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06 Blickpunkt<br />

März 2018 I Jahrgang 17 I Nr. 189<br />

Heute hier, morgen fort?<br />

Zeitarbeit ist zunehmend verbreitet, aber höchst umstritten. Daran ändert auch eine Gesetzesreform im letzten Jahr nichts.<br />

VON FRANK LUTZ<br />

Der Begriff ist in aller<br />

Munde, doch das Modell<br />

umstritten: Die Rede ist<br />

von der Zeit- oder Leiharbeit,<br />

auch als „Arbeitnehmerüberlassung“<br />

bezeichnet. Das Prinzip besteht<br />

darin, dass ein Arbeitnehmer<br />

sich nicht direkt bei den Unternehmen<br />

bewirbt, sondern die<br />

Zeitarbeitsfirma – auch „Personaldienstleister“<br />

genannt – mit dem<br />

Arbeitnehmer einen unbefristeten<br />

Vertrag abschließt. Entsprechend<br />

seiner Qualifikationen wird er von<br />

der Zeitarbeitsfirma für festgelegte<br />

Zeiträume und Projekte an<br />

verschiedene Unternehmen vermittelt.<br />

Dafür erhält der Personaldienstleister<br />

eine Gebühr.<br />

BOOM Bundesweit scheint das<br />

System zu boomen: Die Bundesagentur<br />

für Arbeit sprach im Juni<br />

2017 von über einer Million Leiharbeiter<br />

in ganz Deutschland, die<br />

bei fast 53 000 Zeitarbeitsfirmen<br />

angestellt waren. Sowohl die Zahl<br />

der Personen als auch der Betriebe<br />

sei in den letzten Jahren angestiegen.<br />

Der Anteil der Zeitarbeitnehmer<br />

an der Gesamtbeschäftigung<br />

betrage knapp drei Prozent.<br />

Auch in der Region war in den letzten<br />

Jahren eine leichte Zunahme<br />

zu registrieren: Laut Zahlen der Arbeitsagentur<br />

Schwäbisch Hall-Tauberbischofsheim<br />

hat im Agenturbezirk,<br />

der die Landkreise Hohenlohe,<br />

Schwäbisch Hall, Main-Tauber<br />

und Neckar-Odenwald umfasst,<br />

zwischen 2013 und 2017<br />

die Zahl der Zeitarbeitnehmer von<br />

gut 5200 auf knapp 6100 zugenommen.<br />

Auch ihr Anteil an der<br />

Gesamtzahl der sozialversicherungspflichtig<br />

Beschäftigten ist angestiegen<br />

– wenn der Zuwachs<br />

von 2,4 auf 2,6 Prozent auch nur<br />

marginal war.<br />

WETTBEWERB Leicht abgenommen<br />

– von 93 auf 91 – hat dagegen<br />

die Zahl der Zeitarbeitsfirmen.<br />

Auffällig: Besonders stark<br />

war der Rückgang bei den ganz<br />

kleinen Betrieben mit bis zu 19<br />

Mitarbeitern. Einen deutlichen Zuwachs<br />

gab es hingegen bei mittelgroßen<br />

Anbietern zwischen 50<br />

und 99 Mitarbeitern, die mit 32<br />

Betrieben inzwischen die größte<br />

Gruppe sind. Die Zahl der ganz<br />

großen Betriebe ab 100 Beschäftigten<br />

hat sich in den letzten Jahren<br />

fast gar nicht verändert. Das<br />

Fazit für die Region: Zwar gibt es<br />

einen leichten Zuwachs bei den<br />

Zeitarbeitnehmern, das hat aber<br />

nicht zu einem Boom der Zeitarbeitsfirmen<br />

geführt. Und: Langfristig<br />

scheinen sich die mittelgroßen<br />

und großen Anbieter am Markt<br />

durchzusetzen.<br />

Zeitarbeit bietet einige Vorteile:<br />

Die Unternehmen kommen relativ<br />

unkompliziert an neue Mitarbeiter<br />

heran und können Auftragsspitzen<br />

in der Produktion besser abfangen.<br />

Und für die Arbeitnehmer<br />

Ausblick: Die Änderungen am Arbeitnehmerüberlassungsgesetz haben bisher nicht für mehr Klarheit<br />

gesorgt. Doch generell von trüben Aussichten für die Leiharbeiter zu sprechen, wäre unberechtigt . Foto: DPA<br />

