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AltaVista im September 2017

Altavista ist das neue Premium-Fachmagazin für Fachleute im Gesundheitswesen. In dieser Ausgabe: Cluster-Kopfschmerz "Wie ein glühender Eispickel im Hirn". Ausserdem: Das grosse Interview mit Dr. Christoph Held zu seinem neuen Buch "Bewohner". Dazu News aus Wissenschaft, Forschung und Pflegealltag.

Altavista ist das neue Premium-Fachmagazin für Fachleute im Gesundheitswesen. In dieser Ausgabe: Cluster-Kopfschmerz "Wie ein glühender Eispickel im Hirn". Ausserdem: Das grosse Interview mit Dr. Christoph Held zu seinem neuen Buch "Bewohner". Dazu News aus Wissenschaft, Forschung und Pflegealltag.

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Ausgabe 04 | <strong>September</strong> <strong>2017</strong> | CHF 6.80<br />

Wie ein Messer<br />

<strong>im</strong> Auge:<br />

Cluster-Kopfschmerz<br />

Krebs<br />

Hilft Methadon?<br />

Psychologie<br />

Das perfekte Lachen<br />

Kommunikation<br />

Der grosse Konfliktherd


ENTWICKELT IN<br />

ENTWICKELT IN<br />

PRO D UZIER T IN<br />

Impressum Editorial Inhalt<br />

PRO D UZIER T IN<br />

Chefredaktion<br />

Peter Empl<br />

4 TITELTHEMA<br />

CLUSTER-KOPFSCHMERZ<br />

ENTWICKELT IN<br />

Herausgeber<br />

Nae<strong>im</strong> Said<br />

8 PSYCHOLOGIE<br />

DAS PERFEKTE LACHEN<br />

PRO D UZIER T IN<br />

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Absorbieren.<br />

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[1] [1] Humbert P, Faivre P, Faivre B, Véran B, Véran Y et al. Y On et al. behalf On of behalf the CLEANSITE of the CLEANSITE study group. study Protease-modulating group. Protease-modulating polyacrylate-based hydrogel polyacrylate-based hydrogel<br />

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[2] Kaspar D D (2011), (2011), Therapeutic Therapeutic effectiveness, effectiveness, compatibility compatibility and handling and in the handling daily routine the of daily hospitals routine or physicians’ of hospitals practices. or physicians’ practices.<br />

HARTMANN Data on file: Hydro-Responsive Wound Dressing (HRWD) and AquaClear Technology are trademarks of HARTMANN.<br />

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[1] Humbert P, Faivre B, Véran Y et al. On behalf of the CLEANSITE study group. Protease-modulating polyacrylate-based hydrogel<br />

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Autoren dieser Ausgabe<br />

Yvonne Beck<br />

Peter Empl<br />

Ulrich Erlinger<br />

Doreen Fiedler<br />

Ingo Haase<br />

Christoph Held<br />

Stephan Inderbizin<br />

Verena Malz<br />

Maren Nielsen<br />

Stéphane Praz<br />

Art Direction<br />

Pomcanys Marketing AG,<br />

pomcanys.ch<br />

Korrektorat<br />

Birgit Kawohl<br />

Agenturen<br />

DPA, SDA, Keystone, Fotolia,<br />

Shutterstock.<br />

Alle Texte und alle Bilder mit<br />

Genehmigung der Urheber.<br />

Web<br />

www.altavistamagazin.ch<br />

redaktion@altavistamagazin.ch<br />

Administration & Anzeigen<br />

Telefon 044 709 09 06<br />

anzeigen@altavistamagazin.ch<br />

Nächste Ausgabe<br />

7. Oktober <strong>2017</strong><br />

Druckauflage<br />

25 000 Ex.<br />

<strong>AltaVista</strong> ist in der Schweiz als<br />

Marke eingetragen.<br />

ISSN:<br />

2504-3358<br />

www.altavistamagazin.ch<br />

Nae<strong>im</strong> Said<br />

Herausgeber<br />

Peter Empl<br />

Chefredaktor<br />

Für viele ist der nahe Herbst die<br />

schönste Jahreszeit: Die Hitze<br />

weicht einer angenehmen Wärme,<br />

die Sonne blendet nicht<br />

mehr, sondern erhellt angenehm das<br />

bunte Blätterwerk. Für manche aber<br />

ist der Herbst eine Jahreszeit, die<br />

gefürchtet wird: Die Cluster-Kopfschmerz-Attacken<br />

treten nämlich besonders<br />

gehäuft <strong>im</strong> Herbst auf.<br />

Cluster – das ist für die Betroffenen<br />

oft kaum auszuhalten; die Schmerzen<br />

setzen rasch und ohne Vorwarnung<br />

ein und erreichen innert 20 Minuten<br />

ihre max<strong>im</strong>ale Intensität. Manche Betroffenen<br />

halten dies langfristig kaum<br />

aus, die Suizidrate aufgrund der<br />

Schmerzen ist bei Cluster-Patienten<br />

hoch. Aber es gibt Hoffnung: verschiedene<br />

Methoden können die Attacken<br />

lindern. Unsere Titelgeschichte<br />

beleuchtet das Thema «Cluster» ausführlich,<br />

aber natürlich haben wir<br />

auch in dieser Ausgabe weitere spannende<br />

Geschichten und Themen: Von<br />

Fachleuten – für Fachleute.<br />

Wir wünschen angenehme Lektüre.<br />

Herzlich<br />

Nae<strong>im</strong> Said Herausgeber&<br />

Peter Empl Chefredaktor<br />

9 KOLUMNE<br />

DR. CHRISTOPH HELD<br />

10 ASPIRIN<br />

120 JAHRE FERTIGARZNEI<br />

12 WISSEN<br />

GENFORSCHUNG<br />

13 HEPATITIS<br />

WHO WILL<br />

MASSNAHMEN EINLEITEN<br />

14 FOKUS<br />

GEMEINSAM ZUM WOHLE<br />

DES PATIENTEN<br />

17 INNOVATION<br />

ALTERNATIVE<br />

ZU TREPPENLIFTEN<br />

18 FOKUS<br />

SEXUALITÄT IM ALTER<br />

21 PSYCHOLOGIE<br />

NEUE VERSTÄNDNISMODELLE<br />

22 NEWS<br />

GESEHEN & GEHÖRT<br />

24 DEMENZ<br />

INTERVIEW<br />

26 RATGEBER<br />

DEPRESSION<br />

29 MEDIZIN<br />

30 INFO<br />

SAUERSTOFFTHERAPIE<br />

NATIONAL & INTERNATIONAL<br />

32 ANALYSE<br />

METHADON GEGEN KREBS<br />

INHALT SEPTEMBER <strong>2017</strong> ALTA VISTA 3


Ich hatte einen glühenden<br />

Eispickel <strong>im</strong> Hirn<br />

Bei Cluster-Kopfweh sind Arzt und Patient ratlos. Nur eins ist sicher: Die Schmerzen<br />

sind für die Betroffenen beinahe unerträglich. Die Medizin forscht seit Jahren, um<br />

Patienten Linderung zu verschaffen. Bewährt hat sich ein guter (und günstiger) alter<br />

Bekannter: Reiner Sauerstoff.<br />

PETER EMPL<br />

Die Kopfweh-Attacke von<br />

Stephan M. traf ihn aus heiterem<br />

H<strong>im</strong>mel. Er erinnert sich:<br />

«Ich war <strong>im</strong> Hauptbahnhof Zürich<br />

auf dem Weg zur Arbeit, so<br />

gegen 08.30 Uhr, und hatte plötzlich einen<br />

Schmerz auf der linken Kopfseite, mein<br />

linkes Auge begann zu tränen und ich dachte:<br />

«Jetzt sterbe ich, da ist irgendwo in meinem<br />

Kopf etwas kaputt.» Also wankte ich<br />

be<strong>im</strong> Bahnhof in eine Apotheke und wurde<br />

mit Aspirin wieder weggeschickt. Das half<br />

natürlich gar nicht und als auch nach weiteren<br />

zehn Minuten der Schmerz nicht weniger<br />

wurde, meldete ich mich bei der Permanence<br />

Hauptbahnhof an – mit einer<br />

Wartezeit von weit über zwei Stunden. In<br />

dieser Zeit musste ich mehrmals das Wartez<strong>im</strong>mer<br />

verlassen, bewegte mich hin und<br />

her und stöhnte laut. Das half mir, ein<br />

wenig besser mit dem unsäglichen Schmerz<br />

<strong>im</strong> Kopf fertig zu werden. Ich ging davon<br />

aus, dass das Aspirin vielleicht doch geholfen<br />

hatte und schämte mich für mein<br />

Theater – schliesslich war es ja nur «Kopfschmerz».<br />

Wie gefehlt… Gegen Mittag bereits<br />

dann der nächste Anfall – ich musste auch<br />

wesentlich mitgenommener ausgesehen<br />

haben als bei der Attacke zuvor und daher<br />

entfiel die Wartezeit be<strong>im</strong> erneuten Auftritt<br />

in der Permanence. Be<strong>im</strong> Arzt sollte ich<br />

denn die Schmerzen beschreiben: Pochend,<br />

nur an einer Stelle, dafür mit enormer<br />

Wucht und ein tränendnes Auge, welches<br />

ich nicht kontrollieren konnte. Der Arzt<br />

sprach von einem glühenden Eispickel. «Ist<br />

es ungefähr so, wie als ob ich mit einem<br />

spitzen Gegenstand an Ihrem Gehirn herumhantieren<br />

würde?» Mangels Erfahrung<br />

mit glühenden Gegenständen in meinem<br />

Kopf musste ich passen. «Aber so in der<br />

Art würde es wohl schmerzen, wenn das<br />

effektiv passieren würde», erklärte Stephan<br />

M. <strong>im</strong> Gespräch mit <strong>AltaVista</strong>. «Vor Ort<br />

bekam ich dann eine Art Nasenspray, welches<br />

innert Senkungen Linderung versprach.<br />

Und so war es auch – die unsäglichen<br />

Schmerzen waren weg», erklärt<br />

Stephan M. weiter. Der Protagonist dieser<br />

Geschichte wirkt jung, gesund und scheint<br />

eine Menge Sport zu machen. Nichts da<br />

von einer wehleidigen M<strong>im</strong>ose, die ab und<br />

zu «Männerschnupfen» hat.<br />

Cluster-Schmerzen fast<br />

nur bei Männern<br />

Auf der Webseite der Kopfwehgesellschaft<br />

wird von den Autoren (u. a. M. Mumenthaler)<br />

die eben erzählte Geschichte etwas<br />

detaillierter beschrieben: «Der Cluster-<br />

Kopfschmerz ist zehnmal seltener als die<br />

Migräne. Er kommt häufiger bei Männern<br />

als bei Frauen vor und trifft insbesondere<br />

Raucher. Der Cluster-Kopfschmerz setzt<br />

oft erst <strong>im</strong> mittleren oder höheren Lebensalter<br />

ein. Nicht selten finden sich in der<br />

Familie andere Kopfschmerz-Geplagte,<br />

wobei etwa 7% typische Cluster-Fälle ausmachen.»<br />

Vergleicht man den Fall von<br />

Stephan M. mit dem, was bisher allgemein<br />

bekannt ist, st<strong>im</strong>mten auch hier Angaben<br />

von Peter: Die Anfälle haben typische Charakteristika:<br />

Die Schmerz-Attacken beginnen<br />

<strong>im</strong> Schläfen- und Augenbereich und<br />

erfassen somit Teile des Gesichtes und des<br />

Kopfes. Sie sind stets und ausnahmslos auf<br />

der gleichen Seite lokalisiert. Die Schmerzen<br />

setzen rasch ein und erreichen innert 20<br />

Minuten ihre max<strong>im</strong>ale Intensität. Nach<br />

1–2 Stunden klingen sie in der Regel vollständig<br />

ab. Nicht selten machen sich die<br />

Schmerzen zur gleichen Tages- und besonders<br />

oft zur gleichen Nachtzeit bemerkbar.<br />

Die Anfälle treten häufig mehrmals am Tag<br />

wiederholt auf. Während des Anfalles ist<br />

der Patient rastlos und tigert oft <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer<br />

herum.<br />

Meistens treten die Anfälle während<br />

Tagen bis Wochen gehäuft auf, um dann<br />

während Monaten vollständig auszubleiben.<br />

Allerdings existieren auch chronische<br />

Fälle mit über Monate und Jahre andauernden<br />

Schmerz-Attacken. Übergangsformen<br />

zur Migräne kommen ebenfalls vor.<br />

Das Aussehen der erkrankten Person<br />

während eines Anfalles ist charakteristisch:<br />

Das betroffene Auge ist gerötet und tränt,<br />

die Nase läuft, der Lidspalt und die Pupille<br />

werden enger.<br />

Warum kommt es zu solchen<br />

Schmerzen?<br />

Clusterfachspezialist Dr. W. Haube fasst<br />

auf der Webseite Clusterschmerz.de wie<br />

folgt zusammen: «Die Ursachen von Cluster-Kopfschmerzen<br />

sind nicht bekannt. Aus<br />

epidemiologischen Studien geht eine ➜<br />

TITELTHEMA CLUSTER-KOPFSCHMERZ SEPTEMBER <strong>2017</strong> ALTA VISTA 5


gewisse genetische Determinierung hervor.<br />

Verwandte ersten Grades haben ein etwa<br />

achtfach höheres Risiko an Cluster-<br />

Kopfschmerzen zu erkranken als der Bevölkerungsdurchschnitt.<br />

Eine wesentliche<br />

Rolle in der Auslösung einzelner Cluster-<br />

Attacken spielen best<strong>im</strong>mte Kerngebiete<br />

des Hypothalamus, ein hochspezialisiertes<br />

Areal <strong>im</strong> Zwischenhirn. Daraus erklärt sich<br />

u. a. die saisonale Abhängigkeit wie gehäuftes<br />

Auftreten von Cluster-Phasen in<br />

den Übergangsjahreszeiten in Abhängigkeit<br />

vom Sonnenstand sowie die Synchronisation<br />

der Attacken mit dem zirkadianen<br />

Rhythmus (z. B. Erwachen mit Cluster-Kopfschmerzen,<br />

typischerweise 60–90<br />

Minuten nach dem Einschlafen). In der<br />

Regel liegen bei Cluster- Kopfschmerzen<br />

keine nachweisbaren strukturellen Veränderungen<br />

des Gehirns vor. In Einzelfällen<br />

gibt es sekundäre Cluster-Kopfschmerzformen,<br />

bei denen insbesondere bei jungen<br />

Frauen ein Tumor der Hypophyse dargestellt<br />

werden kann.»<br />

Übrigens sind diese Art von Schmerzen<br />

keine neuere Erscheinung: Der niederländische<br />

Arzt Nicolaes Tulp beschrieb in<br />

den 1641 erstmals veröffentlichten «Observationes<br />

Medicae» zwei verschiedene<br />

Arten von wiederkehrenden Kopfschmerzen,<br />

die Migräne und aufgrund der expliziten<br />

Erwähnung der Jahreszeit vermutlich<br />

den Cluster-Kopfschmerz:<br />

«In the beginning of the summer season,<br />

[he] was afflicted with a very severe<br />

headache, occurring and disappearing<br />

daily on fixed hours, with such intensity<br />

that he often assured me that he could not<br />

bear the pain anymore or he would succumb<br />

shortly. For rarely it lasted longer<br />

than two hours. And the rest of the day<br />

there was no fever, not indisposition of the<br />

urine, no any infirmity of the pulse. But this<br />

recurring pain lasted until the fourteenth<br />

day […] He asked nature for help, […] and<br />

lost a great amount of fluid from the nose<br />

[and] was relieved in a short period of t<strong>im</strong>e<br />

[…].»<br />

Reiner Stauerstoff mit hoher Durchflussrate kann die Schmerzattacken coupieren.<br />

