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Hinz&Kunzt 297 November 2017

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WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Titelgeschichte<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Einige Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />

Verkäufer leben zwar nicht auf der Straße,<br />

aber unter miesen Wohnbedingungen.<br />

Das Haus in der Seehafenstraße beispielsweise<br />

ist heruntergekommen, es gibt<br />

Schimmel, Kakerlaken und Ratten – und die<br />

Miete ist horrend. Warum leben Menschen so?<br />

STEPHAN KARRENBAUER: Das ist natürlich<br />

grauenvoll. Hier wird ausgenutzt, dass<br />

Menschen in Not sind. Aber für viele<br />

Bewohner ist das leider immer noch<br />

besser als die Alternative: ein Leben im<br />

Elend und perspektivlos in Rumänien<br />

oder gar auf der Straße. Wir wissen ja,<br />

dass sie zu Hause keine Aussicht auf<br />

einen Job haben. Die Seehafenstraße ist<br />

deshalb für sie eine Durchgangsstation,<br />

bis sie es geschafft haben, hier Fuß zu<br />

fassen. So wie im Fall von Elena, die<br />

inzwischen zwei Putzjobs hat und eine<br />

richtige Wohnung (Seite 6). Und sie<br />

haben Kinder und wollen, dass sie in<br />

die Schule gehen. Vieles, was diese<br />

Familien machen, läuft unter dem<br />

Motto: Unseren Kindern soll es einmal<br />

besser gehen. Ehrlich gesagt: Ich würde<br />

es genauso handhaben, wenn ich in<br />

ihrer Situation wäre.<br />

„Ehrlich gesagt:<br />

Ich würde es<br />

auch so machen.“<br />

Auch Hinz&<strong>Kunzt</strong> hat von den<br />

Zuständen gewusst. Hätte man nicht<br />

längst einschreiten müssen?<br />

Verkäufer haben uns davon erzählt und<br />

gleichzeitig gesagt: Bitte tut nichts, wir<br />

wissen sonst nicht wohin! Wenn ich eine<br />

gute Alternative gewusst hätte, wäre ich<br />

der Erste, der gerne eingeschritten wäre.<br />

Ich würde einer Familie mit drei<br />

Kindern mindestens eine Zweizimmerwohnung<br />

wünschen. Aber die gibt es ja<br />

derzeit nicht. Als wir vor Jahren eine<br />

bulgarische Familie unter der Kennedybrücke<br />

kennengelernt haben, haben wir<br />

es zwar geschafft, sie in einer Kirchenkate<br />

unterzubringen. Aber wir haben<br />

drei Jahre gebraucht, um eine Wohnung<br />

für sie zu finden. 465 Euro für ein Zimmer<br />

von 15 Quadratmetern ist zwar<br />

auf den Quadratmeter umgerechnet<br />

Mietwucher. Aber das Schlimme ist<br />

doch: Knapp 500 Euro kostet inzwischen<br />

ja schon ein Studentenzimmer.<br />

Wie finanzieren sich denn die Bewohner?<br />

Bekommen die Hartz IV?<br />

Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt<br />

einige Familien, bei denen wenigstens<br />

ein Elternteil eine Arbeit hat. Einige<br />

Leute beziehen Arbeitslosengeld II,<br />

weil sie hier schon gearbeitet haben.<br />

Es gibt andere Familien, die sagen:<br />

Wir teilen uns die Miete: Der eine<br />

macht Musik, der andere geht betteln,<br />

wieder einer verkauft Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

und sammelt Flaschen.<br />

Nach der Kontrolle in der Seehafenstraße hat<br />

die Sozialbehörde den Bewohnern eine Alternativunterbringung<br />

angeboten. Viele haben<br />

das nicht angenommen. Warum nicht?<br />