kann Zeitarbeit als Sprungbrett in<br />

die Erwerbstätigkeit dienen: Laut<br />

dem Interessenverband Deutscher<br />

Zeitarbeitsfirmen (IGZ) kamen<br />

im ersten Halbjahr 2017<br />

mehr als zwei Drittel der Zeitarbeitskräfte<br />

aus der Arbeitslosigkeit<br />

oder hatten vorher noch kein<br />

Beschäftigungsverhältnis.<br />

Auch Geringqualifizierte bekämen<br />

eine Chance. Zahlen der Arbeitsagentur<br />

für die Region belegen<br />

Letzteres: Von den knapp 6100<br />

Zeitarbeitnehmern im Agenturbezirk<br />

im Juni 2017 hat der größte<br />

Anteil – fast 2500 Personen – den<br />

Hauptschulabschluss gemacht,<br />

während die Zahl der Realschulabsolventen<br />

sowie der Abiturienten<br />

oder Fachabiturienten deutlich darunter<br />

liegt. Noch aussagekräftiger<br />

ist ein Blick auf die Berufsabschlüsse:<br />

Fast 2000 Personen bringen<br />

gar keinen Abschluss mit,<br />

während nur knapp 200 Akademiker<br />

sind.<br />

Weitere Vorteile der Zeitarbeit aus<br />

Sicht der Befürworter: Sie schaffe<br />

Arbeitsplätze, verhindere deren<br />

Verlagerung ins Ausland, biete die<br />

Möglichkeit, Berufserfahrung bei<br />

verschiedenen Unternehmen zu<br />

sammeln, könne als Türöffner zu<br />

„Global Playern“ dienen. Doch natürlich<br />

gibt es auch Schattenseiten:<br />

Besonders die Gewerkschaften<br />

kritisieren schlechte Arbeitsbedingungen,<br />

niedrige Löhne und<br />

eine unsichere Zukunft. Zudem<br />

würden Leiharbeiter aus Sicht der<br />

Kritiker nicht selten besser bezahlte<br />

Festangestellte verdrängen.<br />

So werde auch das Lohnniveau insgesamt<br />

gedrückt. Mancher Kritiker<br />

spricht sogar von „moderner<br />

Sklaventreiberei“.<br />

In der letzten Legislaturperiode<br />

unternahm Bundesarbeitsministerin<br />

Andrea Nahles einen Versuch,<br />

die rechtliche Stellung der Zeitarbeitnehmer<br />

zu verbessern: Im<br />

April letzten Jahres trat eine Änderung<br />

des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes<br />

(AÜG) in Kraft. Die<br />

zwei wichtigsten Neuerungen:<br />

Zum einen trat die Höchstüberlassungsdauer:<br />

Zeitarbeitnehmer<br />

dürfen nur noch bis zu 18 Monaten<br />

an ein Unternehmen verliehen<br />

werden. Zum anderen gilt bereits<br />

nach neun Monaten „Equal Pay“:<br />

Nach diesem Zeitraum müssen<br />

Leiharbeiter den gleichen Lohn erhalten<br />

wie Stammbeschäftigte.<br />

SCHLUPFLÖCHER Bei genauerem<br />

Hinsehen enthält das Gesetz<br />

aber einige Schlupflöcher: So dürfen<br />

tarifgebundene Unternehmen<br />

die Höchstüberlassungsdauer<br />

überschreiten. Auch sei Equal Pay<br />

nur unzureichend definiert, sagen<br />

die Kritiker. Während die Industrie-<br />

und Handelskammern durch<br />

die stärkere Reglementierung um<br />

die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen<br />

Wirtschaft fürchten, forderte<br />

Verdi-Chef Frank Bsirske<br />

noch schärfere Regeln – etwa<br />

Equal Pay vom ersten Tag an. Außerdem<br />

solle die Höchstüberlassungsdauer<br />

auf den Arbeitsplatz<br />

bezogen werden – nicht auf den<br />

Arbeitnehmer – da die Unternehmen<br />

sonst einfach alle 18 Monate<br />

den Leiharbeiter austauschen<br />

könnten. Eines zumindest ist klar:<br />

Die Gesetzesänderungen – wie<br />

auch das Thema Zeitarbeit insgesamt<br />

– wird noch für viele Diskussionen<br />

sorgen.<br />

„Beschäftigungsmöglichkeiten für jeden“<br />

Stefan Schubert, Geschäftsführer und operativ-stellvertretender Leiter der Agentur für Arbeit Schwäbisch Hall-Tauberbischofsheim, über die aktuelle Situation<br />

der Leiharbeit in der Region, ob sie eine Alternative darstellt und wie sich der Anteil an Zeitarbeitskräften entwickeln wird. INTERVIEW VON ALISA GRÜN<br />