Nichts hilft wirklich<br />

Die Therapie des einzelnen Anfalles besteht<br />

in der subkutanen Injektion von 6 mg<br />

Sumatriptan, Triptan-Anwendung von Nasenspray<br />

(Zolmitriptan) oder durch Einatmen<br />

von 12–15 Liter reinem Sauerstoff pro<br />

Minute. Die Anfallshäufigkeit kann mit<br />

Verapamil oder mit Prednison reduziert<br />

werden. In therapieresistenten Ausnahmefällen<br />

stehen verschiedene neurochirurgische<br />

Behandlungsansätze zur Verfügung,<br />

die in kleinen Fallserien eine schmerzlindernde<br />

Wirkung gezeigt haben. Bei den<br />

chronischen Formen wird Lithium angewendet.<br />

(Zusammengefasst aus den Arbeiten<br />

von C. Dozier, A. Kleinschmidt, A. Gantenbein,<br />

Juli 2015). In unserem Fall war für<br />

Stephan M. die Sauerstoffbehandlung sein<br />

Mittel der Wahl. Allerdings schränkte ihn<br />

diese Art der Therapie massiv ein: «Da ich<br />

projektbezogen arbeite, gelang es mir, mir<br />

eine Sauerstoffflasche zu Hause aufzustellen,<br />

in meinem Home- Office. Man muss<br />

sich das so vorstellen: Vor mir der Computer,<br />

hinter mir <strong>im</strong>mer griffbereit die Flasche.<br />

Denn bei mir hat sich gezeigt, dass ich sofort<br />

be<strong>im</strong> allerersten Anzeichen mit dem<br />

Einatmen des Sauerstoffes beginnen muss.<br />

Auch dann war ein Anfall unvermeidlich,<br />

aber niemals derart schmerzhaft wie ohne<br />

Sauerstoff. Ausserdem wurde der ‹Hauptschmerz›»,<br />

so Stephan M. weiter, «definitiv<br />

abgeschwächt. Ich hatte bei den ersten Anfällen<br />

Todesangst, durch den Sauerstoff fällt<br />

die Hilflosigkeit weg. Ich kann etwas tun,<br />

ich habe die Krankheit so wenigstens aktiv<br />

teilweise unter Kontrolle. Die schwei z-<br />

erische Kopfwehgesellschaft gibt denn auch<br />

auf der Website unumwunden zu: «Die<br />

Optionen zur Akutbehandlung von<br />

Cluster-Kopfschmerzen sind nicht sehr<br />

breit. Gut belegt ist die Wirksamkeit von<br />

rasch wirkenden Triptanen (s.c., intrana sal),<br />

aber diese sind nicht <strong>im</strong>mer anwendbar<br />

(Kontraindikationen, max<strong>im</strong>ale Tagesdosis<br />

gem. Kompendium). Die Verträglichkeit<br />

und Wirksamkeit der Inhalation von<br />

100%em Sauerstoff über eine Gesichtsmaske<br />

(Non-Rebreather-Maske) mit 10–12 l/<br />

min. über 15–20 Minuten sind belegt.<br />

Wie eine Umfrage unter den Mitgliedern<br />

der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft<br />

ergeben hat, ist die Therapie mit<br />

Sauerstoff relativ weit verbreitet, wegen<br />

der fehlenden Zulassung (Indikation Cluster-Kopfschmerz<br />

in der MiGeL nicht<br />

aufgeführt) jedoch nicht <strong>im</strong>mer leicht umsetzbar.<br />

Bei der hohen Kosteneffizienz (gegenüber<br />

Triptanen) sowie der guten und<br />

schnellen Wirksamkeit bei knapp 80% der<br />

Attacken empfiehlt die Schweizerische<br />

Kopfwehgesellschaft nach wie vor diese an<br />

sich «natürliche» Behandlung vermehrt in<br />

Betracht zu ziehen.<br />

Im Fall von Stephan M. treten die<br />

Attacken nicht sehr unregelmässig auf,<br />

sondern meist während eines Monats, fast<br />

<strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Frühling oder Herbst und auch<br />

nicht jedes Jahr. «Derzeit ist es so, dass ich<br />

meine letzten Episoden <strong>im</strong> Herbst 2015<br />

hatte, seither blieb ich davon verschont. Da ich jetzt aber auch<br />

weiss, dass es Lösungen gibt und ich mittlerweile auch die <strong>im</strong>mer<br />

etwas komplizierte Beschaffung routiniert habe (ich muss dem Arzt<br />

sagen, was ich habe, ihm zeigen, wo er die Verordnung herbekommt<br />

usw. usw.) habe ich gelernt damit gelassener zu leben. Ich<br />

weiss, dass es wiederkommen kann, ich weiss aber nicht wann. Ich<br />

habe lediglich Panik davor, dass so eine Attackenserie plötzlich in<br />

den Ferien auftritt. Für diesen Fall habe ich aber <strong>im</strong>mer einige<br />

Spritzen mit Sumaptipan dabei, die helfen innert Sekunden und<br />

würden mir <strong>im</strong> Fall der Fälle etwas Zeit geben, mir Sauerstoff zu<br />

besorgen. Natürlich ist man besonders <strong>im</strong> Bereich der Prophylaxe<br />

weiter als vor wenigen Jahren. Aktuell sind dies die zugelassenen<br />

Medikamente:<br />

• Verapamil 3–4 x 80; steigern bis 480 mg/d, ggf. weiter steigern<br />

(vorher EKG nötig),<br />

• Kortikoide (Prednisolon) 100–250 mg initial für 2–5 Tage, dann<br />

individuell abdosieren,<br />

• Lithium 600–1500 mg/d (Serumspiegel 0,6–0,8 mml/l),<br />

• Topiramat (100–200 mg/d) (Ý), in Einzelfällen sind höhere<br />

Dosierungen nötig,<br />

• Methysergid bis zu 12 mg/d (Medikation bis max. 6 Monate<br />

Dauer).<br />

«Für mich kommt das aber noch nicht in Frage, denn dafür habe<br />

ich einfach zu selten solche Schübe», erklärt Stephan M. «Ich habe<br />

auch schon gehört, dass bei schweren Fällen sogar operative Eingriffe<br />

in Frage kommen. Und ich kann verstehen, dass manche Patienten<br />

wirklich alles unternehmen, um die schl<strong>im</strong>msten Schmerzen,<br />

die ich kenne, loszuwerden. Ich kann einfach dankbar sein, dass es<br />

bei mir nicht schl<strong>im</strong>mer wird. Früher, so liest man in einschlägigen<br />

Computerforen und Selbsthilfegruppen, gab es Leute, die sich das<br />

Leben genommen haben, weil sie die unsäglichen Schmerzen einfach<br />

nicht mehr ausgehalten haben. Es heisst ja nicht umsonst, dass<br />

Cluster-Kopfschmerz ein ‹Selbstmordkopfweh› sei.» Was bei<br />

Stephan M. übrigens nach wie vor unklar ist, ist, was bei ihm die<br />

Attacken triggert, also auslöst. Manche sprechen davon, dass das<br />

Cola oder Rauchen sein kann, er selbst tippt eher auf Hormone wie<br />

etwa Melatonin, welches unter anderem den Tages- und Nachtrhythmus<br />

reguliert. Das würde auch erklären, warum er in gewinnen Jahreszeiten<br />

(Tag-Nachtgleiche usw.) empfindlicher reagiert.<br />

HILFE FÜR BETROFFENE<br />

https://www.beobachter.ch/gesundheit/krankheit/<br />

cluster-kopfschmerz<br />

http://www.headache.ch/Clusterkopfschmerzen<br />

http://www.dmkg.de/startseite.html (Deutsche<br />

Kopfschmerzgesellschaft mit laufend aktualisierten<br />

Studien rund um Cluster-Kopfschmerz).<br />

Die Lungenlinga Zürich ist behilflich, wenn es um die<br />

Verschreibung von hochmedizinischem Sauerstoff für<br />

Cluster-Patienten geht: www.lunge-zuerich.ch, dort am<br />

besten direkt das Problem «Cluster» ansprechen.<br />

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Quellen<br />

1. P. J. Koehler: Prevalence of headache in Tulp’s Observationes<br />

Medicae (1641) with a description of<br />

cluster headache. In: Cephalalgia. 13 (5), 1993, S.<br />

318–320.<br />

2. Cohen AS et al. High-flow oxygen for treatment of<br />

cluster headache: a randomized trial, JAMA 2009;<br />

Bennet MH et al. Normobaric and hyperbaric oxygen<br />

therapy for migraine and cluster headache,<br />

Cochrane Database Syst Rev 2008).<br />

Kontaktieren Sie unsere BDO-Experten für Stiftungen,<br />

Vereine, Genossenschaften und öffentliche Verwaltungen:<br />

Aarau Tel. 062 834 91 91<br />

Basel Tel. 061 317 37 77<br />

Bern Tel. 031 327 17 17<br />

Lausanne Tel. 021 310 23 23<br />

Luzern Tel. 041 368 12 12<br />

Solothurn Tel. 032 624 62 46<br />

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6 ALTA VISTA SEPTEMBER <strong>2017</strong> TITELTHEMA CLUSTER-KOPFSCHMERZ<br />

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Forscher best<strong>im</strong>men<br />

Merkmale für ein<br />

Cotard-Syndrom<br />

KOLUMNE<br />

gelungenes Lächeln<br />

Manch einer grinst von einem Ohr zum anderen, ein anderer verzieht nur leicht<br />

die Mundwinkel nach oben. Was besser ankommt? Kommt ganz darauf an, zeigt eine<br />

neue Studie.<br />

DOREEN FIEDLER<br />

Das eine perfekte Lächeln gibt es<br />

nicht. Ein angenehmes und<br />

echtes Lächeln kann auf verschiedene<br />

Weise erzeugt werden,<br />

berichten US-Forscher <strong>im</strong><br />

Fachblatt «PLoS One». Eine wesentliche<br />

Rolle spielten dabei die Stellung der Mundwinkel,<br />

die Breite des Lächelns und wie<br />

stark die Zähne zu sehen sind. Wichtig seien<br />

diese Erkenntnisse vor allem für Ärzte,<br />

die etwa über plastische Eingriffe versuchten,<br />

Menschen zu helfen, die wegen eines<br />

Unfalls oder einer schweren Krankheit<br />

nicht mehr lächeln können.<br />

Die Fähigkeit, emotionale Zustände<br />

über den Gesichtsausdruck zu vermitteln,<br />

sei ein fundamentaler Aspekt sozialer<br />

Interaktionen und nonverbaler Kommunikation,<br />

schreiben die Forscher um Nathaniel<br />

Helwig von der US-amerikanischen University<br />

of Minnesota. So schütze es etwa<br />

vor Gefahr, wenn man ein wütendes oder<br />

vertrauenswürdiges Gesicht richtig zu interpretieren<br />

verstehe. Lächeln spiele vor<br />

allem in zwischenmenschlichen Beziehungen<br />

eine zentrale Rolle. Studien hätten gezeigt,<br />

dass Menschen, die nicht richtig lächeln<br />

könnten, zu Depressionen neigten.<br />

3D-an<strong>im</strong>iertes Lächeln<br />

Um nun zu untersuchen, wie ein Lächeln<br />

von einem Gegenüber wahrgenommen<br />

wird, liessen die Forscher mehr als 800<br />

Personen 3D-An<strong>im</strong>ationen von lächelnden<br />

Gesichtern bewerten, also Gesichter, deren<br />

Mund sich dynamisch zu einem Lächeln<br />

verzog. Die Probanden sollten angeben,<br />

was das Gesicht ausdrückte und wie echt,<br />

gelungen und angenehm sie das Lächeln<br />

empfanden. Mit Hilfe der Antworten errechneten<br />

die Wissenschaftler, was ein gelungenes<br />

Lächeln ausmacht.<br />

Die Auswertung ergab, dass weniger<br />

in Bezug auf Lächeln häufiger mehr<br />

ist: Ein von einem Ohr zum anderen reichendes<br />

Lächeln wurde also nicht zwangsläufig<br />

als besonders angenehm und echt<br />

empfunden. Andersherum wirkte ein verhaltenes<br />

Lächeln nicht unbedingt falsch<br />

oder unangenehm.<br />

Asymmetrie wirkt gelungen<br />

Die Forscher stellten fest, dass insbesondere<br />

die Kombination von drei Merkmalen für<br />

ein gelungenes Lächeln st<strong>im</strong>mig sein muss:<br />

Wie stark die Mundwinkel nach oben gezogen<br />

sind, wie weit die Mundwinkel auseinanderliegen<br />

und vor allem wie stark die<br />

Zähne sichtbar sind. Bei einem eher schmalen<br />

Lächeln stören stark sichtbare Zähne.<br />

Bei einem breiteren Grinsen können sie es<br />

angenehmer machen. Erkenntnisse wie diese<br />

müssten in der plastischen Chirurgie<br />

künftig stärker berücksichtigt werden.<br />

Ausser diesen Faktoren bewerteten die<br />

Probanden ein leicht asymmetrisches Lächeln<br />

als besonders gelungen, also wenn<br />

sich linker und rechter Mundwinkel mit einer<br />

winzigen Verzögerung – weniger als<br />

125 Millisekunden – nach oben zogen.<br />

Gesundheitspolitiker und Kostenträger der Alters- und<br />

Pflegehe<strong>im</strong>e übersehen manchmal, dass hinter kurzen<br />

Pflegeeinträgen wie zum Beispiel «Bewohnerin weint<br />

und möchte auf der Stelle sterben» oder «Bewohnerin<br />

behauptet, tot zu sein» eine seelische Not auch der Pflegenden<br />

steht. Neben der schweren körperlichen Arbeit noch mit<br />

Wahn und Trauer konfrontiert zu werden, ist manchen Pflegenden<br />

einfach zu viel. Einige kündigen, andere stumpfen ab und nicht<br />

wenige greifen neben Alkohol und Zigaretten zu Beruhigungsund<br />

Schlafmitteln, um überhaupt noch am Arbeitsplatz erscheinen<br />

zu können.<br />

Nach der Spätschicht entspannen sich einige Pflegende in einer<br />

nahe gelegenen Bar. Schweigend betrachten sie die lärmenden Gäste<br />

des Lokals, deren Heiterkeit für sie manchmal noch schwerer<br />

verständlich ist als der Zustand ihrer demenzkranken Bewohner. In<br />

Gedanken vergleicht ein Pflegeassistent seinen Lohn mit demjenigen<br />

des Servierpersonals, welches das Trinkgeld der Gäste entgegennehmen<br />

darf.<br />

Der Pariser Neurologe und Psychiater Jules Cotard hat den<br />

Wahn, schon gestorben zu sein, 1880 zum ersten Mal bei einer jungen<br />

Patientin beschrieben. Bei einer betagten He<strong>im</strong>bewohnerin mit<br />

Cotardsyndrom versucht es eine Pflegende mit Humor. «Auch Tote<br />

müssen sich verpflegen», sagt sie, während sie einen Beistelltisch<br />

ans Bett rollt, auf dem ein Teller mit Fleischkäseröllchen steht.<br />

Nachdem die Bewohnerin diese Röllchen verzehrt und sogar von<br />

der Garnitur gekostet hat, sagt eine Mitbewohnerin: «Dafür, dass<br />

Sie tot sind, haben Sie ganz gut gegessen.» Doch die Bewohnerin<br />

erwidert leise, es sehe nur so aus, als ob sie gegessen und getrunken<br />

habe, ganz so, wie es nur aussehe, als ob sie noch am Leben sei.<br />

Der «toten» Bewohnerin, wie sich die Pflegenden spasseshalber<br />

ausdrücken, ist ein Dauerkatheter in die Blase eingelegt<br />

worden, weil sie ihr Bett nicht mehr verlassen will. Der Stuhl wird<br />

ihr mit einem Klistier herausgespült. Während eine Pflegende die<br />

beiden Hände der Bewohnerin fest hält, führt die andere Pflegende<br />

den Schlauch in den Darm ein. Verzweifelt - man hörte es bis ins<br />

Stationsz<strong>im</strong>mer - ruft die Bewohnerin: «Was macht ihr? Ich bin<br />

doch tot.»<br />

Das Cotardsyndrom ist bei Demenz gar nicht so selten. 1880<br />

gab es noch keine neuroleptischen Medikamente. Heute wird deren<br />

Anwendung in den Pflegehe<strong>im</strong>en stark kritisiert. Fachgesellschaften<br />

empfehlen, solche Bewohner vorwiegend mit Gesprächen und<br />

emotionaler Präsenz zu beruhigen. Am Abend versuchen das zwei<br />

Pflegende - bei zweiundzwanzig Bewohnern.<br />

Bei unserer Bewohnerin heisst es jeweils in den Austrittsberichten<br />

der psychiatrischen Klinik, das Cotardsyndrom sei in den<br />

Hintergrund getreten.<br />

DR. CHRISTOPH HELD<br />

Dr. Christoph Held, arbeitet als He<strong>im</strong> arzt und Gerontopsychiater<br />

be<strong>im</strong> Geriatrischen Dienst der Stadt Zürich sowie <strong>im</strong><br />

