soziologie heute August 2011
Das erste und einzige illustrierte soziologische Fachmagazin im deutschsprachigen Raum. Wollen Sie mehr über Soziologie erfahren? www.soziologie-heute.at
Das erste und einzige illustrierte soziologische Fachmagazin im deutschsprachigen Raum.
Wollen Sie mehr über Soziologie erfahren? www.soziologie-heute.at
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>August</strong> <strong>2011</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 41<br />
Wie tolerant werden Gesellschaften empfunden?<br />
von Kristin Beck, Jacobs University Bremen<br />
Warum kann man sich in den meisten<br />
Ländern Europas problemlos öffentlich<br />
küssen, während sich dies in Singapur<br />
oder Japan nicht ziemt? Warum<br />
sind Demonstrationen in Deutschland<br />
eine akzeptierte Formen bürgerlichen<br />
Protests während in China die<br />
Teilnahme meist streng geahndet<br />
wird? Warum respektieren Ostdeutsche<br />
beim Überqueren der Straße<br />
ein rotes Ampelmännchen eher als<br />
Westdeutsche? Ein internationales<br />
Forscherteam hat in einer 32 Länder<br />
umfassenden Studie die Gründe dafür<br />
untersucht, warum manche Gesellschaften<br />
mehr und andere weniger tolerant<br />
sind gegenüber Verhalten, das<br />
von der Norm abweicht. Die Ergebnisse<br />
wurden jetzt in „Science“ (DOI:<br />
10.1126/science.1197754) publiziert.<br />
Das Forscherteam, unter ihnen auch<br />
Klaus Boehnke, Professor für sozialwissenschaftliche<br />
Methodenlehre an der<br />
Jacobs University und Co-Autor der<br />
Studie, führte insgesamt gut 6.800 Interviews<br />
in 32 Ländern mit Personen unterschiedlichsten<br />
sozialen Status, um<br />
ein Maß dafür zu entwickeln, wie streng<br />
bzw. tolerant die jeweilige Gesellschaft<br />
empfunden wird, in der die Befragten<br />
leben. Gefragt wurde beispielsweise<br />
nach Verhalten in verschiedenen öffentlichen<br />
Situationen, das als angemessenem<br />
bzw. unangemessenem gilt, ebenso,<br />
wie danach, wie die Befragten auf<br />
unangemessenes Verhalten reagieren,<br />
oder wie genau sie wissen, welches Verhalten<br />
von ihnen erwartet wird.<br />
Innerhalb der untersuchten Länder<br />
führt Pakistan die Liste der als restriktiv<br />
empfundenen Gesellschaften an, gefolgt<br />
von Malaysia, Singapur und Südkorea.<br />
Zu den tolerantesten Ländern der<br />
Studie zählen Estland, Ungarn, Israel,<br />
die Niederlande und Brasilien. Den vordersten<br />
Platz belegt – zur Überraschung<br />
der Forschergruppe – die Ukraine.<br />
Deutschland gehört laut Studie nicht zu<br />
den Spitzenreitern in Sachen Toleranz:<br />
Westdeutschland belegte Rang 18 und<br />
Ostdeutschland, das getrennt untersucht<br />
wurde, sogar nur Rang 23 unter<br />
den insgesamt 33 Einzelbefunden.<br />
Um zu verstehen, welche Ursachen<br />
dem unterschiedlichen Maß an Toleranz<br />
bzw. Strenge in den verschiedenen<br />
Ländern zugrunde liegen, korrelierten<br />
die Wissenschaftler ihre Befunde mit<br />
verschiedenen gesellschaftlichen, politischen<br />
und geografischen Faktoren.<br />
Einen starken Zusammenhang mit einer<br />
restriktiven Handhabung von Normen<br />
fanden die Forscher für solche Faktoren,<br />
die das Leben in der Gemeinschaft<br />
auf Dauer belasten oder bedrohen, wie<br />
beispielsweise knappe Ressourcen und<br />
hohe Bevölkerungsdichten sowie häufige<br />
Naturkatastrophen, kriegerische<br />
Auseinandersetzungen oder Krankheiten.<br />
Zudem zeigten Länder mit strenger<br />
sozialer Normierung auch eine starke<br />
Tendenz zu politischer Repression<br />
durch autokratischen Regierungsformen,<br />
Einschränkung der Meinungs- und<br />
Medienfreiheit sowie einem Rechtssystem<br />
mit besonders harten Strafen, einschließlich<br />
der Todesstrafe.<br />
Eine Gesellschaft, die konstant Bedrohungen<br />
ausgesetzt ist, so die Ergebnis-<br />
Interpretation der Autoren, neigt offenbar<br />
dazu, regelkonformes Verhalten<br />
mit Härte durchzusetzen, um diesen<br />
Bedrohungen – durch Menschen verursachten<br />
ebenso wie natürlichen – durch<br />
uniformes Verhalten möglichst effizient<br />
begegnen zu können.<br />
Verkehrskontrolle<br />
in Pakistan<br />
Foto: wikimedia commons<br />
Inwieweit Toleranz oder Strenge Bestandteil<br />
einer Kultur werden, scheint<br />
jedoch nicht nur aktuellen Einflüssen zu<br />
unterliegen. So fanden die Forscher beispielsweise<br />
eine hochsignifikante Korrelation<br />
zwischen der Bevölkerungsdichte<br />
von vor 500 Jahren und dem<br />
Grad der gesellschaftlichen Strenge in<br />
dem jeweils untersuchten Land: Je höher<br />
die Einwohnerzahl zum damaligen<br />
Zeitpunkt umso intoleranter die Gesellschaft<br />
in den Augen der heutigen Bewohner.<br />
„Die Prozesse, die zur dauerhaften psychologischen<br />
Verankerung von Normen<br />
in der Gesellschaft führen, beispielsweise<br />
die Sozialisierung durch Tradition,<br />
Erziehung, Schule oder Religion,<br />
sind mitunter ausgesprochen langsam<br />
und können sich über viele Generationen<br />
hinziehen“, kommentiert Klaus<br />
Boehnke diesen Befund. „Dass Ostdeutschland<br />
von seinen Bewohnern als<br />
sehr restriktiv empfunden wird und so<br />
nach wie vor seinem Ruf als ‚das Preußen<br />
unter den vormaligen Ländern des<br />
real-existierenden Sozialismus‘ gerecht<br />
wird, hängt daher sicherlich auch mit<br />
längerfristige Nachwirkungen der unterschiedlichen<br />
Sozialisationsbedingungen<br />
in Ost- und Westdeutschland<br />
zusammen. Im Osten wurden Normverletzungen<br />
– anders als in der Zeit seit<br />
Ende der 60er Jahre in Westdeutschland<br />
– wesentlich stärker sanktioniert“,<br />
so der Jacobs-Forscher.<br />
Das Ranking der 33 Einzelbefunde (vom<br />
tolerantesten zum strengsten Land):<br />
Ukraine, Estland, Ungarn, Israel, die Niederlande,<br />
Brasilien, Venezuela, Neuseeland,<br />
Griechenland, Australien, die USA,<br />
Spanien, Belgien, Polen, Hongkong,<br />
Frankreich, Island, Westdeutschland,<br />
Italien, Österreich, Großbritannien, Mexiko,<br />
Ostdeutschland, Portugal, China,<br />
Japan, Türkei, Norwegen, Südkorea,<br />
Singapur, Indien, Malaysia, Pakistan.<br />
Nähere Infos:<br />
Klaus Boehnke<br />
(Professor of Social Science Methodology)<br />
Email: k.boehnke@jacobs-university.de