_flip_joker_2018-03
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10 KULTUR JOKER KUNST<br />
Das andere Selbst<br />
Die Gruppenschau „Nachtstücke“ im E-Werk schaut hinter die Oberfläche<br />
Nur ein paar Meter weiter<br />
und die tropische Vegetation<br />
würde einen unweigerlich<br />
verschlucken. Gleich mehrere<br />
Lichtquellen reißen den Ort<br />
aus der Dunkelheit, doch viel<br />
ist eigentlich nicht zu erkennen,<br />
ein Schild und Stromkabel,<br />
die darauf hinweisen,<br />
dass es hier ja irgendwie weiter<br />
gehen muss. „Ghosttrap“<br />
nennt Nadia Lichtig ihre<br />
Foto-Serie, die Licht in die<br />
Nacht bringt. Dabei gehen ihr<br />
weniger Geister in die Falle<br />
als der Betrachter selbst, der<br />
sich unweigerlich in die unheimlichen<br />
Szenerien hinein<br />
fantasiert. Auf einer anderen<br />
Aufnahme ist ein Hund gleich<br />
mehrfach zu sehen, die Langzeitbelichtung<br />
macht es möglich.<br />
Die Fotografie hält sein<br />
früheres Selbst fest und erwarten<br />
wir nicht, dass diese Orte<br />
irgendwie belebt sind, von nicht<br />
ganz so harmlosen Lebewesen?<br />
„Nachtstücke“ sind das andere<br />
Gesicht der Aufklärung.<br />
Ein Spätromantiker wie E.T.A.<br />
Hoffmann hat sie berühmt gemacht,<br />
sie finden sich jedoch<br />
nicht allein in der Literatur,<br />
sondern auch in der bildenden<br />
Der Ausblick als künstlerischer Ausweg<br />
„Ausblick“ – Bilder von Gela Samsonidse in der Gemeinschaftspraxis am Martinstor<br />
Paris hat so viele Gesichter.<br />
Doch Gela Samsonidse malte<br />
immer nur diesen einen Ausblick,<br />
den ihm sein Ein-Zimmer-<br />
Appartement auf die Dächer der<br />
Stadt gewährte.<br />
Gar nicht satt sehen konnte<br />
er sich an der im Grunde unspektakulären<br />
Aussicht: Den<br />
Hausmauern mit ihren Furchen,<br />
Fugen und Kanten, die ein kontrastreiches<br />
Spiel von Licht und<br />
Schatten generierten; den vielen<br />
Schornsteinen auf den Dächern,<br />
die sich vertikal gegen den Horizont<br />
behaupteten; dem Efeu,<br />
der sich an den Mauern emporrankte<br />
und mit den Jahreszeiten<br />
seine Farben tauschte. Und dann<br />
Nadia Lichtig: „Ghosttrap (hewasreallyperfect)“<br />
Kunst und als Nocturne ebenfalls<br />
in der Musik. In der Galerie<br />
für Gegenwartskunst im<br />
Freiburger E-Werk präzisiert<br />
die gleichnamige Gruppenschau<br />
der Untertitel „Von Verdrängtem,<br />
der Nacht und der Farbe<br />
Schwarz. Von der Nacht ließ<br />
sich immer schon gut erzählen,<br />
vielleicht besser als vom Tag mit<br />
seinen gut ausgeleuchteten Rändern.<br />
Theo Eshetu verknüpft in<br />
seiner Arbeit „The Slave Ship“<br />
das Sichtbare mit dem Unbewussten.<br />
Die Videoinstallation<br />
hat die Form eines Bullauges,<br />
das erst eine Karte, dann die<br />
Unterwasserwelt zeigt, einmal<br />
sieht man im Wasser den Körper<br />
eines Schwarzen. Die Fische und<br />
Quallen sind wie an einer Achse<br />
gespiegelt und führen noch tiefer<br />
ins Dunkle. Der Titel deutet auf<br />
ein Bild William Turners hin.<br />
dieser Himmel, der mal wolkenlos,<br />
mal wolkenverhangen sich<br />
in jedem Moment veränderte<br />
und die Situation in ein immer<br />
neues Licht tauchte.<br />
Gela Samsonidse hatte sein<br />
Motiv gefunden. Unzählige,<br />
identisch große „Ausblicke“<br />
sind so entstanden, zu sehen<br />
derzeit in Freiburg in der<br />
Praxisgemeinschaft am Martinstor,<br />
wo sie, verteilt über die<br />
Flure und Behandlungszimmer,<br />
den Betrachter wie Fensteröffnungen<br />
in eine Parallelwelt<br />
entführen. Sehr häufig<br />
mündet diese unverhoffte Begegnung,<br />
zumal in Wartezimmern,<br />
in eine ganz neue Erfahrung<br />
der unvoreingenommenen<br />
Kunstbetrachtung.<br />
So ähnlich wie den hier Wartenden<br />
muss es damals auch<br />
Gela Samsonidse gegangen<br />
sein, als er in seiner Pariser<br />
Wohnung ratlos nach draußen<br />
blickte. Dort war er von Juli bis<br />
Dezember 2010 mittels eines<br />
halbjährigen Stipendiums gelandet.<br />
Paris! Stadt der Liebe, Stadt<br />
der Kunst! Welche Verheißung<br />
gerade für einen Künstler, wenn<br />
man auch noch in der Cité Internationale<br />
des Arts, also ganz in<br />
der Nähe von Notre-Dame und<br />
somit mitten im Herzen von<br />