Alterszentrum Doldertal. Lehrbeauftragter der Universität<br />

Zürich sowie Dozent an den Fachhochschulen Bern, Careum<br />

Aarau und ZAH Winter thur sowie an der Universität Basel.<br />

Bücher «Das demenzgerechte He<strong>im</strong>» (Karger, 2003), «Wird<br />

heute ein guter Tag sein? Erzählungen» (Zytglogge, 2010),<br />

«Accueillir la demence» (Médecine et Hygiène, 2010), «Was<br />

ist gute Demenzpflege?» (Huber, 2013). Im Herbst <strong>2017</strong><br />

erscheint «Bewohner» Erzählungen Dörlemannverlag<br />

Dr. Christoph Held wird künftig an dieser Stelle regelmässig<br />

über seine Erfahrungen <strong>im</strong> Umgang mit Demenz berichten.<br />

Kontakt<br />

christoph.held@bluewin.ch<br />

8 ALTA VISTA SEPTEMBER <strong>2017</strong> PSYCHOLOGIE DAS PERFEKTE LACHEN<br />

KOLUMNE DR. CHRISTOPH HELD SEPTEMBER <strong>2017</strong> ALTA VISTA 9


Aspirin:<br />

Wie ein Medikament<br />

die Welt verändert(e)<br />

Es ist eines der populärsten Arzne<strong>im</strong>ittel überhaupt: Aspirin hat wie kaum ein<br />

anderes Medikament Medizingeschichte geschrieben. Die Karriere des Schmerzmittels<br />

begann vor nunmehr 120 Jahren ganz unspektakulär.<br />

DOREEN FIEDLER<br />

Am 10. August 1897 gelang es<br />

dem jungen Bayer-Chemiker<br />

Felix Hoffmann erstmals, die<br />

Acetylsalicylsäure in einer<br />

chemisch reinen und stabilen<br />

Form zu synthetisieren. Die Salicylsäure<br />

galt als altbekanntes Naturheilmittel, dessen<br />

schmerzstillende und fiebersenkende<br />

Wirkung seit über 2000 Jahren bekannt<br />

war. Schon Hippokrates soll seinen Patienten<br />

Aufgüsse aus der Rinde des Weidenbaums<br />

(lateinisch Salix) verordnet haben.<br />

Salicylate bekam auch Hoffmanns Vater<br />

gegen sein Rheuma. Die Behandlung<br />

hatte allerdings erhebliche Nebenwirkungen.<br />

Die Säure verursachte Brechreiz und<br />

verätzte die Schle<strong>im</strong>häute in Mund und<br />

Magen. Um das Leiden seines Vaters erträglicher<br />

zu machen, begann der Sohn zu<br />

exper<strong>im</strong>entieren.<br />

Haltbar und verträglicher<br />

In der Verbindung von Salicylsäure mit<br />

s<strong>im</strong>p ler Essigsäure fand Hoffmann die Formel<br />

für ein haltbares und verträgliches Medikament,<br />

das Schmerzen linderte, Fieber<br />

senkte und entzündungshemmende Eigenschaften<br />

hatte - ohne die unangenehmen Nebenwirkungen<br />

der Salicylsäure. Zwei Jahre<br />

später, 1899, brachten seine Arbeitgeber das<br />

Medikament auf den Markt - unter dem patentierten<br />

Handelsnamen Aspirin, mit dem<br />

bald alle Welt den Wirkstoff identifizierte.<br />

Aspirin war wenige Jahre nach der Lancierung auch in der arabischen Welt erhältlich<br />

und die Kampagne mit einer blonden, unverschleierten Frau kam nicht nur gut an.<br />

Mehr als 70 Jahre blieb die Wirkweise<br />

von Aspirin ungeklärt. Erst 1971 wies der<br />

britische Pharmakologe John Vane nach, dass<br />

Acetylsalicylsäure die Synthese best<strong>im</strong>mter<br />

Botenstoffe – sogenannter Prostaglandine –<br />

hemmt und damit die Schmerz- und Entzündungsreaktion<br />

lindert. Vane erhielt dafür<br />

1982 den Nobelpreis für Medizin.<br />

Heute ist der Wirkstoff weder aus der<br />

Hausapotheke noch aus der Hightechmedizin<br />

wegzudenken. Das Mittel lindert nicht<br />

nur alle Arten des Kopfschmerzes vom Kater<br />

bis zur Migräne, sondern wird ebenso<br />

gegen Rücken- und Gelenkschmerzen eingesetzt<br />

und wirkt fiebersenkend und entzündungshemmend.<br />

Erwiesen ist auch,<br />

dass ASS das Risiko von Herzinfarkten<br />

und Schlaganfällen senken kann.<br />

Möglicher Schutz vor Darmkrebs<br />

Auch eine mögliche vorbeugende Wirkung<br />

gegen best<strong>im</strong>mte Krebsarten wird erforscht.<br />

So scheint Acetylsalicylsäure bei langjähriger<br />

Einnahme das Darmkrebsrisiko zu senken.<br />

Auch das Risiko, an Krebs zu sterben,<br />

war in Studien geringer. Der Mechanismus<br />

ist noch nicht ganz klar. ASS und ähnliche<br />

Medikamente beeinflussen Entzündungsprozesse<br />

<strong>im</strong> Körper. Diese wiederum können<br />

an der Krebsentstehung beteiligt sein.<br />

Allerdings raten Experten unter anderem<br />

vom Deutschen Krebsforschungszentrum<br />

von einer dauerhaften Einnahme von<br />

Eine der ersten Fertigarzneien überhaupt: Aspirin in der Blechdose für unterwegs.<br />

Aspirin zur Krebsvorbeugung ab. Denn<br />

das Mittel kann zu erheblichen Nebenwirkungen<br />

führen. ASS bewirkt nicht nur eine<br />

Blutverdünnung und wird daher etwa nach<br />

einem Herzinfarkt gegeben. Es fördert zugleich<br />

die Blutungsneigung, was zu Blutungen<br />

<strong>im</strong> Gehirn und <strong>im</strong> Magen-Darm-Trakt<br />

sowie zu Geschwüren führen kann. Weitere<br />

mögliche Nebenwirkungen sind Übelkeit<br />

oder Sodbrennen.<br />

Ob jemand von den Vorteilen profitiert<br />

oder eher unter den Nebenwirkungen leidet,<br />

hängt den Forschern zufolge unter anderem<br />

von der genetischen Veranlagung<br />

ab. Schmerzmittel seien «keine Lutschbonbons»,<br />

warnen daher Fachleute.<br />

10 ALTA VISTA SEPTEMBER <strong>2017</strong> ASPIRIN 120 JAHRE FERTIGARZNEI<br />

ASPIRIN 120 JAHRE FERTIGARZNEI SEPTEMBER <strong>2017</strong> ALTA VISTA 11


Magersucht kann<br />

angeboren sein<br />

Die WHO will Hepatitis<br />

bis 2030 beseitigen<br />

Offenbar best<strong>im</strong>men nicht nur das gängige Schönheitsideal oder psychische Probleme<br />

das Krankheitsbild der Magersucht. Es könnten auch – wie sooft – die Gene sein.<br />

Mehrere Staaten verfolgen nationale Strategien, um Hepatitis bis 2030 zu beseitigen.<br />

Für den Kampf gegen die Krankheit müssten vor allem Behandlungskosten sinken<br />

und die Prävention verbessert werden.<br />

DR. GABY FÖHN<br />

STEPHAN INDERBIZIN<br />

Magersucht gehört zu den bekanntesten<br />

Essstörungen; als<br />

Ursache kommen mehrere<br />

Bedingungen und Faktoren<br />

zusammen wie Selbstzweifel,<br />

geringes Selbstwertgefühl, Perfektionismus,<br />

übermässige Sorge um Figur und Gewicht<br />

sowie einschneidende Erlebnisse wie<br />

Trennungssituationen oder ein Schulwechsel.<br />

Auch eine genetische Veranlagung wird<br />

seit längerem diskutiert. Magersucht tritt am<br />

häufigsten während der Pubertät auf.<br />

Als Ursache für Magersucht wird <strong>im</strong>mer<br />

wieder das in der Gesellschaft weit verbreitete<br />

und von den Medien transportierte<br />

Schlankheitsideal angeführt. Weitere Gründe<br />

für die Entwicklung dieser Essstörung<br />

können etwa mangelndes Selbstwertgefühl<br />

oder Probleme <strong>im</strong> persönlichen Umfeld<br />

sein. Ebenfalls hinlänglich bekannt ist, dass<br />

Essstörungen häufiger bei Frauen als bei<br />

Männern vorkommen. Laut einer Umfrage<br />

des Statistikportals «Statista» sind über 50<br />

Prozent der Mädchen zwischen 16 und 17<br />

Jahren mit ihrem Gewicht unzufrieden.<br />

Magersucht hat – und das ist der neue<br />

Aspekt - nicht nur psychische Ursachen,<br />

sondern kann auch angeboren sein. Eine<br />

internationale Forschergruppe unter Beteiligung<br />

der Universität Duisburg-Essen<br />

(UDE) konnte ein Gen ausmachen, das die<br />

Essstörung «Anorexia nervosa» begünstigt,<br />

wie die Hochschule mitteilte.<br />

Die Wissenschaftler untersuchten insgesamt<br />

Daten von knapp 3500 Patientinnen<br />

mit Magersucht und entdeckten das betreffende<br />

Gen auf dem Chromosom 12. Diese<br />

Region wurde bereits mit Diabetes Typ 1<br />

Eine Magersucht zeugt nicht zwingend von rein psychischen Problemen.<br />

und Auto<strong>im</strong>munerkrankungen in Verbindung<br />

gebracht.<br />

Magersucht und Schizophrenie<br />

Magersucht könnte den Forschern zufolge<br />

somit mit weiteren Erkrankungen verknüpft<br />

sein, etwa mit Schizophrenie. Die<br />

Gene, die dafür empfänglich machen, überlappen<br />

sich demnach.<br />

Diese Entdeckungen könnten das bisherige<br />

Verständnis der Magersucht «nachhaltig<br />

verändern», erklärte Anke Hinney<br />

von der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik<br />

und Psychotherapie des Kindes- und<br />

Jugendalters am UDE. «Eine psychiatrische<br />

Störung mit einem physiologischen<br />

Hintergrund eröffnet völlig neue und bislang<br />

unerwartete Therapieoptionen.»<br />

Ausserdem könne die genetische Ursache<br />

die Betroffenen entlasten, da sich «in<br />

vielen Fällen das Umfeld (Eltern) oder die<br />

betroffenen Personen selbst für ihre Krankheit<br />

die Schuld geben».<br />

Die Forschungsergebnisse wurden <strong>im</strong><br />

Fachmagazin «The American Journal of<br />

Psychiatry» veröffentlicht. Allerdings gelten<br />

diese neuen Erkenntnisse nur für das<br />

klar definierte Krankheitsbild der Anorexia<br />

nervosa, nicht für andere Essstörungen<br />

oder Mischformen.<br />

Rund 325 Millionen Menschen<br />

sind nach Schätzungen der<br />

Weltgesundheitsorganisation<br />

WHO mit chronischer Hepatitis<br />

B oder Hepatitis C infiziert.<br />

«Hepatitis stellt ein bedeutendes weltweites<br />

Gesundheitsproblem dar», sagte Gottfried<br />

Hirnschall, der Leiter des WHO-Hepatitis-Programms.<br />

«Wenn die Menschen<br />

nicht behandelt werden, sind sie in Lebensgefahr.»<br />

Hepatitis ist eine Leberentzündung,<br />

die zu tödlichem Leberkrebs führen<br />

kann. Die WHO hat nun erstmals Zahlen<br />

für Regionen veröffentlicht, um ihre Fortschritte<br />

be<strong>im</strong> Kampf gegen die Krankheit,<br />

die bis 2030 el<strong>im</strong>iniert werden soll, messen<br />

zu können. Die WHO-Region Europa ist<br />

bei Hepatitis-C-Infektionen hinter der Region<br />

Östliches Mittelmeer von Afghanistan<br />

bis Jemen am stärksten betroffen. Das<br />

geht aus dem Hepatitis-Bericht der Weltgesundheitsorganisation<br />

(WHO) hervor.<br />

Die Region Europa reicht von der EU über<br />

Russland bis Usbekistan und Kirgistan.<br />

Enorme Sterberate<br />

Die Organisation konzentriert sich auf die<br />

chronische Hepatitis B (HBV) und Hepatitis<br />

C (HCV), weil diese beiden Infektionen<br />

96 Prozent der Todesfälle ausmachen. 2015<br />

starben 1,3 Millionen Menschen - mehr als<br />

durch HIV-Infektionen oder Malaria. Nach<br />

Hirnschalls Angaben könnte die Epidemie<br />

jedoch gestoppt werden. Gegen Hepatitis B<br />

gebe es eine erfolgreiche Impfung, gegen<br />

Hepatitis C eine nur noch rund 200 Dollar<br />

teure dre<strong>im</strong>onatige Behandlung, die Infizierte<br />

heile. Bei Hepatitis B sei eine lebenslange<br />

Behandlung nötig. Eine Herausforderung sei<br />

es, die Menschen überhaupt zu erreichen.<br />

Derzeit erhalten dem Bericht zufolge<br />

weniger als zehn Prozent der Betroffenen,<br />

die eine diesbezügliche Diagnose haben,<br />

Medikamente. Und oft bleibt die Krankheit<br />

jahrelang unerkannt. Von den chronisch Hepatitis-B-Kranken<br />

wissen demnach nur neun<br />

Prozent überhaupt, dass sie infiziert sind. Bei<br />

Hepatitis C sind es rund 20 Prozent.<br />

Nach 20 oder 30 Jahren vernarbe dann<br />

die Leber und es könne sich Krebs entwickeln,<br />

sagte WHO-Hepatitis-Experte Yvan<br />

Hutin. Menschen stecken sich demnach vor<br />

allem durch Kontakt mit Blut und anderen<br />

Körperflüssigkeiten oder be<strong>im</strong> Sex an. Hepatitis<br />

C bekommen zudem oft Drogensüchtige,<br />

die ihre Nadeln untereinander<br />

austauschen. In der WHO-Region Europa<br />

lebten mit fast vier Millionen Betroffenen<br />

die mit Abstand meisten Süchtigen, die sich<br />

Drogen spritzen, hiess es. Auf sie gehe ein<br />

beträchtlicher Teil der Infektionen zurück.<br />

In der Region von Afghanistan bis Jemen<br />

sind dem WHO-Bericht zufolge mangelnde<br />

Hygienevorkehrungen <strong>im</strong> Gesundheitswesen<br />

die häufigste Ursache für<br />

Hepatitis-C-Übertragungen. 15 Millionen<br />

Menschen sind dort betroffen - so viele wie<br />

sonst nirgendwo. Hepatitis B kommt vor<br />

allem in der Westpazifikregion vor: 115<br />

Millionen Menschen seien dort infiziert, so<br />

die WHO.<br />

Anders als bei Tuberkulose oder HIV<br />

sei bei Hepatitis die Zahl der Todesfälle<br />

gestiegen: von einer Million <strong>im</strong> Jahr 2011<br />

Alleine in Europa sind vier Millionen<br />

Menschen mit Hepatitis infiziert.<br />

auf 1,3 Millionen <strong>im</strong> Jahr 2015. Die WHO<br />

hat aber auch eine gute Nachricht: Die<br />

Zahl der Neuinfektionen sinke.<br />

Teures Medikament<br />

Gegen Hepatitis C gibt es erst seit weniger<br />

als vier Jahren die ersten wirklich wirksamen<br />

Medikamente, die das Virus innerhalb<br />

von drei Monaten el<strong>im</strong>inieren können. Aber<br />

nur sieben Prozent der Patienten haben Zugang<br />

zu diesen Medikamenten und die Zahl<br />

der neuen Fälle steigt. Die Entwicklung von<br />

Generika hat unlängst dazu beigetragen,<br />

den Preis für die horrend teuren Medikamente<br />

zu senken.<br />

Immerhin: Die WHO hat eines der<br />

Generika nun präqualifiziert, bei dem<br />

die dre<strong>im</strong>onatige Behandlung «nur» rund<br />

280 US-Dollar kostet.<br />

12 ALTA VISTA SEPTEMBER <strong>2017</strong> WISSEN GENFORSCHUNG<br />

STATISTIK HEPATITIS SEPTEMBER <strong>2017</strong> ALTA VISTA 13


Konfliktherd<br />

Kommunikation<br />

Konflikte bei der Arbeit sind nichts Ungewöhnliches. Auch die Zusammenarbeit<br />

