soziologie heute August 2011
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10 <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> <strong>August</strong> <strong>2011</strong><br />
samtheit aller Lebewesen in auf- oder<br />
absteigender Linie thematisiert. Wobei<br />
nach Mannheims Soziologie nicht aus<br />
der gängigen Unterteilung der Grundgesamtheit<br />
in Kohorten von 30 Jahren<br />
und deren separater Analyse die maßgeblichen<br />
Kriterien für sozialen Wandel<br />
extrahierbar sind. Er befand vielmehr,<br />
dass sozialer Wandel erst im (gelebten)<br />
Generationszusammenhang – als übergeordneter<br />
Begriff für verbindende Gemeinschaftserlebnisse<br />
zwischen mehreren<br />
Generationen – über Raum und Zeit seine<br />
nachhaltige Orientierung erfährt. Es<br />
sei nicht allein die Innovation, die während<br />
einer Generation bestimmend für<br />
sozialen Wandel sei, sondern dass das<br />
agens für zivilisatorischen Fortschritt<br />
aus der generationsübergreifenden Erlebnisverarbeitung<br />
entstehe.<br />
Die Problematik von Generationskonflikten<br />
steckt etwa auch in der<br />
Reformdebatte um konfessionsfreien<br />
Ethik-Unterricht. Hierzulande sind es<br />
ja weiterhin Religionslehrer mit Zusatzausbildung,<br />
die Jugendlichen in einer<br />
vor allem durch digitale Kommunikation<br />
massiv transformierten Gesellschaft<br />
lebensweltgerechtes Sozialverhalten<br />
lehren sollten. Ob hierzu Halbwüchsige<br />
mit fundamentalistischen Positionen<br />
– egal aus welcher Glaubensrichtung –<br />
weiterkommen, ist anzuzweifeln.<br />
Jugendsoziologische Grundlagenforschung<br />
hat das Thema Safe Space in<br />
Theorien mittlerer Reichweite 3 mit<br />
einbezogen. Diese stehen partiell im<br />
Widerspruch zu soziologischen „Universaltheorien“<br />
wie Talcott Parsons‘<br />
Strukturfunktionalismus oder Niklas<br />
Luhmanns Systemtheorie. Partikulare<br />
Perspektiven werden in der Anomieforschung<br />
oder Bezugsgruppentheorie<br />
verfolgt. Es mag sohin eine Moratoriumsphase<br />
mit Schutzansprüchen gelebt<br />
werden, welche die von Selbstzweifeln<br />
geplagte Jugend von den etablierten<br />
Generationen erwarten darf.<br />
Für mehr „sicheren Raum“ in der Gesellschaft<br />
wäre weitere gesetzlich<br />
Martin Wagner<br />
(Projektkoordinator<br />
beim Diakoniereferat):<br />
„Es besteht die<br />
Notwendigkeit, die<br />
Lehrer ins Boot zu<br />
holen.”<br />
geregelte „Verrechtlichung“ wenig<br />
förderlich. In Ländern wie Österreich<br />
bedürfte es eher mehr Unrechtsbewusstsein<br />
seitens Verantwortlicher<br />
im öffentlichen Raum. – Die soziale<br />
Lebenswelt manifestiert sich in zivilgesellschaftlichen<br />
Bestrebungen gegen<br />
starre Strukturen in der Bildung sowie<br />
bei systemimmanent gehäuften Missbrauchsfällen<br />
gegen Minderjährige.<br />
Safe Space an Schulen<br />
In Wien wird seit wenigen Jahren aus<br />
diakonischer Initiative an der Lutherischen<br />
Stadtkirche ein Safe Space-Projekt<br />
koordiniert, das an evangelischen<br />
Privatschulen Schüler-Coachings abhält.<br />
Derzeit sind drei Gymnasien und<br />
eine Volksschule am Projekt beteiligt,<br />
das die Diplom-Lebensberaterin Barbara<br />
Hollborn leitet. Die Kosten „deckt“<br />
ein Beitrag zum Schulgeld von jährlich<br />
EUR 25,-- pro SchülerIn, wie mit dem<br />
evangelischen Schulwerk und den beteiligten<br />
Direktionen vereinbart wurde.<br />
Die psychotherapeutisch inspirierte<br />
Lebens-, Partner- und Familienberatungsbranche<br />
tendiert dazu, Safe Space<br />
gleichsam als Produktbeschreibung zu<br />
adoptieren – wie etwa von der Imago-<br />
Paartherapie. Derlei theoretische Limitierungen<br />
verbunden mit gewerblich<br />
motivierten Zertifizierungsbestrebungen<br />
