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soziologie heute August 2011

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30 <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> <strong>August</strong> <strong>2011</strong><br />

Kurt Schwitters,<br />

Merzbild 46 A. Das<br />

Kegelbild, 1921,<br />

Sprengel Museum<br />

Hannover, Foto:<br />

Michael Herling,<br />

im Kunstmuseum<br />

Basel<br />

deren erste öffentliche „Proklamation“<br />

im April 1916 entstand. Alle bisherigen<br />

Hervorbringungen in Literatur und<br />

Kunst einschließlich der damals neusten<br />

expressionistischen, futuristischen und<br />

kubistischen Strömungen und Stilrichtungen<br />

wurden grundlegend kritisiert.<br />

Die radikale Trennung vom Bestehenden<br />

und vor allem dem Weltkrieg mit seinem<br />

Massenschlachthaus und Massengrab<br />

Europa als letzter Hervorbringung der<br />

bürgerlichen Welt und ihren „Wahnsinn<br />

der Zeit“ (Hans Arp) sollte auch in der<br />

öffentlichen Darstellung formal vollzogen<br />

werden durch gezielte Anti-Kunst<br />

Provokationen, durch bewußt produzierte<br />

Sinnlosigkeit und Antilogik und durch<br />

spielerische und Zufallselemente.<br />

Das politästhetische Paradox DADA als<br />

Versuch, über das Strukturprinzip Chaos<br />

zu einer neuen Ordnung zu kommen<br />

als „Narrenspiel aus dem Nichts“ (Hugo<br />

Ball), blieb während des Ersten Weltkriegs<br />

auf Zürich begrenzt, breitete sich<br />

jedoch nach dessen Beendigung in der<br />

europäischen Metropole Paris, in den<br />

deutschen Kunststädten Berlin, Köln<br />

und Hannover und schließlich auch in<br />

der Kunstszene der US-Ostküstenmetropole<br />

New York aus.<br />

DADAs frühes Selbstverständnis als politästhetische<br />

Antiströmung erklärte der<br />

österreichisch-deutsche Dadaist, Maler,<br />

Graphiker und Bildhauer Raoul Hausmann<br />

(*1886 †1971) in der Rückschau<br />

(1920) so:<br />

„DADA wurde erfunden von drei Männern:<br />

Huelsenbeck, Ball und Tzara. Zunächst<br />

bedeutete DADA nichts als vier<br />

Buchstaben, und damit war ein internationaler<br />

Charakter gegeben ... DADA war<br />

zunächst ein Bekenntnis zur unbedingten<br />

Primitivität, von dem Züricher Publikum<br />

teils verständnislos, teils erheitert<br />

begrüßt. DADA wurde aber die große<br />

Elastizität der Zeit, die ihren Maßstab an<br />

dem Bürger fand: je seniler und steifer<br />

dieser wurde, umso beweglicher wurde<br />

DADA. das <strong>heute</strong> über den ganzen Erdball<br />

verbreitet ist. Denn, dies müssen Sie<br />

wissen. DADA ist die Wahrheit. die allein<br />

zutreffende Praxis des realen Menschen,<br />

wie er <strong>heute</strong> ist, stets in Bewegung durch<br />

die Simultanität der Ereignisse, Reklame,<br />

des Marktes, der Sexualität, der Gemeinschaftsdinge,<br />

der Politik, der Ökonomie;<br />

ohne überflüssige Gedanken, die zu<br />

nichts führen. Ja. erlauben Sie, Dada ist<br />

(und dies argen die meisten Menschen<br />

grenzenlos) sogar ganz gegen jeden<br />

Geist: DADA ist die völlige Abwesenheit<br />

dessen, was man Geist nennt. Wozu Geist<br />

haben in einer Welt, die mechanisch weiterläuft?<br />

... es ist Ihnen unmöglich, etwas<br />

aufzuhalten: Sie werden einfach gespielt.<br />

Sie sind das Opfer ihrer Anschauungsweise,<br />

Ihrer sogenannten Bildung, die Sie<br />

aus den Geschichtsbüchern, dem Bürgerlichen<br />

Gesetzbuch und einigen Klassikern<br />

gleich en gros generationsweise<br />

beziehen. Sie scheitern an Ihren Voraussetzungen.”<br />

ARP<br />

Der britische Dramatiker Tom Stoppard<br />

hat mit Travesties 1974 die Aufbruchsstimmung<br />

im fiktiven Zusammentreffen<br />

so unterschiedlicher historischer Figuren<br />