der Berufsgruppen <strong>im</strong> Krankenhaus verläuft nicht <strong>im</strong>mer reibungslos. Pflegekräfte<br />

beklagen Kommunikationsprobleme. Ärzte wünschen sich mehr Verständnis für<br />

ihre Arbeits belastung.<br />

YVONNE BECK<br />

Kommt es in einer Pflegesituation<br />

zu Schwierigkeiten, ist häufig<br />

nicht ein Patient der Anlass.<br />

Tatsächlich geht es meistens<br />

um Konflikte zwischen den Berufsgruppen.<br />

Dabei dient ärztliches und<br />

pflegerisches Handeln eigentlich dem gleichen<br />

Zweck – der Heilung und Gesundheit<br />

des Patienten. Bei der Betreuung, Behandlung<br />

und Pflege von kranken, alten oder<br />

behinderten Menschen ist die Zusammenarbeit<br />

zwischen ärztlichen und pflegerischen<br />

Mitarbeitern unerlässlich. Eine<br />

Berufsgruppe kann ohne die andere Berufsgruppe<br />

ihren Auftrag nicht wirklich erfüllen.<br />

Doch während die Pflege zahlenmässig<br />

weitaus überlegen ist, sind die Ärzte<br />

diejenigen, die Anordnungen treffen.<br />

Dies birgt enormes Konfliktpotenzial, da<br />

sich Pflegekräfte häufig in ihrer Leistung<br />

zu wenig anerkannt fühlen.<br />

Fehlende Wertschätzung und<br />

hohe Arbeitsbelastung<br />

Mögen Pflegekräfte eine fehlende Wertschätzung<br />

beklagen, wünschen sich Ärzte<br />

mitunter mehr Verständnis für ihre hohe<br />

Arbeitsbelastung. Die Kooperation und<br />

Kommunikation zwischen Ärzten und<br />

Pflegenden ist daher stark opt<strong>im</strong>ierungsbedürftig.<br />

Die Problematik zwischen den einzelnen<br />

Berufsgruppen hat in den letzten<br />

Jahren stetig zugenommen. Grund dafür ist<br />

unter anderem, dass der Personalmangel<br />

auf beiden Seiten zu <strong>im</strong>mer grösserer Arbeitsbelastung<br />

führt. Ärzte und Pflegekräfte<br />

haben <strong>im</strong>mer weniger Zeit sich auszutauschen.<br />

Doch gerade <strong>im</strong> Krankenwesen<br />

ist Kommunikation und Teamarbeit besonders<br />

wichtig. Jeder muss sich auf die Professionalität<br />

des anderen verlassen können.<br />

Eine gute Teamarbeit erreicht man jedoch<br />

nur bei gegenseitiger Wertschätzung.<br />

Konfliktpotential steckt jedoch auch in der<br />

grossen Differenz in Bezug auf Lohn und<br />

gesellschaftliches Ansehen. Ärzte haben<br />

einen Hochschulabschluss und haben einen<br />

hohen sozialen Stellenwert in der Gesellschaft.<br />

Die Pflege hingegen wird häufig als<br />

«minderwertiger» Ausbildungsberuf angesehen,<br />

obwohl inzwischen sogar Studiengänge<br />

für Pflegewissenschaften angeboten<br />

werden. Beide Berufsgruppen arbeiten zum<br />

Wohl des Patienten, werden jedoch von der<br />

Gesellschaft völlig unterschiedlich bewertet.<br />

Dabei besitzt eine ausgebildete Krankenschwester<br />

oder ein Pfleger mit langjähriger<br />

Berufserfahrung häufig grosses<br />

fachliches Wissen und verfügt über umfassende<br />

praktische Erfahrungen.<br />

Ausbildung versus Berufs -<br />

erfahrung<br />

Verständlich, dass Pflegekräfte ihre<br />

Kompetenzen und ihr Wissen <strong>im</strong> Berufsalltag<br />

einsetzen wollen. Dieses scheitert<br />

jedoch häufig an alten Strukturen. So<br />

haben Pflegekräfte den Ärzten gegenüber<br />

eine Informationspflicht bezüglich des Gesundheitszustandes<br />

der Patienten, umgekehrt<br />

gilt dies jedoch nicht. Ein junger Mediziner<br />

mit einem Bruchteil an Erfahrungen<br />

steht häufig vor der Aufgabe, die medizinische<br />

Fachkompetenz zu verkörpern und<br />

letztlich aufgrund seiner Verantwortlichkeit<br />

Anordnungen zu treffen. Die Schwierigkeit<br />

besteht darin, dieser Funktion gerecht<br />

zu werden, ohne dabei arrogant oder<br />

aber unsicher zu wirken. Für junge Mediziner<br />

ist es häufig ein Spagat, Krankenschwestern<br />

und Pfleger in ihrem Fachwissen<br />

ernst zu nehmen, ihr Wissen so weit<br />

wie möglich einzubringen und zugleich die<br />

entsprechende Fachautorität zu verkörpern.<br />

Wie man dies genau macht, bringt<br />

ihnen jedoch niemand bei. Assistenzärzte<br />

sind unerfahrene Berufsanfänger. Ihre<br />

Chefs erwarten jedoch, einen reibungslosen<br />

Ablauf auf der Station, ohne dass darüber<br />

explizit gesprochen wird. Besonders<br />

für junge Ärzte ist es daher von grosser<br />

Bedeutung, Kommunikationsstrukturen<br />

schon zu Beginn ihrer beruflichen Karriere<br />

zu reflektieren und in die eigene Handlungskompetenz<br />

zu integrieren.<br />

Die Aufgabenverteilung in Spitälern ist<br />

unterschiedlich geregelt und häufig kommt<br />

es zu Problemen, wenn Aufgaben nicht eindeutig<br />

zugeordnet sind. Wer übern<strong>im</strong>mt Tätigkeiten,<br />

die niemandem eindeutig zugeordnet<br />

werden können, die aber alle als<br />

lästig empfinden? Aufgabenverteilung und<br />

Abläufe müssen deshalb klar definiert sein.<br />

Ob Teamarbeit funktioniert, hängt von Einzelpersonen<br />

ab, aber sicherlich auch davon,<br />

ob sie strukturell verankert ist. Wichtig ist<br />

auch die «stille» Übereinkunft des «Gebens<br />

und Nehmens». Ein «guter» Arzt ist aus<br />

Sicht der Pflege einer, der auch mal mitanpackt<br />

(also z. B. auch einmal Betten schiebt).<br />

Pflegekräfte hingegen sind die Konstanten<br />

auf den Stationen. Ein junger Arzt sollte<br />

sich daher stets bei ihnen erkundigen, wie<br />

die Abläufe sind und sich daran halten.<br />

Konflikte sind sonst vorprogrammiert.<br />

Kommunikation und Kooperation<br />

Umfragen zufolge wünscht sich die<br />

Mehrzahl der Pflegekräfte häufigere Gespräche<br />

mit dem Arzt, zudem beklagen sie,<br />

dass Absprachen nicht eingehalten würden,<br />

etwa der Zeitpunkt der Visite. Personalmangel<br />

führt auf beiden Seiten jedoch zu<br />

<strong>im</strong>mer höherem Druck. Ärzte und Pflegekräfte<br />

haben <strong>im</strong>mer weniger Zeit, sich auszutauschen.<br />

Die Kommunikation zwischen<br />

Arzt und Pflegekräften darf auf keinen Fall<br />

ausschliesslich «stumm» ablaufen, also<br />

einfach schriftlich angeordnet. Denn nur<br />

<strong>im</strong> direkten Gespräch können die Standpunkte<br />

beider Parteien zu Gehör kommen.<br />

Persönliche Kommunikation erlaubt eine<br />

weitaus intensivere und umfassendere Informationswiedergabe<br />

und ermöglicht die<br />

Aufrechterhaltung der Bindungen zwischen<br />

den Berufsgruppen <strong>im</strong> Krankenhaus.<br />

Führungskräfte sollten dies fördern und<br />

leben, denn dieses erhöht zum einen die<br />

Mitarbeiterzufriedenheit und verbessert<br />

zudem das Arbeitskl<strong>im</strong>a. So sollten Teambesprechungen<br />

als «Jour fixe» genutzt werden,<br />

um strukturelle Probleme zu besprechen.<br />

An diesen Besprechungen sollten<br />

auch Chefarzt und Oberärzte teilnehmen.<br />

Nur so wird eine direkte Kommunikation<br />

ermöglicht, die eine fachliche Zusammenarbeit<br />

und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit<br />

fördert. ➜<br />

14 ALTA VISTA SEPTEMBER <strong>2017</strong> FOKUS GEMEINSAM ZUM WOHLE DES PATIENTEN<br />

FOKUS GEMEINSAM ZUM WOHLE DES PATIENTEN SEPTEMBER <strong>2017</strong> ALTA VISTA 15


«Zwischen dem, was ich denke, und dem, was ich<br />

sage, und dem, was ich zu sagen glaube, und dem, was<br />

du hörst, und dem, was du hören willst, und dem,<br />

was du verstehst und zu verstehen hoffst, gibt es<br />

ebenso viele Möglichkeiten, sich nicht zu verstehen.»<br />

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Federnde Treppenstufen<br />

erleichtern den Aufstieg<br />

Neuartige Treppenstufen könnten vor allem für Senioren interessant werden.<br />

Die Stufen sind mit speziellen Federn ausgestattet, die den Aufstieg erleichtern<br />

sollen. Noch muss die Erfindung aber Kinderkrankheiten überwinden.<br />

STEPHAN INDERBIZIN<br />

Mit speziell gefederten Treppenstufen<br />

sollen vor allem<br />

Senioren in Zukunft deutlich<br />

kraftsparender auf- und<br />

absteigen können. Die Treppenhilfe<br />

wurde von Forschern der Missouri<br />

University of Science and Technology in<br />

den USA entwickelt und soll eine günstige<br />

und gesündere Alternative vor allem zu<br />

Treppenliften darstellen.<br />

Die Metallfedern speichern be<strong>im</strong> Abstieg<br />

des Bewohners die Energie, die dieser<br />

auf die Stufen abgibt und geben sie be<strong>im</strong><br />

Aufstieg wieder zurück. So spart er be<strong>im</strong><br />

Gang nach oben Kraft. Ältere Menschen<br />

sollen so länger in den eigenen vier Wänden<br />

wohnen bleiben können.<br />

Ältere Menschen sollen<br />

so länger in den eigenen<br />

vier Wänden wohnen<br />

bleiben können.<br />

Im Online-Fachjournal «Plos One»<br />

stellen die Wissenschaftler um Yun Seong<br />

Song einen Prototyp vor. Die Stufen hängen<br />

dabei an Metallfedern befestigt in einem<br />

stabilen Aluminiumrahmen. Diese<br />

Konstruktion kann laut den Forschern<br />

ohne grossen Aufwand auf bestehende<br />

Treppen aufgebaut werden. Die oberste<br />

Stufe der Treppenhilfe schliesst dann mit<br />

dem oberen Etagenboden ab.<br />

Be<strong>im</strong> Hinabsteigen werden die Stufen nach<br />

unten gedrückt und rasten dort etwa auf<br />

Höhe der ursprünglichen Treppenstufe in<br />

einen elektromagnetischen Riegel ein, so<br />

dass sie nicht gleich wieder hochschnellen.<br />

Die Federn sind nun gespannt.<br />

Entlastung der Knie<br />

Be<strong>im</strong> Aufstieg gibt der Elektromagnet<br />

eine Stufe <strong>im</strong>mer dann frei, wenn der erste<br />

Fuss auf die nächsthöhere Stufe gestellt<br />

wird. Dann ziehen die Federn das Trittbrett<br />

sanft nach oben und unterstützen den<br />

Treppensteiger be<strong>im</strong> nächsten Schritt.<br />

Messungen hätten ergeben, dass auf diese<br />

Weise vor allem die Knie entlastet würden,<br />

schreiben die Forscher in der Studie. Auf<br />

den Stufen sind Sensoren angebracht, die<br />

anhand des Tritts registrieren, ob jemand<br />

die Treppe hinauf- oder hinuntersteigt.<br />

Die Wissenschafter sehen in ihrer Erfindung<br />

einen deutlichen Vorteil <strong>im</strong> Vergleich<br />

zu teuren Treppenliften. «Aufzüge<br />

und Treppenlifte ersetzen den Treppenaufstieg<br />

komplett, selbst wenn die Nutzer dazu<br />

körperlich noch in der Lage wären», schreiben<br />

die Autoren in der Studie. Das trage<br />

dazu bei, dass die Kräfte noch schneller<br />

nachliessen. «Wichtig sind deshalb motorische<br />

Hilfestellungen, die dem Menschen<br />

die Möglichkeit lassen, Treppen benutzen<br />

zu können», sagt Studienautor Yun.<br />

Bis die Treppenkonstruktion tatsächlich<br />

in den ersten Wohnungen eingesetzt<br />

werden kann, wird es aber noch dauern.<br />

Bei vielen praktischen Situationen <strong>im</strong> Alltag<br />

stösst der Prototyp noch an Grenzen.<br />

Spezielle Treppenstufen entlasten die<br />

Gelenke.<br />

Bisher sei es etwa nicht möglich, den Härtegrad<br />

der Federn zu verändern, ohne sie<br />

auszuwechseln, teilen die Autoren mit.<br />

Das könnte aber nötig werden, wenn etwa<br />

mehrere Menschen mit unterschiedlichem<br />

Körpergewicht in einem Haushalt leben.<br />

(Mit Material der SDA)<br />

INNOVATION ALTERNATIVE ZU TREPPENLIFTEN SEPTEMBER <strong>2017</strong> ALTA VISTA 17


Körperliche Nähe<br />

<strong>im</strong> Alter: Der Umgang<br />

mit einem Tabu<br />

Die Zeiten, in denen es als anrüchig oder unanständig galt, über Lust, Erotik,<br />

sexuelles Verlangen und sexuelle Störungen offen zu sprechen, scheinen zur<br />

Vergangenheit zu gehören.<br />

DR. BETTINA UGOLINI<br />

Ein differenzierter Blick zeigt,<br />

dass wir vor allem dann offen<br />

mit Sexualität umgehen, wenn<br />

diese irgendwo als generelles<br />

Thema behandelt wird. Offenheit<br />

bezüglich der eigenen Sexualität und<br />

der eigenen Bedürfnisse existiert aber<br />

meist <strong>im</strong>mer noch nur an einem kleinen<br />

Ort. Der Bereich Sexualität ist, wie kaum<br />

ein anderer, von Bildern, Vorstellungen,<br />

Mythen, Erwartungen und auch Träumen<br />

geprägt. Aber Sexualität ist auch ein Bereich,<br />

der in grossem Masse verletzlich ist.<br />

Alterssexualität wurde und wird <strong>im</strong>mer<br />

noch verleugnet. Auch gegenteilige wissenschaftliche<br />

Erkenntnisse konnten daran<br />

bis heute nicht wirklich viel ändern. So ist<br />

Sexualität <strong>im</strong> Alter <strong>im</strong>mer noch ein grosses<br />