verengen aber die Findung von<br />
sozialpsychologisch qualifiziertem<br />
Personal. Solche Schleusenfunktionen<br />
können natürlich auch nicht vermeiden,<br />
dass Absolventen von derlei – oft<br />
teuer bezahlten – Fachausbildungen es<br />
an praktischer Eignung mangelt. Das<br />
gilt in erweiterter Form für das gesamte<br />
politische System und somit auch<br />
für das Schulwesen in Österreich.<br />
Diplom-Lebensberater Martin Wagner<br />
vom Diakoniereferat der Lutherischen<br />
Stadtkirche in Wien koordiniert die<br />
Organisationsentwicklung für das ausbaufähige<br />
Projekt. Für Wagner ist das<br />
österreichische Bildungssystem „kein<br />
Totalschaden, es ist nicht alles kaputt“.<br />
Er sieht vielmehr die Notwendigkeit, „die<br />
Lehrer ins Boot zu holen“, was durch<br />
eine Ausweitung des Coaching-Angebots<br />
auf das Lehrpersonal geschehen solle.<br />
Safe Space<br />
Safe Space ist ein Platz, in dem jeder<br />
ohne Furcht vor Diskriminierung<br />
oder Bestrafung sich selbst ausdrücken<br />
und mitteilen kann, da auf Verschwiegenheit<br />
vertraut werden kann.<br />
Ein Platz für den als Regel gilt, dass<br />
der Selbstrespekt und die Würde einer<br />
jeden Person sicher gestellt sind<br />
sowie der Respekt vor anderen Personen<br />
gestärkt und gefördert wird. Der<br />
englische Begriff bezieht seinen soziologischen<br />
Kontext im Bedürfnis verschieden<br />
orientierter Gruppen nach<br />
gewaltlosem und missbrauchsfreiem<br />
Leben in der Gesellschaft – zumal vor<br />
soziokulturell bedingter und auch vor<br />
staatlicher Gewalt. Als sozial und individualrechtlich<br />
Schwache gilt dies<br />
für Kinder und Jugendliche besonders.<br />
Entscheidend für den Erfolg dieses Safe<br />
Space-Projekts ist die Qualität des Coaching.<br />
Maßgeblich für die Professionalität<br />
sei reiche Lebenserfahrung und<br />
entwickeltes Bewusstsein. Für den Lehrbeauftragten<br />
an der Wiener Lebensberater-Akademie<br />
müssen Coaches hinreichend<br />
zu Selbstreflexion befähigt sein,<br />
bevor sie auf Kinder und Jugendliche<br />
sowie Lehrerschaft und Eltern „losgelassen“<br />
werden.<br />
Mangelnde Professionalität führe dazu,<br />
sich mit Opfern von Gewalt oder Missbrauch<br />
zu identifizieren bzw. es an<br />
emotionaler Selbstbeherrschung mangeln<br />
zu lassen, weiß Wagner aus Supervisionsgesprächen<br />
mit Auszubildenden.<br />
Überzogene Interventionen sind<br />
die Folge und können mehr schaden<br />
als sie Betroffenen nutzen. Zumal in der<br />
Konfrontation mit Schutzbedürftigen,<br />
die Missbrauch und physischer oder<br />
psychischer Gewalt ausgesetzt waren<br />
oder sind. Ein Angebot an Schüler (und<br />
Lehrer), individuelle Probleme abseits<br />
der Schulhierarchie im sicheren Raum<br />
zu erörtern, dürfte bei allerlei Unwägbarkeiten<br />
auf jeden Fall ein Entwicklungsfortschritt<br />
sein.<br />
Literatur:<br />
1) Psychoanalytische Studien von Wilhelm Reich zur Faschismustheorie<br />
oder sozialpsychologische Familienforschung<br />
von Erich Fromm am Institut für Sozialforschung<br />
in Frankfurt der 1930er Jahre sowie Theodor W. Adorno<br />
in den 1950er Jahren in den USA zur Autoritären Persönlichkeit<br />
zeigen etwa im – ethisch umstrittenen – Milgram-Experiment<br />
signifikante Ergebnisse. Anm. d. Verf.<br />
2) Vgl. Karl Mannheim, Das Problem der Generationen.<br />
In: Karl Mannheim: Wissens<strong>soziologie</strong>. Auswahl aus dem<br />
Werk. Hg. von Kurt H. Wolff, Luchterhand, Neuwied/Berlin<br />
1964, S. 509–565<br />
3) Vgl. Robert Merton, Social Theory and Social Structure,<br />
New York, Free Press 1949<br />
Links:<br />
http://www.safespacenyc.org/safespace/section/<br />
http://www.evangelischesgymnasium.at/kontakte/<br />
safe_space/coaches/folder_dorotheergasse.pdf