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COMPACT Spezial 14 "Verrat am Wähler"

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<strong>COMPACT</strong><strong>Spezial</strong><br />

_ Die Grünen<br />

Dieses Selbstverständnis geriet nach der Bundestagswahl<br />

im März 1983 ins Wanken. Die neue Kraft<br />

war von 1,5 Prozent drei Jahre zuvor auf 5,6 Prozent<br />

geklettert. Daraus entwickelte der SPD-Vorsitzende<br />

Willy Brandt eine Taktik, wie man den<br />

gerade ins Bundeskanzler<strong>am</strong>t eingezogenen Helmut<br />

Kohl wieder loswerden könne: Es gebe nämlich<br />

eine Mehrheit «diesseits der Union». Tatsächlich<br />

verfügten SPD, Grüne und FDP im Hohen Haus<br />

über mehr Mandate als CDU und CSU. Der Pfälzer<br />

konnte sich nur halten, weil er auch von den Liberalen<br />

unterstützt wurde – und solange Rot und Grün<br />

nicht zus<strong>am</strong>menk<strong>am</strong>en. Brandts Formulierung provozierte<br />

einen Linienstreit bei den Grünen. In einem<br />

jahrelangen Machtk<strong>am</strong>pf, der schließlich erst 1988<br />

durch die Abwahl der linksradikalen («fund<strong>am</strong>entalistischen»)<br />