Tabu. Im Grunde best<strong>im</strong>men die Jungen,<br />

was <strong>im</strong> Alter erlaubt ist. Ein altes Pärchen,<br />

das Hand in Hand am See spazieren geht,<br />

findet man reizend oder herzig. Sich diese<br />

beiden aber mit lebendiger Sexualität vorzustellen,<br />

ist uns fremd.<br />

Diese Tabuisierung wird <strong>im</strong> institutionellen<br />

Kontext in unseren Alters- und<br />

Pflegeinstitutionen häufig wie ein roter Faden<br />

weitergeführt. Gerade <strong>im</strong> Langzeit- ➜<br />

Lust und Sexualität <strong>im</strong> Alter: nach wie vor ein Tabuthema.<br />

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Forscher entwickeln<br />

erstes Modell der<br />

menschlichen Psychologie<br />

Ein internationales Forscherteam unter Leitung der Uni Genf hat<br />

ein mathematisches Modell der menschlichen Psychologie entwickelt.<br />

Damit wollen die Forscher menschliches Verhalten vorhersagen.<br />

STEPHAN INDERBIZIN<br />

Zärtlichkeit bei älteren Menschen – alles andere als selbstverständlich. Warum eigentlich?<br />

bereich finden sich diverse Barrieren, die<br />

eine aktive Sexualität verhindern. Es mangelt<br />

an Privatsphäre, es fehlt der Partner oder<br />

die Partnerin. Aber auch körperliche Behinderung<br />

oder Beeinträchtigung und zusätzlich<br />

die Einstellungen und Haltungen der Mitarbeitenden<br />

begrenzen die Möglichkeit der Sexualität.<br />

So kann man <strong>im</strong>mer wieder von<br />

Profis hören, dass Sexualität kein oder nur in<br />

seltenen Fällen ein Thema ist. Provokativ<br />

liesse sich hier fragen, warum es kein Thema<br />

ist. Es ist eine Selbstverständlichkeit des<br />

pflegerischen Alltags, zu Mobilität und Aktivität<br />

oder zu guter Ernährung zu motivieren.<br />

Ob Sexualität und sexuelle Wünsche anzusprechen<br />

auch zum pflegerischen Alltag gehört,<br />

kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht<br />

mit einem eindeutigen Ja beantwortet werden.<br />

In Anbetracht dessen, dass Sexualität<br />

ein sehr persönliches und verletzliches Thema<br />

ist, kann sie sicher nicht gleich behandelt<br />

werden wie einige andere Aktivitäten des<br />

täglichen Lebens, aber vergessen oder vermieden<br />

werden darf sie eben auch nicht.<br />

Auch Sexualität in der Interaktion zwischen<br />

zu Pflegenden und Pflegepersonen<br />

wird vergleichsweise wenig beachtet. Dabei<br />

beinhalten pflegerische Tätigkeiten Berührungen,<br />

enge und int<strong>im</strong>ste Kontakte sowie<br />

Konfrontation mit Nacktheit, die ausserhalb<br />

des pflegerischen Kontextes bereits als<br />

sexuelles Handeln gedeutet würden.<br />

«Vergessen oder<br />

vermieden werden<br />

darf Sexualität eben<br />

auch nicht.»<br />

Enttabuisierung – einige Ideen<br />

Gute Kommunikation: Hier ist nun<br />

gute Kommunikation und Begleitung gefragt.<br />

So kann bereits die Art und Weise,<br />

wann und wie dieses Thema angesprochen<br />

wird, entscheidend zum Umgang damit<br />

beitragen. Also keine zwischen Tür-und-<br />

Angel-Gespräche.<br />

Wissensvermittlung: Das geduldige<br />

Vermitteln von Wissen <strong>im</strong> Falle von verändertem<br />

Verhalten bei Demenz (sich neu<br />

verlieben, Ehefrau nicht erkennen oder<br />

enthemmtes Verhalten) kann Verständnis<br />

schaffen und bei der Verarbeitung helfen.<br />

Haltung: Die Mitarbeitenden können<br />

daran arbeiten, das Thema zu enttabuisieren,<br />

indem der Wunsch nach Sexualität als<br />

menschliche Ressource akzeptiert wird<br />

und Bedürfnisse und deren Signale thematisiert<br />

werden. Gewünscht wäre ein Kl<strong>im</strong>a<br />

der warmherzigen Akzeptanz, das hilft,<br />

die eigene Scham bei gleichzeitiger Professionalität<br />

zu überwinden.<br />

Selbstreflexion: Dazu gehört auch, die<br />

eigene Haltung in den Teams <strong>im</strong>mer wieder<br />

zu prüfen. Folgende Fragen können dabei<br />

hilfreich sein: Wann und warum schämen<br />

wir uns? Welche Bilder und Vorstellungen<br />

von Sexualität halten wir aus? Wann ist etwas<br />

peinlich? Wie weit würden wir selbst<br />

gehen als Ehefrau, als erwachsenes Kind?<br />

Wie möchten wir selbst, dass man <strong>im</strong> Alter<br />

mit unserer Sexualität umgeht?<br />

Offenheit für neue Lösungsansätze:<br />

Die Pflegeinstitutionen könnten darüber<br />

nachdenken, ob es andere Angebote für die<br />

Bewohnenden geben kann. Der Einsatz<br />

von Berührerinnen oder in Einzelfällen<br />

auch einer Prostituierten können beispielsweise<br />

sexuell aufgeladene Situationen<br />

deutlich entspannen.<br />

Zusammengefasst können <strong>im</strong> Umgang<br />

mit Sexualität <strong>im</strong> Pflegehe<strong>im</strong> sicher noch<br />

einige Schritte in Richtung Professionalisierung<br />

eingeleitet werden. Organisationen,<br />

Institutionen und ihre Mitarbeitenden<br />

– wir alle sollten uns konstruktiv mit der<br />

Sexualität alter Menschen auseinandersetzen<br />

und weiter daran arbeiten, dieses Tabu<br />

aufzulösen.<br />

Hinter der Psychologie eines<br />

Menschen steckt eine Vielzahl<br />

von emotionalen und motivationalen<br />

Parametern – Wünsche,<br />

Leiden oder das Bedürfnis<br />

nach Sicherheit. Auch Ort und Zeitpunkt<br />

spielen eine wichtige Rolle, um zu erklären,<br />

wie wir unsere Entscheidungen treffen<br />

und Pläne fassen.<br />

Forschende der Universität Genf haben<br />

nun mit Kollegen aus den USA, Frankreich<br />

und Grossbritannien ein mathematisches<br />

Modell des verkörperten Bewusstseins entwickelt,<br />

wie die Hochschule <strong>im</strong> August mitteilte.<br />

Das Team um David Rudrauf wollte<br />

eine Psychologietheorie entwickeln, die<br />

nach dem Vorbild von Modellen aus den<br />

exakten Wissenschaften funktioniert.<br />

Dazu waren mehr als zehn Jahre Forschung<br />

mit einer Kombination aus Mathematik,<br />

Psychologie, Neurowissenschaften, Philosophie,<br />

Informatik und Ingenieurwissenschaften<br />

nötig.<br />

Projektive Geometrie<br />

Bei jeder Entscheidungsfindung prallen<br />

eine Vielzahl bewusster und unbewusster<br />

Parameter aufeinander. «Wir haben ein<br />

Modell entwickelt, das eine Entscheidung<br />

auf Grundlage des Moments, des Rahmens<br />

und der realen und <strong>im</strong>aginären Wahrnehmung<br />

reproduziert», sagte Rudrauf gemäss<br />

der Mitteilung.<br />

Dieses «Modell des Projektiven Bewusstseins»<br />

erlaube die Analyse möglicher<br />

Verhaltensweisen in Reaktion auf Ereignisse.<br />

«Die Wahrnehmung, Fantasie und<br />

das Handeln stützen sich auf unbewusste<br />

Mechanismen, und wir haben entdeckt,<br />

dass das Bewusstsein sie mit einer speziellen<br />

Geometrie integriert, nämlich projektiver<br />

Geometrie», erklärte Daniel Bennequin<br />

von der Universität Paris 7, der ebenfalls an<br />

der Arbeit beteiligt war.<br />

Zunächst modellierten die Forschenden<br />

grundlegende Zusammenhänge zwischen<br />

Wahrnehmung und Vorstellung. Unter<br />

anderem stützten sie sich dabei auf<br />

grundlegende Phänomene – etwa, dass eigentlich<br />

parallele Bahngleise in der Ferne<br />

zusammenzulaufen scheinen. Als nächstes<br />

fügten sie den Einfluss von Emotionen und<br />

Motivationen, aber auch von Erinnerungen<br />

und Absichten hinzu.<br />

Virtuelle Realität<br />

Nachdem sie die Komponenten theoretisch<br />

definiert hatten, fügten die Forscher sie in<br />

Computerprogramme ein. Sie arbeiten zudem<br />

daran, das Modell mit virtueller<br />

Realität zu koppeln, um möglichst ähnliche<br />

räumliche, zeitliche und affektive<br />

Rahmenbedingungen zu schaffen wie die,<br />

Ein Modell zeigt die Zusammenhänge<br />

zwischen Wahrnehmung und Vorstellung.<br />

innerhalb derer unser Bewusstsein funktioniert.<br />

Mithilfe des Modells können die Wissenschaftler<br />

Vorhersagen über menschliches<br />

Verhalten treffen, wobei sie an den<br />

Parametern schrauben, um die S<strong>im</strong>ulation<br />

dem menschlichen Bewusstsein <strong>im</strong>mer<br />

ähnlicher zu machen. Anwendungen wären<br />

in den Bereichen Robotik, künstliche Intelligenz<br />

oder auch <strong>im</strong> Gesundheitswesen<br />

denkbar, schrieb die Uni Genf.<br />

20 ALTA VISTA SEPTEMBER <strong>2017</strong> FOKUS SEXUALITÄT IM ALTER<br />

PSYCHOLOGIE NEUE VERSTÄNDNISMODELLE SEPTEMBER <strong>2017</strong> ALTA VISTA 21


Gesehen & gehört<br />

Warum Emotionales besser <strong>im</strong> Gedächtnis bleibt<br />

An gefühlsgeladene Ereignisse erinnern wir uns besser als<br />

an Neutrales. Forschende der Uni Basel haben mit internationalen<br />

Kollegen an Ratten aufgeklärt, wie Emotionen die<br />

Erinnerung stärken.<br />

Eine Hochzeit, eine Geburt oder der Tod eines Familienmitglieds<br />

bleiben oft sehr detailreich <strong>im</strong> Gedächtnis. Ebenso<br />

Unfälle oder Prüfungen. Ein normaler Tag hingegen<br />

verblasst schnell. Die dafür verantwortlichen Mechanismen<br />

<strong>im</strong> Gehirn sind nicht vollständig geklärt, wie die Universität<br />

Basel mitteilte.<br />

Ein internationales Forscherteam mit Basler Beteiligung<br />

hat in Versuchen mit Ratten herausgefunden, wie Emotionen<br />

die langfristige Detailerinnerung stärken. Dabei spielt der<br />

Botenstoff Noradrenalin eine zentrale Rolle, der bei gefühlsgeladenen<br />

Erlebnissen <strong>im</strong> Gehirn ausgeschüttet wird.<br />

Wie die Wissenschaftler <strong>im</strong> Fachblatt «PNAS» berichten,<br />

beeinflusst Noradrenalin die Konsolidierung von Erinnerungen.<br />

Mit der Zeit unterlaufen diese nämlich – zumindest<br />

teilweise – eine Verschiebung <strong>im</strong> Gehirn: Sie werden<br />

von einer Hirnstruktur, dem Hippocampus, auf andere<br />

Nervenzellnetzwerke in der Hirnrinde übertragen. Dabei<br />

gehen jedoch Details der Erinnerung verloren, für die der<br />

Hippocampus zuständig ist.<br />

In einem Lerntest erhöhten die Wissenschaftler künstlich<br />

die Menge Noradrenalin <strong>im</strong> Gehirn von Ratten. Nach<br />

nur zwei Tagen erinnerten sich die Tiere zwar gleich gut<br />

wie Artgenossen einer scheinbehandelten Kontrollgruppe,<br />

nach 28 Tagen wurde der Unterschied jedoch deutlich: Die<br />

behandelten Ratten erinnerten sich deutlich besser an Details.<br />

Hemmten die Forschenden aber die Aktivität des Hippocampus,<br />

erinnerten sich die Tiere schlechter.<br />

Aus den Ergebnissen leiten die Forschenden ab, dass<br />

Noradrenalin dafür sorgt, dass der Hippocampus in der<br />

Gedächtnisfestigung involviert bleibt und damit mehr detaillierte<br />

Informationen bewahrt werden.<br />

Mit ihren Resultaten hoffen die Forschenden, zu den<br />

Grundlagen für die Entwicklung neuer Wirkstoffe beizutragen,<br />

die das Gedächtnis stärken könnten.<br />

Schizophrenie beeinträchtigt nicht das Körperbewusstsein<br />

Bei Schizophrenie-Patienten ist das Körperbewusstsein<br />

weniger beeinträchtigt als gedacht. Obwohl Betroffene oft<br />

ein verändertes Selbstgefühl haben, ist ihr Gefühl der<br />

körperlichen Zugehörigkeit nicht beeinträchtigt, berichtet<br />

ein internationales Forscherteam unter Leitung der EPFL.<br />

Die Wissenschaftler um Albulena Shaqiri und Michael<br />

Herzog von der ETH Lausanne (EPFL) testeten für ihre Studie<br />

59 Patienten mit chronischer Schizophrenie und verglichen<br />

sie mit 30 Gesunden. Die Probanden unterzogen sie<br />

dafür einem gut etablierten Test namens «Full-body Illusion»,<br />

den Olaf Blanke und Kollegen an der EPFL entwickelten,<br />

wie die Hochschule mitteilte.<br />

Die Idee hinter der «Ganzkörper-Illusion» ist es, durch<br />

langanhaltende St<strong>im</strong>ulation mehrerer Sinne das Gefühl der<br />

Körperzugehörigkeit auszutricksen. In diesem Fall wurde<br />

den Probanden über den Rücken gestrichen, während sie<br />

die Berührung mittels einer Virtual Reality-Brille an einem<br />

anderen, virtuellen Körper sahen.<br />

Wie die Forschenden <strong>im</strong> Fachblatt «Schizophrenia Bulletin»<br />

berichten, schnitten die Patienten und die gesunden<br />

Probanden <strong>im</strong> Test gleich ab. Was bedeutet, dass ihr Körperzugehörigkeitsgefühl<br />

