soziologie heute August 2011
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<strong>August</strong> <strong>2011</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 37<br />
Reichweite/Abstraktionsniveau von Theorien<br />
Dysfunktion<br />
Eines der wichtigsten Werkzeuge,<br />
um sozialen Wandel zu verstehen,<br />
ist nach Merton das Studium der<br />
Dysfunktionen einer Gesellschaft.<br />
Phänomene können funktional<br />
(systemfördernd, -erhaltend) oder<br />
dysfunktional (systemhemmend,<br />
-zerstörend) sein. Die jeweilige Einordnung<br />
hängt allerdings auch vom<br />
Blickwinkel/Standort im System ab.<br />
„Our major task today is to develop<br />
special theories applicable to limited<br />
conceptual ranges - theories, for example,<br />
of deviant behavior, the unan-<br />
ticipated consequences of purposive<br />
action, social perception, reference<br />
groups, social control, the interdependence<br />
of social institutions - rath-<br />
er than to seek the total conceptual<br />
structure that is adequate to derive<br />
these and other theories of the middle<br />
range.”<br />
Robert K. Merton<br />
Social Theory and Social Structure<br />
Nach Merton solle man weder endlos<br />
weitreichende und für alle Gesellschaften<br />
gültige Theorien anstreben<br />
(dagegen spricht v. a. auch die selffulfilling/destroying<br />
prophecy), noch<br />
der seiner Meinung nach gängigen<br />
Praxis an Universitäten verfallen,<br />
lediglich soziale Fakten zu erheben<br />
und fallweise soziale Probleme zu<br />
behandeln. Zwischen großer Theorie<br />
und Empirie angesiedelt sollen<br />
Theorien mittlerer Reichweite helfen,<br />
theoretisch wertvolle und auch<br />
operationalisierbare Arbeitshypothesen<br />
zu ermöglichen.<br />
Das CUDOS-Prinzip<br />
Bereits 1937 versuchte Merton - beunruhigt<br />
vom Nationalsozialismus<br />
und der durch diesen forcierten Vereinnahmung<br />
der Wissenschaft - ethische<br />
und unethische Wissenschaft<br />
zu trennen. Seiner Meinung nach<br />
zeichnet sich echte Wissenschaft<br />
durch vier Charakteristika (CUDOS-<br />
Prinzip, nach den englischen Anfangsbuchstaben<br />
benannt) aus:<br />
Kommunitarismus<br />
(Communitarianism)<br />
Ideen und Wissen sollen frei zirkulieren<br />
können. Als Produkt kooperativer<br />
Anstrengungen stehen die Ergebnisse<br />
wissenschaftlicher Tätigkeit<br />
allen Menschen zur freien Verfügung.<br />
Universalismus (Universalism)<br />
Wissenschaftliche Forschung muss<br />
frei von Diskriminierung sein. Nationalität,<br />
Ethnie, Religion, Geschlecht,<br />
sozialer Status etc. dürfen keinen<br />
Einfluss auf die Bewertung haben.<br />
Uneigennützigkeit (Disinterestedness)<br />
Erkenntnis-Leidenschaft, wissenschaftliche<br />
Neugier und Altruismus<br />
sollen die wahren Antriebe echter<br />
Wissenschaft sein.<br />
organisierter Skzeptizismus<br />
(Organized Scepticism)<br />
Dogmendenken hat in der Wissenschaft<br />
nichts verloren, sondern systematischer<br />
Zweifel ist angebracht.<br />
Endgültige Urteile dürfen erst dann<br />
gefällt werden, wenn alle notwendigen<br />
Fakten vorliegen.<br />
Manifeste und latente Funktionen<br />
Die Unterscheidung zwischen manifesten<br />
und latenten Funktionen<br />
wurde von Merton v. a. deshalb eingeführt,<br />
um mögliche Verwirrungen<br />
über bewusste Beweggründe sozialen<br />
Verhaltens und dessen objektiver<br />
Folgen auszuschließen.<br />
Manifeste Funktionen sind bewusst<br />
und beabsichtigt, latente unbewusst<br />
und unbeabsichtigt. In Social<br />
Theory and Social Structure führt Merton<br />
als Beispiel für eine manifeste<br />
Funktion den Regentanz an. Dessen<br />
Funktion ist es, Regen zu erzeugen,<br />
welcher von den Ritualteilnehmern<br />
gewünscht und beabsichtigt ist. Die<br />
latente Funktion verstärkt hingegen<br />
die Gruppenidentität, indem sie den<br />
Teilnehmern die Möglichkeit bietet,<br />
sich als Gruppe zusammen zu finden<br />
und an einer gemeinsamen Aktivität<br />
teilzunehmen. Für die Soziologie<br />
als Wissenschaft misst Merton den<br />
latenten Funktionen die größere Bedeutung<br />
bei.<br />
Literatur<br />
1) Vgl. Robert K. Merton: Social Theory and Social<br />
Structure. Free Press, 1949.<br />
2) Vgl. Robert K. Merton: The self-fulfi lling prophecy,<br />
in: Antioch Review, Jg. 8, 1948, S. 193-210.<br />
3) Thomas, W. I./Thomas, D. S.: The Child in America.<br />
New York, 1928, S. 572.<br />
4) Merton, Robert K./Barber, Elinor: The Travels<br />
and Adventures of Serendipity: A Study in Sociological<br />
Semantics and the Sociology of Science.<br />
Princeton University Press, 2006.<br />
5) Vgl. Durkheim, Emile: Über die Teilung der sozialen<br />
Arbeit (1893)<br />
Bernhard J. Hofer