetin» und<br />
Leiterin eines Frauenkonvents erinnert sie uns an<br />
die heiligen Frauen und Seherinnen («Disen») aus<br />
der germanischen Zeit, von denen Tacitus und andere<br />
berichten. Häufig wird vergessen, dass germanische<br />
Traditionen und Auffassungen nicht einfach<br />
ausstarben, sondern noch Jahrhunderte nach der<br />
Christianisierung im Volk und in der Sprache weiterlebten<br />
und in das christliche Gottesverständnis<br />
der Deutschen hineinwirkten. Die Naturverbundenheit<br />
der St. Hildegard ist eine weitere Auffälligkeit,<br />
die eher an heidnische Traditionen erinnert und die<br />
dem alttestamentarischen Auftrag «Macht Euch die<br />
Erde untertan» eigentlich widerspricht: «Die Kräuter<br />
bieten einander den Duft ihrer Blüten an, ein<br />
Stein strahlt seinen Glanz auf den anderen. Alles,<br />
was lebt, hat einen Urtrieb nach liebender Umarmung.<br />
Auch steht die ganze Natur dem Menschen<br />
zu Diensten, und in diesem Liebesdienst legt sie<br />
ihm freudig ihre Güter ans Herz.» (Liber Vitae Meritorum)<br />
Immer wieder begegnen wir bei Hildegard<br />
dem Resonanz-Gedanken: Alles klingt und schwingt<br />
und ist miteinander verbunden, die ganze Schöpfung<br />
ist eine göttliche Symphonie. Unsere Seele ist<br />
das Klangbild der himmlischen Harmonie.<br />
heit folgte sie im Alter von 42 Jahren ihrem inneren<br />
Auftrag, ihre Stimme zu erheben und das erschaute<br />
Wissen aufzuschreiben. Da sie nun ihrem Gewissen<br />
gehorchte und sich nicht mehr vor ihrer Aufgabe<br />
drückte, verschwand auch die Krankheit. Hildegards<br />
psychosomatisches Verständnis von Krankheit und<br />
Gesundheit gründet auch in dieser Erfahrung.<br />
Hildegard von Bingen, hier auf<br />
einer Postkarte von 1910, wurde<br />
nach fast 350-jähriger Diskussion<br />
spätestens 1584 heiliggesprochen.<br />
Foto: picture-alliance / akg-images<br />
Hildegard war das zehnte Kind des rheinfränkischen<br />
Edelfreien Hildebert von Bermersheim-Alzey<br />
und seiner Frau Mechthild. Im Alter von acht Jahren<br />
wurde sie zur Erziehung in die Obhut ihrer Verwandten<br />
Jutta von Sponheim gegeben. Deren Klause<br />
befand sich auf dem Disibodenberg, einem ehemaligen<br />
germanischen Heiligtum. 1147/48 gründete<br />
Hildegard ihr eigenes Kloster auf dem Rupertsberg,<br />
dem sie bis zu ihrem Lebensende als Äbtissin vorstand.<br />
Schon als Kind sah sie viele Dinge klar und deutlich,<br />
was bei ihren Mitmenschen häufig Befremden<br />
auslöste. Anders als die typischen Mystikerinnen<br />
ihrer Zeit – etwa Elisabeth von Schönau oder Gertrud<br />
die Große – hatte sie ihre Visionen aber nicht in<br />
einem Zustand der ekstatischen Entrücktheit, sondern<br />
bei vollem Bewusstsein. Nach schwerer Krank-<br />
Als Äbtissin führte Hildegard Korrespondenz mit<br />
den bedeutendsten Persönlichkeiten ihrer Zeit, darunter<br />
waren die Päpste Eugen III., Anastasius IV.,<br />
Hadrian IV. und Alexander III., die Erzbischöfe von<br />
Köln, Salzburg, Trier und Mainz sowie Kaiser Barbarossa,<br />
König Heinrich II. von England, König Konrad<br />
III., die Gräfin von Sulzbach und Kaiserin von<br />
Byzanz sowie zahlreiche andere Herzöge, Äbte und<br />
Priester. Der Benediktinermönch Volmar stand ihr<br />
bei der Abfassung ihrer Briefe und Schriften zur Seite,<br />
da sie selbst nicht perfekt Latein konnte. Sie sah<br />
sich als Botschafterin Gottes und wurde auch so<br />
wahrgenommen – man nannte sie «die rheinische<br />
Sybille». Auch ihre Lieder vermitteln ein visionäres<br />
Gottesverständnis.<br />
Die illuminierte Originalhandschrift ihres bedeutenden<br />
Werkes Scivias ist seit 1945 verschollen.<br />
Alles klingt und<br />
schwingt und ist<br />
miteinander verbunden,<br />
und die<br />
ganze Schöpfung<br />
ist eine göttliche<br />
Symphonie.<br />
_ Pia Lobmeyer schrieb in<br />
<strong>COMPACT</strong> 11/2016 über Adelheid<br />
von Burgund.<br />
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