Vorstandssprecherin Jutta Ditfurth<br />

entschieden wurde, setzten sich die sogenannten<br />

Realos durch. Sie wurden angeführt von Joschka Fischer,<br />

der mit 200 ehemaligen Linksradikalen den<br />

hessischen Landesverband unterwandert hatte. Der<br />

arbeitsscheue Nichtstuer, der «außer strategischem<br />

Bücherklau nichts gelernt hatte» (so sein Biograph<br />

Christian Schmidt), sah in den Grünen vor allem ein<br />

Vehikel für seine Karriere und war deswegen bereit,<br />

für eine Machtbeteiligung alle Prinzipien aufzugeben.<br />

So geschah es auch in der ersten rot-grünen<br />

Landesregierung ab 1985 in Hessen: Politisch setzte<br />

die Fischer-Gang nichts durch, aber alle k<strong>am</strong>en zu<br />

gutdotierten Jobs. Dass die Äppelwoi-Grünen beim<br />

nächsten Urnengang 1987 ihr Ergebnis sogar noch<br />

steigern konnten (von 5,9 auf 9,4 Prozent), nutzten<br />

die Glücksritter als Argument für ihre Linie. Tatsächlich<br />

dürfte eher die Tschernobyl-Katastrophe 1986<br />

den Anstieg verursacht haben.<br />

Die Joschka-Jahre<br />

wohlgenährte Bonvivant 1998 sein Gewicht um fast<br />

die Hälfte herunter. Statt Zechtouren verschrieb er<br />

sich Marathonläufe, statt Rotwein gab es nur noch<br />

Mineralwasser. Binnen weniger Wochen schrumpelte<br />

das feiste Metzgergesicht ein, die Fettpolster<br />

verschwanden, und mit runzelig zus<strong>am</strong>mengezogener<br />

Haut glich er bald seiner eigenen Oma. Die<br />

Radikalkur hielt er immerhin ein paar Jahre durch;<br />

aber schon in seiner zweiten Amtszeit als Außenminister<br />

legte Fischer wieder zu. Heute nähert sich<br />

sein Leibesumfang dem seines ewigen Kontrahenten<br />

Helmut Kohl.<br />

Mit runzelig zus<strong>am</strong>mengezogener<br />

Haut glich Fischer bald seiner<br />

eigenen Oma.<br />

Fischer avancierte in den 1990er Jahren zum<br />

ungekrönten König der Partei, die einst die Basisdemokratie<br />

zu ihren Gründungsprinzipien erklärt hatte.<br />

Ohne je das Amt des Vorsitzenden auch nur anzustreben,<br />

setzte er die entscheidenden Impulse<br />

über seine Hausmacht in Hessen, vor allem aber als<br />

Fraktionschef im Bundestag. Praktisch im Alleingang<br />

schaffte er es, die Außenpolitik der Bundesrepublik<br />

auf den Kopf zu stellen.<br />

Im Bundestag, wo die Partei seit 1994 wieder<br />

vertreten war, trieb der eloquente Redner die<br />

schwarz-gelbe Regierung und auch die Sozialdemokraten<br />

vor sich her. War er zunächst mit letzteren<br />

im Bunde, um Auslandseinsätze der Bundeswehr<br />

vor allem in den postjugoslawischen Nachfolgekrie-<br />

Aufstieg der Grünen<br />

1980 Gründung und erster Antritt<br />

zu den Bundestagswahlen<br />

(1,5 Prozent).<br />

1983 Einzug in den Bundestag<br />

(5,6 Prozent).<br />

1985 Erste Beteiligung an einer<br />

Landesregierung (Hessen;<br />

Joschka Fischer Umweltminister).<br />

1988 Sturz der Fund<strong>am</strong>entalisten:<br />

Bundesvorstand um Jutta<br />

Ditfurth muss zurücktreten.<br />

1990 Debakel bei den Bundestagswahlen:<br />

Nur im Osten überspringt<br />

Bündnis90 die Fünf-Prozent-Hürde,<br />

die Grünen in der<br />

BRD erreichen 4,8 Prozent.<br />

1993 Verschmelzung mit Bündnis90.<br />

1995 Srebrenica: Grüne Wende<br />

zur Kriegspolitik.<br />

1984 zogen die ersten Grünen ins<br />

EG-Parl<strong>am</strong>ent ein. Foto: Bundesarchiv,<br />

Plak 104-PM0254-009, Grafik<br />

Werkstatt Bielefeld, 1979<br />

Die Nachwelt wird Joschka Fischer in schillernder<br />

Erinnerung behalten. Politisch war er ein Ch<strong>am</strong>äleon<br />

und wechselte seine Meinung nach den Moden<br />

der Zeit. Konstant blieben die Konturen seines<br />

Auftretens: ein proletarischer Macho mit Charme,<br />

bullig und einschüchternd gegenüber Andersdenkenden;<br />

ein begnadeter Redner im Stile der CSU-Legende<br />

Franz Josef Strauß; ein Political Animal mit<br />

dem Riecher für Themen und Stimmungen.<br />

In seiner Autobiografie Mein langer Lauf zu mir<br />

selbst bekannte er: «Fast meine ganze Energie konzentrierte<br />

ich auf den politischen Erfolg und ordnete<br />

dem Ziel alles andere unter, auch und gerade<br />

mich selbst.» In diesem Zus<strong>am</strong>menhang pries er<br />

seine «radikale Lebensänderung durch Auswechseln<br />

und völliges Umschreiben meiner persönlichen<br />

Progr<strong>am</strong>mdiskette». Zeitweise hat Fischer nicht nur<br />

seine Software ausgewechselt, sondern sich auch<br />

an seiner Hardware versucht, seinem Körper. In Vorbereitung<br />

auf sein erstes Minister<strong>am</strong>t prügelte der<br />

Mehr Mitglieder, weniger Wähler<br />

Die Grünen mauserten sich in den letzten Jahren zur viertgrößten Partei<br />

nach SPD, CDU und CSU, bleiben bei Wahlen aber meist einstellig.<br />

70.000<br />

60.000<br />

50.000<br />

40.000<br />

30.000<br />

20.000<br />

10.000<br />

Mitgliederzahlen<br />

Bundestagswahlergebnisse und * Umfragestand<br />

1,5<br />

5,6<br />

8,3<br />

4,8<br />

1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2009 2013<br />

Quelle: wahlrecht.de, statista, wikipedia<br />

7,3<br />

6,7<br />

8,6<br />

10,7<br />

8,4<br />

7,0*<br />

2017<br />

Grafik: <strong>COMPACT</strong><br />

57

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