durch die Erkrankung nicht verändert<br />

wird. «Das wurde bisher noch nie gezeigt oder berichtet»,<br />

so Shaqiri gemäss der EPFL-Mitteilung. Bisher sei<br />

man davon ausgegangen, dass Schizophrenie-Patienten ein<br />

gestörtes Körperbewusstsein hätten.<br />

Fachkongress: Traditionelle asiatische Medizin<br />

mehr und besser nutzen<br />

Traditionelle asiatische Medizin etwa aus China, Tibet, Nepal<br />

oder Indien sollte von der westlichen Schulmedizin zukünftig<br />

vorurteilsfrei geprüft und genutzt werden. Das forderten<br />

Fachleute am 9. internationalen Kongresses<br />

traditioneller asiatischer Medizin in Kiel (Deutschland).<br />

Mehr als 350 Teilnehmer aus etwa 50 Ländern tauschten<br />

sich dort <strong>im</strong> Sommer aus.<br />

Am Kongress wurde unter anderem gefordert, dass<br />

Ärzte und Patienten frei über ihre medizinische Behandlung<br />

entscheiden könnten - innerhalb eines gesetzlichen Rahmens,<br />

der die Sicherheit der Patienten garantiere. Insbesondere<br />

in der Schmerzbehandlung, aber auch bei Parkinson<br />

oder Arthrose gebe es Ansätze in der asiatischen Medizin,<br />

sagte Professorin Angelika Messner vom Chinazentrum der<br />

Kieler Uni.<br />

So solle zum Beispiel untersucht werden, ob Braunalgen<br />

und Tang Wirkstoffe zur Behandlung von Augenleiden<br />

böten, berichtete Prof. Ralph Schneider vom Exzellenzcluster<br />

«Future Science» und Direktor des Forschungsschwerpunktes<br />

Kiel Marine Science. Er sprach von einem «Goldrausch<br />

nach marinen Wirkstoffen».<br />

Die Wissenschaftler sprachen von einem grossen<br />

Transformationsprozess in der westlichen Medizin. Bildung,<br />

Ernährung und Bewegung seien die drei wichtigen Parameter<br />

für Gesundheit.<br />

Prävention kann Zahl der Demenzfälle erheblich verringern<br />

Die Zahl der weltweiten Demenz-Fälle liesse sich erheblich<br />

reduzieren, wenn die Risikofaktoren konsequent und von<br />

Kindheit an bekämpft würden. Zu diesem Ergebnis kommen<br />

internationale Experten in einem Artikel <strong>im</strong> Fachmagazin<br />

«The Lancet». In der Jugend sei mangelnde Bildung einer<br />

der wesentlichen Risikofaktoren. Im mittleren und höheren<br />

Lebensalter wirkten sich Übergewicht, hoher Blutdruck,<br />

Hörverlust oder soziale Isolation nachteilig aus.<br />

Insgesamt haben die Wissenschaftler um Gill Livingston<br />

vom University College London neun Risikofaktoren für<br />

verschiedene Demenz-Krankheiten identifiziert und bewertet.<br />

Dazu zählen auch Depression, Diabetes, Rauchen sowie<br />

mangelnde Bewegung. Würden alle diese Risikofaktoren<br />

vollständig beseitigt, könnte die Zahl der weltweiten Demenz-Fälle<br />

um etwa ein Drittel sinken, berechneten die<br />

Forscher.<br />

Eine gute schulische Ausbildung sei demnach eine besonders<br />

wichtige vorbeugende Massnahme. Sie erhöhe die<br />

kognitiven Fähigkeiten und die Belastbarkeit des Gehirns.<br />

Hätten alle Kinder auf der Welt schlagartig Zugang zu ausreichender<br />

Bildung, liessen sich acht Prozent von Demenz<br />

vermeiden, berechneten die Autoren. Nur der Verlust des<br />

Gehörs habe grössere negative Auswirkungen als mangelnde<br />

Schulbildung.<br />

Bis zum Jahr 2050 rechnen die Forscher mit rund 131<br />

Millionen Demenzkranken weltweit. 2015 lag die Zahl der<br />

Betroffenen noch bei 47 Millionen. In reichen Ländern wie<br />

den USA, Grossbritannien, Schweden, den Niederlanden<br />

und Kanada ging der Studie zufolge die Zahl der Krankheitsfälle<br />

zuletzt zurück. Sollten dort Risikofaktoren wie<br />

Übergewicht und damit zusammenhängende gesundheitliche<br />

Probleme weiter zunehmen, würde sich dieser Trend<br />

aber schnell wieder umkehren.<br />

22 ALTA VISTA SEPTEMBER <strong>2017</strong> NEWS GESEHEN & GEHÖRT<br />

NEWS GESEHEN & GEHÖRT SEPTEMBER <strong>2017</strong> ALTA VISTA 23


«Jeder Mensch<br />

wird alt und krank»<br />

Alzhe<strong>im</strong>erpatienten erkennen oft ihren eigenen Zustand nicht, Angehörige<br />

und Freunde nehmen aber sehr wohl veränderte Gewohnheiten wahr. Nun hat der<br />

Geronto psychiater Dr. Christoph Held seine Eindrücke literarisch verarbeitet.<br />

PAUL NÄGELI<br />

Christoph Held hat über viele Jahre<br />

in Alters- und Pflegehe<strong>im</strong>en<br />

Veränderungen bei Alzhe<strong>im</strong>erpatienten<br />

beobachtet. In seinem<br />

eben erschienenen Buch erzählt<br />

er einfühlsam von Bewohnern, die es so<br />

nicht gegeben hat, deren leidvolle Geschichten<br />

aber alles andere als erfunden sind.<br />

Christoph, nach deinem Erzählband<br />

«Wird heute ein guter Tag sein?»<br />

und ein paar Fach büchern hast Du<br />

nun wieder ein literarisches Buch<br />

über betagte und demenzkranke<br />

Menschen geschrieben. Warum?<br />

Die «Bewohner» sind Texte, die während<br />

sieben Jahren entstanden sind, zum Teil in<br />

den Pflegehe<strong>im</strong>en, auf dem Gang oder <strong>im</strong><br />

Arztz<strong>im</strong>mer, zum Teil in der Wohnung eines<br />

Freundes in Berlin Friedrichshain, wohin<br />

ich mich monateweise zum Schreiben<br />

zurückzog. Jetzt sind diese Texte zu einem<br />

Buch zusammengewachsen.<br />

Die «Bewohner» sind<br />

Texte, die während sieben<br />

Jahren entstanden sind.<br />

Gerontopsychiater Christoph Held: Seine Bücher sind Bestseller.<br />

Worum geht es in deinem Buch?<br />

Um das Alt- und Kranksein. Jeder Mensch<br />

wird alt und krank. Ich nenne meine Texte<br />

«Aufzeichnungen» – aber es sind fiktive Texte.<br />

Auch die Angehörigen und Pflegenden<br />

werden erkennen, dass es sich bei diesen Aufzeichnungen<br />

nicht um Bewohner handelt, die<br />

wirklich so gelebt haben – und doch wäre<br />

ein Wiedererkennen möglich. Ich bin als Erzähler<br />

lediglich Chronist einer langjährigen<br />

Veränderung und Ahnungslosigkeit der demenzkranken<br />

Bewohner, die zu Leid und Not<br />

führten. Davon ist allerdings nichts erfunden.<br />

Ich versuche dann, das Klinische des<br />

Alters, das heute <strong>im</strong>mer häufiger weggeredet<br />

wird, ins Allgemeingültige zu überführen.<br />

So ist auch eine Art Zeitbogen über die<br />

© Willi Kracher<br />

alternde Schweiz entstanden. Ich bin selbst<br />

alt geworden und arbeite nun schon über 25<br />

Jahren in den Pflegehe<strong>im</strong>en – es wird bei<br />

mir einen gleitenden Übergang geben.<br />

Was verstehst Du unter dem<br />

«Klinischen»?<br />

Alles, dessetwegen die BewohnerInnen ins<br />

Pflegehe<strong>im</strong> kommen, die Hilflosigkeit bei<br />

den alltäglichen Verrichtungen, die Veränderung<br />

der Persönlichkeit, die Gefühle, die<br />

häufig von Traurigkeit geprägt sind, die<br />

Schmerzen, die Selbstbezogenheit und der<br />

Selbstverlust, Wahn und Halluzinationen, die<br />

Enthemmung, – eigentlich das ganze Spektrum<br />

der Geriatrie und Psychiatrie. Ich<br />

schreibe aber keine Fallgeschichten mit einem<br />

ärztlich distanzierten Blick. Vieles<br />

stammt aus meinem eigenen Leben und aus<br />

meinem Dasein in den Pflegehe<strong>im</strong>en, zusammen<br />

mit den Bewohnern und den Pflegenden.<br />

Der erste Satz in deinem Buch<br />

lautet: «Von den vielen Namen, die<br />

meine Patienten in den Pflegehe<strong>im</strong>en<br />

bekommen haben, gefällt<br />

mir Bewohner am besten, weil viele<br />

von ihnen in ihren langjährigen<br />

Krankheiten wie he<strong>im</strong>isch geworden<br />

sind.» Bist Du denn auch he<strong>im</strong>isch<br />

geworden in den Pflegehe<strong>im</strong>en?<br />

Auf jeden Fall. Mit dem Satz ist aber noch<br />

etwas anderes gemeint: Ich habe eben bei<br />

meiner Arbeit auch festgestellt, dass viele<br />

Alterskrankheiten, sogar die Demenz, nicht<br />

ausschliesslich nur als Lebenskatastrophe<br />

zu betrachten sind, sondern bei einigen Bewohnern<br />

sogar eine neue Lebenskraft bewirken<br />

können, wenn auch nur noch für<br />

eine best<strong>im</strong>mte Zeit.<br />

Wo hast Du Schreiben gelernt?<br />

An vielen Orten. Als ich mich nach mehrjähriger<br />

Tätigkeit als Regie- und Dramaturgieassistent<br />

am Theater wieder der Medizin<br />

und später der Psychiatrie und Geriatrie<br />

zuwandte, musste ich viele Gutachten<br />

schreiben und Krankengeschichten führen<br />

– das ist eine gute Schreibschule. Eine<br />

Krankengeschichte ist weit mehr als nur<br />

das Festhalten von Symptomen und Diagnosen.<br />

Aber das ist nur das Handwerk.<br />

Schreiben bedeutet viel mehr: Das eigene<br />

und fremde Leben betrachten und Dinge<br />

darin zurechtrücken, eine innere Verfassung<br />

eines Geschehens herstellen. Im Alter<br />

und vor allem in der Demenz ist das naturgemäss<br />

eine brüchige Verfassung.<br />

Verknüpfst Du best<strong>im</strong>mte Erwartungen<br />

mit dem Buch «Bewohner»?<br />

Eigentlich nicht. Auf keinen Fall sind meine<br />

Geschichten Ratgeberliteratur. Und doch<br />

kommen <strong>im</strong>mer wieder Leser meiner früheren<br />

Geschichten zu mir und sagen: «Ihr<br />

Buch hat mich berührt. Genau so habe ich<br />

es auch erlebt.» Das bewirkt bei mir dann<br />

«Ihr Buch hat mich<br />

berührt. Genau so habe<br />

ich es auch erlebt.»<br />

das Gefühl einer kleinen Zufriedenheit.<br />

Wirst Du weitere Bücher schreiben?<br />

Vielleicht. Ich habe drei Fachbücher geschrieben<br />

und zwei literarische Bücher<br />

zum Thema Alter, He<strong>im</strong>e, Demenz, Sterben,<br />

zu denen allen ich stehe und Freude an<br />

ihnen habe. Aber nun scheint es mir genug.<br />

Ich weiss ja auch nicht, ob mir überhaupt<br />

noch so viele Jahre gegeben werden, denn<br />

ich brauche viel Zeit. Ich habe einen hohen<br />

Anspruch an mein literarisches Schreiben.<br />

Man wird als schreibender Arzt misstrauisch<br />

beäugt und zwar gerade von zwei<br />

Seiten: Von den Schriftstellern und von<br />

den Ärzten.<br />

Christoph Held: Bewohner<br />

Aufzeichnungen<br />

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24 ALTA VISTA SEPTEMBER <strong>2017</strong> DEMENZ INTERVIEW<br />

DEMENZ INTERVIEW SEPTEMBER <strong>2017</strong> ALTA VISTA 25


Die Biologie<br />

der Depression<br />

Immer wieder wird man <strong>im</strong> privaten wie auch <strong>im</strong> beruflichen Umfeld mit dem Begriff<br />

«Depression» konfrontiert. Aber was ist eigentlich «die» Depression?<br />

THOMAS MEISTER<br />

Studienarbeit der Psychotherapeutin Saskia<br />

Faaß fasst die Typologie wie folgt zusammen:<br />

• der Zustand liegt ununterbrochen über<br />

Wochen oder Monate hinweg vor<br />

• das Beschwerdebild wird vom Betroffenen<br />

selbst als quälend, nicht abschüttelbar,<br />

ja sogar als fremd empfunden, es<br />

entspricht also nicht der gewohnten eigenen<br />

Gefühlswelt<br />

• das Leid ist nicht durch entsprechende<br />

Zuwendung von Angehörigen und<br />

Freunden zu mildern<br />

• folgende Symptome treten in den Vordergrund:<br />

Interesselosigkeit, Unfähigkeit<br />

sich zu freuen oder Entscheidungen zu<br />

treffen, Grübeln, innere Unruhe, Ängstlichkeit<br />

(Furcht vor dem Alltag oder unbest<strong>im</strong>mte,<br />

unbegründbare Angst), Müdigkeit,<br />

Energielosigkeit, Schuldgefühle,<br />

Leistungseinbruch, gleichgültige Selbstvernachlässigung,<br />

Todeswünsche oder<br />

gar Suizidabsichten, ferner Merk- und<br />

Konzentrationsstörungen, Appetitlosigkeit<br />

mit Gewichtsverlust, Schwinden der<br />

sexuellen Aktivität, Schlafstörungen<br />

(morgendliches Früherwachen, Morgentief),<br />

undefinierbare Druck- und Schweregefühle<br />

oder Schmerzen <strong>im</strong> Bereich von<br />

Kopf, Brust und Oberbauch, Verstopfung,<br />

Mundtrockenheit usw. Es kommen auch<br />

depressive Wahnthemen vor wie Versündigungswahn,<br />

hypochondrischer Wahn,<br />

Verarmungswahn, nihilistischer Wahn<br />

(ca. 10 % stationär behandelter Depressiver<br />

haben st<strong>im</strong>mungskongruente Wahnphänomene).<br />

Diese Aufzählung ist weder vollständig<br />

noch abschliessend. Sie bietet aber einen<br />

guten Überblick.<br />

Da es sich bei der Depression um ein Leiden<br />

handelt, bei dem meist eine ganze Reihe von<br />

Krankheitssymptomen auftreten, spricht<br />

man genauer vom «depressiven Syndrom».<br />

Die häufigsten Symptome lassen sich nach<br />

Art und Herkunft in drei Gruppen aufteilen.<br />

Auch hier zitieren wir aus der Studienarbeit<br />

der Psychotherapeutin:<br />

1. Seelische Symptome: Traurige Verst<strong>im</strong>mung,<br />

Unfähigkeit zur Freude, Hemmung<br />

<strong>im</strong> Denken, Entschlussunfähigkeit,<br />

Mattigkeit, Angst, innere Leere,<br />

Hoffnungslosigkeit, Suizidgedanken.<br />

2. Psychomotorische Symptome: Dabei<br />

handelt es sich um Antriebsstörungen in<br />

beiden Richtungen, z. B. körperliche Unruhe,<br />

innere Getriebenheit auf der einen<br />

Seite, Müdigkeit, Mattigkeit und inneres<br />

Erstarren auf der anderen Seite.<br />

3. Körperliche Symptome: Schlaf- und Appetitstörungen,<br />

Klossgefühl <strong>im</strong> Hals,<br />

Druck auf der Brust, Herzschmerzen,<br />

Magen-Darm-Beschwerden, Hitzewallungen,<br />

Kälteschauer, Nachlassen des<br />

sexuellen Verlangens.<br />

4. Begleiterkrankungen: 20% zeigen «Double<br />

Depression» (Dysthymia und depressive<br />

Phasen, 20% zusätzliche Angst oder<br />

Panikstörung, Auftreten der Alkoholkrankheit<br />

v. a. bei Frauen erhöht. Depressive<br />

Bilder treten bei zahlreichen<br />

psychischen Erkrankungen auf.<br />

Das depressive Syndrom ist «von nahezu<br />

unvergleichlicher Vielgestaltigkeit»,<br />

schreibt die Autorin weiter und bringt es auf<br />

den Punkt. Die Depression scheint es nicht<br />

zu geben. Und mitunter ist es auch so, dass<br />

die vorher aufgezählten Punkte von jedem<br />

Individuum anders wahrgenommen (und<br />

letztendlich auch verarbeitet) werden. Diese<br />

Aspekte erschweren eine Diagnose und öffnen<br />

Tür und Tor für allerlei seriöse und<br />

weniger seriöse Behandlungsmethoden.<br />

Eine Google-Suchanfrage bringt alleine<br />

zum Schlagwort «Depression» unglaubliche<br />

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oder indirekt dem Thema widmen. ➜<br />