Paris untergebracht war. Dort<br />
angekommen, wollte er seine<br />
neue Heimat erst auf sich wirken<br />
lassen; wollte sehen, welche<br />
Ideen sie ihm eingeben würde.<br />
Doch speziell die Umgebung<br />
erwies sich für ihn alles andere<br />
als inspirierend: Mit einem<br />
bestimmten Code gelangte er<br />
ins Haus. Er entsprach auch der<br />
Zimmernummer, dem Postfach,<br />
der Telefonnummer… Es schien<br />
nur noch der Stempel auf seinem<br />
Hemd zu fehlen, denn wie<br />
ein Gefangener fühlte er sich<br />
an diesem unpersönlichen Ort.<br />
Und so stand er sinnend am einzigen<br />
Fenster und starrte hinaus:<br />
Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
hatte sich dieser mit dem Fall<br />
des britischen Sklavenschiffs<br />
„Zong“ befasst. 1781 wurden<br />
in einem Unwetter zahllose<br />
gekidnappte Afrikaner ins<br />
Wasser geworfen, wo sie den<br />
sicheren Tod fanden. Zuhause<br />
beantragte der Schiffbesitzer<br />
die Versicherungssumme für<br />
die getöteten Sklaven. Der<br />
schwarze Körper wirkt wie<br />
ein Menetekel, das zudem daran<br />
erinnert, wie heute wieder<br />
Afrikaner in den Meeren umkommen.<br />
Die Ausstellung verbindet<br />
internationale Positionen mit<br />
neuen Skulpturen der Freiburger<br />
Künstlerin Elisabeth Bereznicki,<br />
die nicht allein das<br />
Schwarz des Nachtstückes,<br />
sondern auch seine manieristische<br />
Seite aufgreift. Jaki Irvine<br />
befasst sich ebenfalls mit<br />
einem historischen Ereignis, das<br />
lange die irische Geschichte und<br />
Gegenwart beeinflusste. Wie<br />
auch in ihrem Roman „Days of<br />
Surrender“ greift die Acht-Kanal-Installation<br />
„If the Ground<br />
should open“ den Osteraufstand<br />
von 1916 auf. Die irische Künstlerin<br />
wies in ihrem Roman auf<br />
Blick in die Ausstellung<br />
Draußen nichts als eine große<br />
Wand, Dächer, viele Schornsteine<br />
und der Himmel.<br />
Er liebte diese wechselhafte<br />
Bühne da draußen. Anfangs<br />
wollte er noch alles festhalten<br />
und bewahren, zum Beispiel die<br />
Wolken oder die Schornsteine.<br />
Auch wird der Ausschnitt noch<br />
variiert, indem er seinen Fokus<br />
wie mit einem Kamera-Weitwinkelobjektiv<br />
mal in die Nähe,<br />
mal in die Ferne richtete. Doch<br />
allmählich manifestiert sich<br />
der Ausschnitt, das Motiv wird<br />
immer einfacher. Selbst der<br />
Himmel wandelt sich von den<br />
dramatischen Wolkengebirgen<br />
zur beredten Farbfläche, um so<br />
die Bedeutung von Frauen wie<br />
Elizabeth O’Farrell und Julia<br />
Grenan für den Aufstand gegen<br />
die Briten hin. Sie sind die<br />
eigentlichen Protagonisten ihrer<br />
Installationen, die aus acht<br />
Bildschirmen und Textseiten an<br />
den Wänden besteht. Diese sind<br />
kommentiert und mit Melodien<br />
überschrieben, die die Namen<br />
der Frauen vertonen und die<br />
gesungen oder mit dem Dudelsack<br />
gespielt im Raum zu hören<br />
sind.<br />
Und dann sind da noch Mitschnitte<br />
von irischen Bankern,<br />
die sich auf Kosten der Kunden<br />
bereicherten. Der Einsatz der<br />
Frauen und das Verhalten der<br />
Banker sind für Jaki Irvine zwei<br />
Seiten einer Medaille.<br />
Nachtstücke. Vom Verdrängten,<br />
der Nacht und der Farbe<br />
Schwarz. Galerie für Gegenwartskunst,<br />
E-Werk Freiburg,<br />
Eschhholzstr. 77. Do/Fr 17-20<br />
Uhr, Sa 14-20 Uhr, So 14-18<br />
Uhr. Bis 25. März<br />
15. März 19.30 Uhr Rahma<br />
Khazam und performative Lesung<br />
von Nadia Lichtig.<br />
Finissage, 25. März, 17 Uhr<br />
Werkgespräch mit Theo Eshetu.<br />
Annette Hoffmann<br />
die Grundstimmung des Tages<br />
und der Tageszeit einzufangen.<br />
– Kurzum, mit der wachsenden<br />
(Selbst-)Befreiung vollzog sich<br />
ein Abstraktionsprozess, der am<br />
Ende kaum mehr erkennen ließ,<br />
was der Seherfahrung ursprünglich<br />
zugrunde lag. Kein Bild ist<br />
die bloße Wiederholung eines<br />
anderen, sondern stets eine akribische<br />
Abwandlung und Neuformulierung<br />
des Gesehenen, und<br />
zwar allein durch den subtilen<br />
Einsatz der Farbe.<br />
Praxisgemeinschaft am Martinstor,<br />
Kaiser-Joseph Straße<br />
248, Freiburg. Mo bis Fr von<br />
8-18 Uhr. Bis 25. August <strong>2018</strong>.<br />
Friederike Zimmermann