und individueller Temperamente wie<br />

James Joyce (*1882 †1941), W. I. Lenin<br />

(*1870 †1924) und Tristan Tzara (*1896<br />

†1963) in deren Züricher Emigration<br />

während des Ersten Weltkriegs zu bannen<br />

versucht. Und es war in Niederdorf<br />

ab Frühjahr 1916 das literarische Cabaret<br />

Voltaire, in dessen Künstlerkneipenmilieu<br />

allerlei Vielspänner und Buntschecker<br />

zusammentrafen und sich austauschten.<br />

Hier entstand jene ästhetische Kreativität<br />

und/als schöpferische Irrationalität<br />

in Wort und Bild wie sie sich aus der<br />

Reibung am und der Negation des Bestehenden,<br />

aus dem Spannungsfeld von<br />

destruktivem Abriss und produktivem<br />

Aufbau, und damit aus dem, auch ökonomisch<br />

bedeutsamen, chaotischen Prozess<br />

schöpferischer Zerstörung ergeben<br />

kann. Richard Huelsenbeck erinnerte<br />

diese DADA-Seite so:<br />

„Die Dadaatmosphäre entwickelte sich<br />

vor der Erfindung des Wortes, wir alle<br />

wollten niederreißen und schaffen, wir<br />

lebten im Zustand der schöpferischen<br />

Irrationalität [...] Wir waren fähig, alles<br />

und nichts zu tun, auf allen Gebieten,<br />

nicht nur auf dem Gebiet der Literatur<br />

und Malerei, die beide nur deshalb so<br />

große Bedeutung gewannen, weil wir für<br />

das Ästhetische übersensibel waren. Und<br />

weil wir uns dokumentieren wollten.”<br />

Zugleich bedeutete diese Dokumentierung<br />

andere und neue Formen öffentlicher<br />

Auftritte und Präsenta-tionen: Über<br />

den Stil wurde nicht nur der Textvortrag,<br />

sondern die gesamte Vorstellung revolutioniert.<br />

Die Dadaisten im Cabaret Voltaire<br />

setzten nicht mehr nur ihre Texte<br />

in Szene, sondern inszenierten nun von<br />

Anfang bis Ende ihre Auftritte und damit<br />

sich selbst on stage – bis hin, so Hermann<br />

Korte – „zu Kleidung und Staffage.”<br />

Arps DADA-Texte spielen mit Sinnverschiebungen<br />

durch Bedeutungsverfremdungen<br />

wie etwa die poetische Titelzeile<br />

weisst du schwarzt du (Pra-Verlag 1930). Sie<br />

sind freilich entgegen aller beanspruchter<br />

ästhetischer Negation an consensuale kulturgesellschaftliche<br />

Kriterien und Werte<br />

mit ihren zeitbezogenen Kunstvorstellungen<br />

und -formen gebunden.<br />

Freilich lässt sich an der Künstlerpersönlichkeit<br />

Arps zeigen, was - später von ihm<br />

zunächst elementare und dann konkrete<br />

Kunst genannte - tieflotende ästhetische<br />

Innovation war. Korte schreibt:<br />

„Arp gehörte im Cabaret Voltaire bis auf<br />

den Vortrag von Simultangedichten nicht<br />

zum festen Kreis derjenige Künstler, die<br />

mit eigenen Texten auftraten. Dennoch<br />

war es gerade Arp, der die Negation jener<br />

in Mode gekommener expressionistischen<br />

Weltauf- und -untergänge mit Reflexionen<br />

auf einen radikalen Neuanfang<br />

der Kunst verband [...] Wie auf der Bühne<br />

des Cabarets Voltaire sich konventionelle<br />

literarische Formen im Laut-, Geräusch-<br />

und Simultangedicht auflösten,<br />

durchbrach Arp - geschult am französischen<br />

Kubismus, an Picasso und Braque<br />

- bildnerische Konventionen, die noch für<br />

die Expressionisten sakrosankt waren,<br />

experimentierte mit Klebe-, Zerschneideund<br />

Zerreißtechniken und suchte nach<br />

Reproduktion einer<br />

um 1959/60<br />

entstandenen<br />

Hans-Arp-Lithographie.<br />

Im Original<br />

zweifarbig<br />

von außen nach<br />

innen / großen<br />

zu kleinen Formen<br />

gelb und<br />

grau. Die innere<br />

Figur ist weiß<br />

(Format 14,5 x<br />

20,5 cm). - Original<br />

im Privatarchiv<br />

des Autors

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