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Eins gerade vorweg: Depression<br />

ist keine Geisteskrankheit, obschon<br />

sich die medizinische<br />

Wissenschaft lange <strong>im</strong> Irrtum<br />

befand, als sie einst die Bezeichnung<br />

«manisch-depressives Irresein» einführte.<br />

Zwar kann eine Depression die<br />

geistige Leistungsfähigkeit mehr oder weniger<br />

stark beeinträchtigen, aber mit «Irresein»<br />

<strong>im</strong> eigentlichen Sinne hat das nichts<br />

zu tun. Zum einen ist der Betroffene nach<br />

Abklingen einer depressiven Phase in aller<br />

Regel wieder <strong>im</strong> Vollbesitz seiner geistigen<br />

Kräfte. Zum anderen handelt es sich darüber<br />

hinaus nicht um eine grundsätzliche<br />

Veränderung der Persönlichkeit oder des<br />

Charakters, sondern um eine zeitweilige -<br />

wenn auch tiefgreifende - Veränderung der<br />

St<strong>im</strong>mung. Aus diesem Grund ist die früher<br />

gebrauchte Bezeichnung «Gemütsleiden»<br />

nicht nur zurückhaltender, sondern<br />

vor allem auch treffender, da die der Depression<br />

zugrunde liegende, sie prägende<br />

Veränderung nicht den Verstand, sondern<br />

das Gemüt, die Seele, die Psyche betrifft.<br />

Die Übergänge von der «normalen» St<strong>im</strong>mungsschwankung<br />

zur Depression sind<br />

fliessend. Es gibt jedoch eine Reihe von<br />

Merkmalen, die eine Depression letztlich<br />

von «Traurigkeit» unterscheiden. Eine<br />

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26 ALTA VISTA SEPTEMBER <strong>2017</strong> RATGEBER DEPRESSION


Ansätze zur Beantwortung der Frage, was<br />

eigentlich eine Depression ist, finden sich<br />

fast ebenso viele.<br />

Die Depression gibt es nicht. Die Krankheit kann alle Menschen aller Altersgruppen<br />

treffen und jedes Geschlecht.<br />

Entstehung der Depression<br />

Die Psychotherapeutin Saskia Faaß stellt in<br />

ihrer Studienarbeit fest: «Ein einschneidendes<br />

Lebensereignis verdoppelt zwar die<br />

Gefahr einer Depression, ist aber selten alleiniger<br />

Auslöser. Meistens spielen eine<br />

ganze Reihe von Faktoren zusammen, hinzu<br />

kommen die genetische Veranlagung<br />

oder körperliche Erkrankungen». Dieser<br />

Ansatz scheint richtig zu sein, denn es ist<br />

bekannt, dass die einzelnen Nervenzellen<br />

<strong>im</strong> Gehirn untereinander Informationen<br />

austauschen. Die Informationsweitergabe<br />

erfolgt durch Botenstoffe, den Neurotransmittern,<br />

an den Synapsen. Bei der Depression<br />

scheinen diese Botenstoffe aus der<br />

Balance geraten zu sein. Damit sinkt die<br />

Fähigkeit, Empfindungen wie Freude oder<br />

Zufriedenheit zu verspüren, die Gefühllosigkeit<br />

macht unsicher und verursacht negative<br />

Gedanken, die übermächtig werden.<br />

Die Evolutionspsychologie der Gegenwart<br />

hat in den vergangenen Jahren eine<br />

Reihe von Befunden erarbeitet, die dafürsprechen,<br />

dass psychopathologische Abweichungen<br />

nicht einfach als Defektbildungen<br />

<strong>im</strong> Bereich des psychischen<br />

Geschehens anzusehen sind. Vielmehr hat<br />

die evolutive Entstehung all dieser psychischen<br />

Anfälligkeiten einen gewissen<br />

Selektionsvorteil mit sich gebracht. Die<br />

uns bekannten psychischen Krankheiten<br />

stellen letztlich Übersteigerungsformen<br />

derartiger normaler psychischer Strukturen<br />

dar. Eine Hypothese, die bereits Kurt<br />

Schneider (1923) <strong>im</strong> Sinne seines Kontinuitätsmodells<br />

affektiver Störungen formulierte.<br />

Depressionen können in diesem Sinne<br />

als ein Zustand mangelnder Reagibilität<br />

auf aversive bzw. wertebilanzmässig negative<br />

St<strong>im</strong>uli interpretiert werden.<br />

Ein Grundproblem jeder biologischen<br />

Theorie der Emotion, bzw. modern formuliert<br />

einer Systemtheorie der Emotion ist die<br />

grundsätzliche Unübersetzbarkeit psychischer<br />

Phänomene in Funktionszustände von<br />

Systemen, sozusagen die Diskrepanz zwischen<br />

«Verstehen» und «Erklären» (Karl<br />

Jaspers, 1948).<br />

Die Uneinholbarkeit des subjektiven<br />

«point of view» ist dem Kliniker aus den<br />

Berichten seiner Patienten vertraut; dennoch<br />

ist es in der Biologischen Psychiatrie<br />

der Gegenwart allgemein üblich geworden,<br />

die Kluft, die zwischen Verstehens- und Erklärungsmodellen<br />

hinsichtlich des Zuganges<br />

zu psychischen Krankheiten vorhanden<br />

ist, einfach zu ignorieren, weil angenommen<br />

wird, dass Nervenzellenerregung und<br />

mentales Geschehen identisch sind.<br />

Behandlung der Depression<br />

In der ICD-10 (Internationale statistische<br />

Klassifikation der Krankheiten und verwandter<br />

Gesundheitsprobleme) fallen Depressionen<br />

unter den Schlüssel F32 und werden<br />

als «depressive Episode» bezeichnet.<br />

Saskia Faaß stellt in ihrer Studienarbeit<br />

zum Thema fest: «Eine Besonderheit in der<br />

Depressionsbehandlung scheint nun zu sein,<br />

dass sowohl noradrenerge als auch serotonerge<br />

Substanzen therapeutisch aktiv sein<br />

können. Befunde sprechen dafür, dass weder<br />

das noradrenerge noch das serotonerge<br />

System selbst den pr<strong>im</strong>ären Ort der Störung<br />

bei der Entstehung der Erkrankung darstellt.<br />

Sie sind eher als parallele Aktivationszentren<br />

für die pharmakologische Kompensation<br />

eines anderweitigen,<br />

höherstufigen Systemdefekts zu deuten, der<br />

z. B. <strong>im</strong> Hypothalamus lokalisiert sein<br />

könnte. Die Antidepressivatherapie könnte<br />

als Kompensation dieses Defekts interpretiert<br />

werden.» Wie die exakte und individuelle<br />

Behandlung erfolgen soll, ist nach wie<br />

vor umstritten. Bevor eine Diagnose gestellt<br />

werden kann, muss die Ursache geklärt werden.<br />

Und die Ursachenabklärung gestaltet<br />

sich mitunter als genauso komplex wie die<br />

nachfolgende Behandlung. Mitunter ist es<br />

auch nach wie vor so, dass sich viele betroffene<br />

Menschen/Patienten mit ihrer Krankheit<br />

in irgendeiner Form arrangiert haben.<br />

Denn: Die Depression gibt es nicht.<br />

Die ganze Abhandlung der <strong>im</strong> Text zitierten Studienarbeit ist hier nachzulesen:<br />

Die Biologie der Depression:<br />

Grin Verlag, ISBN 9783640023516<br />

Eine gute Übersicht über die verschiedenen Arten der Depression bietet<br />

die Webseite: www.neurologen- und-psychiater-<strong>im</strong>-netz.org<br />

Eine offizielle Broschüre des BGV Info Gesundheit e.V. (Deutschland) lässt sich<br />

als PDF kostenlos herunterladen:<br />

www.bgv-depression.de/broschuere.html<br />

Trotz 15 Minuten unter<br />

Wasser: Kleines<br />

Mädchen erholt sich<br />

Eine Zweijährige stürzt in einen Pool, bleibt 15 Minuten unter Wasser.<br />

Das Hirn ist schwer geschädigt. Nach einer speziellen Therapie geht es ihr viel besser.<br />

Doch liegt das wirklich an der Behandlung?<br />

STEPHAN INDERBIZIN<br />

Fünfzehn Minuten befand sich ein<br />

zweijähriges Mädchen nach dem<br />

Sturz in ein Schw<strong>im</strong>mbecken unter<br />

Wasser. Sein Gehirn wurde<br />

schwer geschädigt, hat sich nach<br />

einigen Monaten aber erstaunlich gut erholt,<br />

berichten seine Ärzte um Paul Harch<br />

von der Uniklinik in New Orleans.<br />

Die kleine Eden Carlson, die mittlerweile<br />

drei Jahre alt ist, erlitt bei dem Unfall<br />

<strong>im</strong> vergangenen Jahr einen Herzstillstand<br />

und musste 100 Minuten lang wiederbelebt<br />

werden. Eden hatte sich <strong>im</strong> Haus ihrer Eltern<br />

an einem Baby-Gitter vorbeigemogelt<br />

und war dann in den Pool gestürzt.<br />

Als sie nach mehr als einem Monat aus<br />

dem Krankenhaus entlassen wurde, reagierte<br />

Eden nicht auf Reize und wand sich<br />

ununterbrochen. Fast zwei Monate nach<br />

dem Unfall begannen Paul Harch und sein<br />

Team, das Mädchen einer speziellen Sauerstofftherapie<br />

zu unterziehen. Dabei wurde<br />

dem Kind über die Nase reiner Sauerstoff<br />

eingeflösst – zunächst ohne und später mit<br />

Überdruck.<br />

Nach der Therapie konnte Eden den<br />

Ärzten zufolge wieder normal reden und –<br />

mit Unterstützung – auch wieder gehen.<br />

Die weisse und graue Substanz <strong>im</strong> Gehirn,<br />

die durch den Unfall teilweise verloren gegangen<br />

war, war nach der Therapie wiederhergestellt,<br />

wie die Ärzte mit Hilfe einer<br />

Magnetresonanztomographie feststellten.<br />

Dass sich das Gehirn des Mädchens<br />

nach einigen Monaten deutlich erholt hat,<br />

führen die Ärzte um Harch auf die Sauerstofftherapie<br />

zurück. Christoph Dodt, Präsident<br />

der Deutschen Gesellschaft Interdisziplinäre<br />

Notfall- und Akutmedizin<br />

(DGINA) sagt hingegen: «Dass eine Sauerstofftherapie<br />

nach zwei Monaten noch<br />

hilft, ist schwer zu glauben.»<br />

Er kann den Zusammenhang zwischen<br />

Therapie und Genesung nicht nachvollziehen.<br />

«Ich habe keine physiologische Erklärung<br />

dafür.» Der Bericht der Ärzte um<br />

Harch mache nicht deutlich, ob die gute<br />

Entwicklung des Mädchens tatsächlich an<br />

der Therapie lag oder ob ihr Hirnschaden<br />

von Anfang an geringer war als angenommen.<br />

Man müsse nun in Studien untersuchen,<br />

ob die Sauerstofftherapie auch bei<br />

anderen Patienten einen Erfolg zeige.<br />

«Ich habe keine physiologische<br />

Erklärung dafür.»<br />

Prinzipiell sei es nicht unüblich, dass<br />

kleine Kinder längere Zeit unter Wasser<br />

überleben können, sagt Dodt. Insbesondere<br />

dann, wenn das Wasser kalt sei. Der Pool<br />

von Edens Eltern hatte nur fünf Grad.<br />

Laut Dodt ist es in Deutschland und<br />

der Schweiz nicht etabliert, Hirnschäden<br />

15 Minuten ohne Sauerstoff und wieder<br />

gesund und munter. Geht das?<br />

mit dieser speziellen Sauerstofftherapie zu<br />

behandeln. Reinen Sauerstoff mit Überdruck<br />

bekämen hierzulande Menschen mit<br />

einer Kohlenmonoxid-Vergiftung – allerdings<br />

sofort und nicht Wochen später.<br />

28 ALTA VISTA SEPTEMBER <strong>2017</strong> RATGEBER DEPRESSION<br />

MEDIZIN SAUERSTOFFTHERAPIE SEPTEMBER <strong>2017</strong> ALTA VISTA 29


Info<br />

Akuter Durchfall führt zu beträchtlichen<br />

Erwerbsausfällen<br />

Magen-Darm-Erkrankungen führen hierzulande zu beträchtlichen<br />

Erwerbsausfällen und verursachen hohe volkswirtschaftliche<br />

Kosten. Zu diesem Schluss kommt eine Studie<br />

des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts<br />

(Swiss TPH) und des Bundesamtes für Gesundheit (BAG).<br />

Jedes Jahr suchen 175‘000 Menschen hierzulande hausärztliche<br />

Hilfe wegen einer akuten Durchfallerkrankung auf.<br />

In neun von zehn Fällen fehlen sie danach bei der Arbeit. Das<br />

ist das Resultat einer gemeinsamen Forschungsarbeit des<br />

Swiss TPH und des BAG, die in der Fachzeitschrift «Infection»<br />

veröffentlicht wurde.<br />

Das Forscherteam wertete die Daten des Sentinella-Meldesystems<br />

für das Jahr 2014 aus. Es sei erstaunlich,<br />

dass bei akutem Durchfall so wenig Prävention betrieben<br />

werde, wird die Erstautorin Claudia Schmutz zitiert. Die<br />

Studie zeige, dass Durchfall zu etwa gleich vielen Arztkonsultationen<br />

führe wie die Grippe während der Grippesaison.<br />

In vielen Fällen ist laut der Studie unklar, welche Erreger<br />

die akute Erkrankung verursachen. Denn nur bei rund<br />

zehn Prozent der Personen veranlassten Hausärzte eine<br />

Stuhluntersuchung. Als häufigster Erreger wurden Campylobacter-Bakterien<br />

diagnostiziert.<br />

Für die Kranken sei es zwar oft unwichtig, ob virale oder<br />

bakterielle Ke<strong>im</strong>e die Erkrankung hervorgerufen hätten.<br />

Laut Schmutz ist diese Information aber für den Aufbau von<br />

nationalen Präventionsmassnahmen unerlässlich.<br />

Ein weiterer Befund überraschte die Forscher: Die<br />

meisten Arztkonsultationen aufgrund von Magen-Darm-<br />

Erkrankungen kämen <strong>im</strong> Januar und Februar vor. Die Studienautoren<br />

hatten eher eine Zunahme während der Grillsaison<br />

<strong>im</strong> Sommer erwartet.<br />

Forscher mahnen zu<br />

vorsichtigem Umgang mit<br />

Gentechnik am Embryo<br />

Elf grosse Wissenschaftsorganisationen haben sich für eine<br />

vorsichtige, aber engagierte Herangehensweise bei der<br />

gentechnischen Veränderung menschlicher Embryonen<br />

ausgesprochen. Einen solchen Embryo in eine Frau einzusetzen<br />

und somit eine Schwangerschaft herbeizuführen, sei<br />

«derzeit unangemessen», schrieben die Organisationen <strong>im</strong><br />

Fachblatt «The American Journal of Human Genetics».<br />

Es gebe aber keinen Grund, eine Genveränderung <strong>im</strong><br />

Reagenzglas «mit angemessener Aufsicht und Zust<strong>im</strong>mung»<br />

zu verbieten. «Während die Grundlagenforschung<br />

zur Bearbeitung von Genen in den kommenden Jahren voranschreiten<br />

wird, fordern wir alle Beteiligten dazu auf, diese<br />

wichtigen ethischen und sozialen Diskussionen zusammenzuführen»,<br />

so Kelly Ormond von der Stanford University.<br />

Die Erklärung wurde unter anderem unterzeichnet von<br />

der American Society of Human Genetics, der Canadian<br />

Association of Genetic Counsellors und der International<br />

Genetic Epidemiology Society. Auch länderübergreifende<br />

asiatische Verbände sowie solche aus Grossbritannien und<br />

Südafrika schlossen sich an. Die Organisationen gehen<br />

zwar nicht direkt auf die kürzlich veröffentlichte Studie ein,<br />

in der Forscher einen Gendefekt in befruchteten Eizellen repariert<br />

hatten, sie verweisen aber explizit auf die Möglichkeiten<br />

und Gefahren, die durch die genutzte Genschere<br />

CRISPR/Cas9 entstanden sind.<br />

Sterben kostet<br />

in lateinischer Schweiz mehr<br />

als in Deutschschweiz<br />

Sterben kostet in der Romandie und <strong>im</strong> Tessin mehr als in<br />

der Deutschschweiz. Das Jahr vor dem Tod ist in der lateinischen<br />

Schweiz <strong>im</strong> Schnitt um etwa zwanzig Prozent teurer,<br />

wie eine Nationalfonds-Studie zeigt.<br />

In der Romandie und <strong>im</strong> Tessin sterben mehr Menschen<br />

<strong>im</strong> Spital und weniger zu Hause oder in einem He<strong>im</strong> als in der<br />