Die Bewohner, die wir kennen, wollten<br />

es ihren Kindern nicht zumuten, aus<br />

der Klasse gerissen zu werden. Sie<br />

hatten es wegen ihrer Sprachschwierigkeiten<br />

anfangs sowieso schwer. Und<br />

jetzt, wo sie sich eingelebt und Freunde<br />

gefunden haben, sollten sie nicht schon<br />

wieder für ein neues Provisorium umziehen<br />

müssen.<br />

Es gibt ja viele Obdachlose aus Osteuropa,<br />

die hier auf der Straße schlafen. Sie haben<br />

oft keinen Rechtsanspruch auf Hilfe,<br />

und man kann zusehen, wie sie verelenden.<br />

Was müsste man tun, um das zu verhindern?<br />

Keiner hat das Patentrezept. Ich kann<br />

erst mal sagen, was nicht funktioniert:<br />

Es funktioniert nicht, auf Abschreckung<br />

zu setzen, die Leute zu verjagen<br />

und nicht ins Winternotprogramm zu<br />

lassen, in der Hoffnung, sie reisen alle<br />

wieder aus. Das hört sich so an, als<br />

hätten diese Menschen eine echte<br />

Alternative. Aber das haben sie nicht.<br />

Es müsste so eine Art Ankunftshäuser<br />

geben. Viele Jahrzehnte hatten wir<br />

Ankunftsviertel. Ein großes Ankunftsviertel<br />

war Ottensen, das kann sich<br />

heute niemand mehr vorstellen. Das<br />

letzte große Ankunftsviertel war Wilhelmsburg.<br />

Wo Portugiesen, Türken<br />

und Bulgaren lebten und leben. Und<br />

13<br />

viele von ihnen haben anfangs bestimmt<br />

auch zu überteuerten Preisen<br />

in echten Bruchbuden gelebt.<br />

„Es müsste eine<br />

Art Ankunftshäuser<br />

geben.“<br />

Aber man kann doch derartige<br />

Verhältnisse nicht hinnehmen. Auch dass so<br />

viele Menschen in einem Zimmer leben …<br />

Dass Menschen mit wenig Geld beengter<br />

leben als unsereins, ist klar. Da<br />

müsste es aber trotzdem Standards und<br />

Richtwerte geben. Gut fände ich, wenn<br />

es Häuser gäbe, wo Menschen erst mal<br />

ankommen und sich orientieren können.<br />

Solche Häuser könnten der Staat<br />

oder die Wohlfahrtsverbände betreiben.<br />

Immerhin darf sich jeder EU-<br />

Bürger mindestens drei Monate in<br />

einem Land aufhalten. Und wenn er<br />

dort Arbeit sucht, muss er über Rechte<br />

und Pflichten aufgeklärt werden und<br />

Deutsch lernen. Vielleicht gäbe es dort<br />

auch eine Jobbörse, womöglich in<br />

Kooperation mit der Handwerkskammer<br />

oder Landwirtschaftsbetrieben.<br />

Das Thema Wanderarbeiter und Ausbeutung<br />

ist ja uralt. Nur die Gruppe ist neu.<br />

Es gab schon immer Menschen in prekären<br />

Arbeitsverhältnissen, früher waren<br />

es die Wandergesellen. Und da ich<br />

katholisch bin, musste ich natürlich<br />

gleich an die Kolpinghäuser denken. Die<br />

hatte Adolph Kolping (1813–1865) gegründet.<br />

Die Gesellen hatten früher oft<br />

im Handwerks betrieb gewohnt, in dem<br />

sie gearbeitet hatten. Und oft wurden sie<br />

ausgebeutet und schikaniert. Sie konnten<br />

nichts machen, weil sie sonst alles<br />

verloren hätten: Arbeit und Unterkunft.<br />

Später gab es in jeder größeren Stadt<br />

solche Kolpinghäuser. Das hat den<br />

Gesellen die notwendige Freiheit gegeben<br />

– und die Arbeitgeber haben sich<br />

dann schon genau überlegt, wie sie ihre<br />

Gesellen behandeln. •<br />

Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de

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