Deutschschweiz. Dies könnte ein Grund für die höheren Kosten<br />

am Lebensende sein, wie der Schweizerische Nationalfonds<br />

in einer Mitteilung zur Studie am Donnerstag schreibt.<br />

Wo es mehr ambulant behandelnde Ärzte und Pflegehe<strong>im</strong>e<br />

habe, sinke die Wahrscheinlichkeit, <strong>im</strong> Spital zu<br />

sterben, wird Erstautor Radoslaw Panczak vom Institut für<br />

Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern <strong>im</strong> Communiqué<br />

zitiert. Dies zeige ein Vergleich der Regionen von<br />

Yverdon und Neuenburg: Neuenburg habe bereits früh starke<br />

Spitex-Strukturen aufgebaut – und dort seien die durchschnittlichen<br />

Kosten am Lebensende nur halb so hoch wie<br />

in der angrenzenden Region Yverdon.<br />

Ein weiterer möglicher Grund für die regionalen Unterschiede<br />

sei, dass französischsprachige Fachleute Schmerzen<br />

eher aggressiv behandelten, wie eine Erhebung unter<br />

Schweizer Ärzten zeige. Sie seien auch weniger als ihre<br />

deutschsprachigen Kollegen gewillt, auf Wunsch der Angehörigen<br />

auf therapeutische Massnahmen zu verzichten.<br />

Die Nationalfonds-Studie zeigt zudem, dass die letzten<br />

Lebensjahre von Männern teurer sind als jene von Frauen.<br />

Die meisten Frauen sterben später als Männer und verwitwet<br />

– die Medizin kämpfe deshalb vielleicht weniger um ihr<br />

Leben als einige Jahre zuvor noch um das Leben ihrer Männer,<br />

mutmassen die Forscher.<br />

Die Daten würden dies jedoch nicht belegen. «Unsere<br />

Resultate weisen lediglich auf Unterschiede hin. Darüber,<br />

wie diese Unterschiede zustande kommen, kann nur spekuliert<br />

werden», wird Panczak in der Mitteilung zitiert.<br />

Die Studie <strong>im</strong> Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms<br />

«Lebensende» untersuchte die Daten von mehr<br />

als 113‘000 Erwachsenen, welche zwischen 2008 und 2010<br />

starben und bei einer von sechs grossen Krankenkassen<br />

versichert waren. Die Krankenkassen stellten den Forschenden<br />

die anonymisierten Daten zur Verfügung.<br />

Die Analyse zeigt, dass die von den Krankenkassen verrechneten<br />

Kosten <strong>im</strong> letzten Lebensjahr generell stark ansteigen.<br />

Deren Höhe unterscheidet sich aber von Fall zu Fall:<br />

So kostet etwa die Behandlung von Krebspatienten mehr als<br />

jene von Unfallopfern oder Opfern von Herzversagen.<br />

Forscher entfernen erstmals defektes<br />

Gen aus Embryo – kommt<br />

jetzt das «Designer-Baby»?<br />

Forscher korrigierten mithilfe der Genschere Crispr-Cas9<br />

eine Mutation, die zu Herzmuskelverdickung (Hypertrophe<br />

Kardiomyopathie) führt. Andere Erbgut-Teile seien dadurch<br />

nicht geschädigt worden, wie sie <strong>im</strong> Magazin «Nature»<br />

betonen.<br />

Mit dem Verfahren könne man eines Tages Tausende<br />

Erbkrankheiten verhindern, schreibt das Team um Shoukhrat<br />

Mitalipov von der Oregon Health and Science University<br />

in Portland. Die Embryonen wurden nach wenigen Tagen<br />

zerstört.<br />

Menschliche Embryonen wurden schon mehrfach genetisch<br />

verändert: So wurden unter anderem Studien aus China<br />

bekannt, in denen Forscher versucht hatten, Erbgut mithilfe<br />

von Crispr-Cas9 zu reparieren – allerdings mit weniger<br />

guten Resultaten. Britische Forscher hatten bereits 2008<br />

einen Embryo mit dem Erbgut von drei Eltern geschaffen.<br />

Die Forscher injizierten nun Spermien eines Mannes<br />

mit der Erbgut-Mutation in eine Eizelle zusammen mit der<br />

Genschere Crispr-Cas9, die den Erbgut-Doppelstrang an<br />

der mutierten Stelle aufschneiden sollte: Knapp drei Viertel<br />

(72,4 Prozent) der 58 Embryonen in der Studie trugen die<br />

krankhafte Mutation später nicht mehr.<br />

«Die Verfahren zur Genom-Editierung müssen opt<strong>im</strong>iert<br />

werden, bevor klinische Anwendungen erwogen werden»,<br />

schreibt das Autorenteam. Generell entwickelten sich<br />

die Embryonen jedoch normal.<br />

«Dennoch gibt es eine klare Notwendigkeit, sicherzustellen,<br />

dass solche Strategien keine anderen schädigenden<br />

Wirkungen auf den sich entwickelnden Embryo und<br />

sein Genom haben», schreiben Nerges Winblad und Fredrik<br />

Lanner vom Stockholmer Karolinska-Institut in einem<br />

«Nature»-Kommentar. (sda)<br />

30 ALTA VISTA SEPTEMBER <strong>2017</strong> INFO NATIONAL & INTERNATIONAL<br />

INFO NATIONAL & INTERNATIONAL SEPTEMBER <strong>2017</strong> ALTA VISTA 31


Methadon, der neue<br />

Krebskiller?<br />

Klinische Studien zum Einsatz von Methadon bei Krebs könnten einen Durchbruch in<br />

der Krebsforschung bestätigen. Die Pharmaindustrie hat aber kein Interesse daran.<br />

PETER EMPL<br />

Methadon, der Krebskiller!<br />

Wie ein Lauffeuer verbreitet<br />

sich diese Kunde, seit das<br />

deutsche Fernsehen <strong>im</strong><br />

Sommer über angebliche<br />

Heilungserfolge berichtet hat. Seit Monaten<br />

schwappt eine hitzige Debatte über die<br />

Wirkung von Methadon bei Krebs durch<br />

die Medien. SRF brachte diverse Radiound<br />

Fernsehbeiträge, für Betroffene steigt<br />

die Hoffnung auf «Heilung». Die «Frankfurter<br />

Allgemeine» widmete dem Thema<br />

in einer der letzten Ausgaben eine ganze<br />

Seite und liess diverse Fachleute zu Wort<br />

kommen. Die Ulmer Molekularbiologin<br />

Claudia Friesen sagt in diesem Artikel<br />

(und diversen Beiträgen <strong>im</strong> Schweizer<br />

Rundfunk), Methadon solle die Chemotherapie<br />

effizienter machen und so ein längeres<br />

Überleben ermöglichen. Die Chemikerin<br />

entdeckte vor zehn Jahren zufällig, dass<br />

<strong>im</strong> Labor gezüchtete Leukämie-Zellen zugrunde<br />

gingen, wenn sie mit Methadon in<br />

Kontakt kamen.<br />

Im April dieses Jahres berichtete<br />

schliesslich dann das deutsche Fernsehen<br />

über dieses angebliche Heilsversprechen<br />

und löste damit einen riesigen Hype aus;<br />

die Nachricht verbreitet sich in Windeseile<br />

über die sozialen Medien. Konkret vertritt<br />

die Chemikerin Friesen die Ansicht, dass<br />

Methadon die Wirkung einer Chemotherapie<br />

verstärke und deshalb zu einer Behandlung<br />

hinzugefügt werden sollte. Dies gelte<br />

zumindest für Gliome, einem gefährlichen<br />

Hirntumor mit schlechter Prognose, und<br />

anderen Tumorerkrankungen. Allerdings<br />

fehlen qualitativ hochwertige, klinische<br />

Studien, die Friesens Ansicht bestätigen.<br />

Die Chemikerin könne nur auf Zellkulturen<br />

und Tierexper<strong>im</strong>ente verweisen sowie<br />

auf einige Patienten, die mit einer Kombination<br />

aus Methadon und einer Chemotherapie<br />

erfolgreich behandelt worden seien,<br />

stellt die «Frankfurter Allgemeine» fest.<br />

Und relativiert weiter, es sei nicht klar, ob<br />

dieser Behandlungserfolg – wie <strong>im</strong>mer er<br />

auch <strong>im</strong> Einzelnen aussehen möge – auf<br />

die alleinige Wirkung der Chemotherapie<br />

zurückzuführen ist oder auf die ergänzende<br />

Wirkung des Methadons.<br />

Die neue Therapie weckt hohe Erwartungen für Betroffene.<br />

Wunderheilung versus Skepsis<br />

Das unabhängige Informationsportal «Infosperber»<br />

führt eine Patientin auf, die<br />

durch Methadon «geheilt» wurde: Bei der<br />

Patientin Sabine Kloske wurde vor mehr<br />

als zwei Jahren ein Glioblastom diagnostiziert.<br />

Dieser schnell wachsende, bösartige<br />

Hirntumor gilt derzeit als unheilbar. Die<br />

Ärzte sagten der damals 36-Jährigen, sie<br />

habe nur noch etwa 15 Monate zu leben.<br />

Doch es kam anders: Seit mehr als zwei<br />

Jahren ist der Tumor nicht zurückgekehrt.<br />

Sabine Kloske führt dieses Wunder auf<br />

Methadon zurück. Zusätzlich zur Chemotherapie<br />

n<strong>im</strong>mt sie zwe<strong>im</strong>al täglich 35<br />

Tropfen davon und ist voller Zuversicht.<br />

«Ich bin wieder da. Ich kann weiterleben<br />

und muss nicht sterben.»<br />

Was fehlt, ist eine randomisierte klinische<br />

Studie zur Wirkung einer Chemotherapie<br />

mit und ohne Methadon. Nur: Wer<br />

soll eine solche Studie bezahlen? Als extrem<br />

günstiger Wirkstoff ohne Patentschutz<br />

hätten Pharmafirmen kein Interesse<br />

daran, Methadon als Anti-Tumor-Medikament<br />

zu entwickeln, stellt auch die «Frankfurter<br />

Allgemeine» fest. Wäre die Substanz<br />

tatsächlich ein potentielles Wundermittel<br />

gegen Krebs, würde das vorerst gar niemand<br />

erfahren, weil es nicht in klinischen<br />

Studien geprüft wird, da sich damit kein<br />

Geld verdienen lässt.<br />

Die enorme Berichterstattung über das<br />

Thema hat dazu geführt, dass viele Krebskranke<br />

mit Methadon behandelt werden<br />

wollen. Einige scheinen ihre Chemotherapie<br />

sogar ganz zugunsten des Methadons<br />

aufgeben zu wollen – zumindest in<br />

Deutschland. Aufgrund des enormen Interesses<br />

hat die Charité Universitätsmedizin<br />

Berlin nun versucht, rückwirkend Daten zu<br />

sammeln. Dazu wurden die Krankenakten<br />

von 27 Gliom-Patienten nachträglich ausgewertet.<br />

Diese Patienten hatten zwei bis<br />

achtzehn Monate lang neben ihrer Chemotherapie<br />

Methadon <strong>im</strong> Rahmen eines<br />

individuellen Heilversuchs erhalten.<br />

Als Vergleich diente eine historische<br />

Kontrollgruppe, die kein Methadon erhalten<br />

hatte. In der retrospektiven Studie<br />

zeigten beide Patientengruppen keinen statistisch<br />

signifikanten Unterschied be<strong>im</strong><br />

Überleben ohne Rückfall. Die «Frankfurter<br />

Allgemeine» fügt an: «Bei der Auswertung<br />

wurden ohnehin nur zwölf der 27<br />

Patienten berücksichtigt, und zwar jene,<br />

deren Gliom zum ersten Mal behandelt<br />

worden war und die noch keine fehlgeschlagene<br />

Behandlung hinter sich hatten.<br />

Zu den Nebenwirkungen gehörten<br />

Übelkeit, Verstopfung, Angst und Schläfrigkeit.»<br />

➜<br />

32 ALTA VISTA SEPTEMBER <strong>2017</strong> ANALYSE METHADON GEGEN KREBS<br />

ANALYSE METHADON GEGEN KREBS SEPTEMBER <strong>2017</strong> ALTA VISTA 33


Methadon scheint das neue Krebsmittel der Stunde zu sein. Experten bleiben skeptisch.<br />

Methadon einfach mal probieren<br />

Dennoch: Die Frage, die viele umtreibt,<br />

lautet: Wenn die Substanz ohnehin für die<br />

Behandlung von Tumorschmerzen zugelassen<br />

ist, warum sollte sie dann nicht verordnet<br />

werden, in der Hoffnung, dass sie neben<br />

den Schmerzen auch den Tumor vertreibt?<br />

Es gibt zwei Gründe: Patienten dürfen keinem<br />

unkontrollierten Exper<strong>im</strong>ent ausgesetzt<br />

werden, und als hochpotentes Medikament<br />

ist Methadon auch gefährlich. In<br />

der Schweiz gibt es klare Regeln für die<br />

Verordnung eines Wirkstoffs. Wirksamkeit<br />

und Unbedenklichkeit müssen für die entsprechende<br />

Anwendung geprüft worden<br />

sein. Eine solche Prüfung gibt es für die<br />

potentielle Anti-Tumor-Wirkung des Methadons<br />

nicht, und niemand kann vorhersehen,<br />

wie sie ausgehen würde, wenn es entsprechende<br />

Studien gäbe. Eine Verordnung<br />

ohne Zulassung, ohne klaren, evidenzbasierten<br />

Beleg für die Wirksamkeit eines<br />

Medikaments in dieser Indikation und<br />

ohne Einbindung in eine klinische Studie<br />

macht Patienten zu Versuchskaninchen.<br />

Die wissenschaftlichen Fachgesellschaften<br />

lassen keinen Zweifel daran, dass<br />

die derzeitige Datenlage nicht ausreicht,<br />

um damit individuelle Heilversuche ausserhalb<br />

der bestehenden Zulassungen für<br />

Methadon zu rechtfertigen. Ähnlich kritisch<br />

äusserte sich Roger von Moos, Chefarzt<br />

Onkologie am Kantonsspital Graubünden<br />

und Präsident der Schweizerischen<br />

Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung<br />

SAKK, <strong>im</strong> «Tagesgespräch» von<br />

Radio DRS. Der Schweizer Onkologe hält<br />

es für höchst problematisch, Methadon in<br />

der Krebstherapie einzusetzen, bevor die<br />

Wirksamkeit der Substanz klinisch erprobt<br />

sei. Auch er warnt vor überzogenen Hoffnungen<br />

und möglichen Nebenwirkungen.<br />

Das unabhängige News Portal «Infosperber»<br />

gibt zu diesem Beitrag aber zu bedenken:<br />

«Über mögliche Interessenkonflikte<br />

des Onkologen mit der Pharmaindustrie<br />

informierte das Radio nicht.»<br />

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