REGIOBUSINESS Herr Schubert,<br />

welche Auswirkungen hat<br />

Leiharbeit Ihrer Meinung nach<br />

auf den Arbeitsmarkt in der Region?<br />

STEFAN SCHUBERT Im Agenturbezirk<br />

Schwäbisch Hall-Tauberbischofsheim<br />

ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig<br />

Beschäftigten<br />

in den letzten Jahren gestiegen<br />

und parallel wächst auch die Zahl<br />

der Beschäftigten in Zeitarbeitsunternehmen.<br />

2,6 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen<br />

Beschäftigten<br />

im Agenturbezirk sind<br />

in Zeitarbeit tätig und der Anteil<br />

ist in den letzten Jahren in etwa<br />

gleich geblieben. Der Bedarf, insbesondere<br />

an qualifiziertem Personal,<br />

ist hoch und wird dies auch<br />

erst mal bleiben. Zeitarbeit hat<br />

sich als Instrument erwiesen, das<br />

Unternehmen Flexibilität verleiht<br />

und für Arbeitslose Chancen auf<br />

eine Integration in den Arbeitsmarkt<br />

eröffnen kann.<br />

REGIOBUSINESS Gibt es momentan<br />

eine ansteigende Konzentration<br />

auf Leiharbeit in der Region<br />

oder bestätigen die Zahlen<br />

der Agentur für Arbeit diese Vermutung<br />

nicht?<br />

STEFAN SCHUBERT Regional ist<br />

keine ansteigende Konzentration<br />

der Leiharbeit erkennbar.<br />

REGIOBUSINESS Eine Einschätzung:<br />

Ist die Leiharbeit für Arbeitnehmer<br />

eine gute Alternative<br />

zur Festanstellung oder erleichtert<br />

sie zumindest den Weg in die<br />

Festanstellung?<br />

STEFAN SCHUBERT Zeitarbeit<br />

bietet Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

für jeden. Und meist sind die<br />

Einstellungshürden nicht so hoch<br />

wie bei einer unbefristeten Festanstellung.<br />

Es eröffnen sich somit<br />

auch Chancen für diejenigen, die<br />

es aus unterschiedlichen Gründen<br />

schwerer haben, beruflich Fuß zu<br />

fassen. Dazu gehören zum Beispiel<br />

Menschen, die längere Zeit<br />

arbeitslos sind, Berufseinsteiger<br />

und Geringqualifizierte. Arbeitnehmer<br />

haben die Möglichkeit, Berufserfahrung<br />

zu sammeln, berufliche<br />

Kenntnisse zu erwerben<br />

oder nach einer längeren Beschäftigungspause,<br />

zum Beispiel aufgrund<br />

von Erziehungs- und Pflegezeiten,<br />

den Wiedereinstieg zu<br />

schaffen. Das Netz aus beruflichen<br />

Kontakten wird erweitert und oftmals<br />

kann es dadurch auch zu einer<br />

Anschluss- oder Festanstellung<br />

kommen. Auch Migranten<br />

können profitieren. Denn im Ausland<br />

erworbene Abschlüsse sind<br />

für Arbeitgeber oft nicht so gut einzuschätzen.<br />

Über Zeitarbeit können<br />

sie zeigen, welche Kenntnisse<br />

Einstieg: Stefan Schubert sieht Zeitarbeit als Chance für diejenigen,<br />

die es sonst aus unterschiedlichen Gründen schwerer haben,<br />

beruflich Fuß zu fassen.<br />

Foto: Agentur für Arbeit<br />

sie haben. Und über eine Beschäftigung<br />

fällt es auch leichter, die<br />

deutsche Sprache besser und<br />

schneller zu lernen.<br />

REGIOBUSINESS Wie geht die<br />

Agentur für Arbeit mit der Thematik<br />

um? Gibt es gezielte Unterstützung<br />

für die Leiharbeit, um beispielsweise<br />

arbeitslose Menschen<br />

so wieder in ein Beschäftigungsverhältnis<br />

zu bringen?<br />

STEFAN SCHUBERT Zeitarbeit<br />

hat sich mittlerweile zu einem festen<br />

Bestandteil des Arbeitsmarktes<br />

entwickelt. Wir arbeiten seit<br />

Jahren auch mit Zeitarbeitsfirmen,<br />

etwa über die von der Bundesagentur<br />

für Arbeit bereitgestellten<br />

’eServices’, zusammen.<br />

REGIOBUSINESS Am 1. April<br />

2017 traten Änderungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes<br />

in Kraft, die unter anderem eine<br />

Höchstüberlassungsdauer von 18<br />

Monaten und „Equal Pay“ nach<br />

neun Monaten vorsehen. Hat sich<br />

die Situation der Leiharbeiter dadurch<br />

tatsächlich verbessert?<br />

STEFAN SCHUBERT Arbeitnehmerüberlassung<br />

ist infolge von<br />

Konjunkturanfälligkeit und wechselnden<br />

Einsätzen vielfach auch<br />

mit Unsicherheiten für Arbeitnehmer<br />

verbunden. Die Neuregelungen<br />

des Arbeitnehmerüberlassungsgesetztes,<br />

wie beispielsweise<br />

zur Überlassungsdauer und zu<br />

Equal Pay sind gesetzliche Pfeiler,<br />

die für mehr Transparenz und<br />

Rechtssicherheit sorgen. Sozialpartnerschaft<br />

und Tariflandschaft<br />

werden gestärkt. Die Neuregelungen<br />

lassen den Tarifpartnern Gestaltungsfreiheit<br />

und setzen hierfür<br />

lediglich einen gesetzlichen<br />

Rahmen.<br />

REGIOBUSINESS Denken Sie,<br />

dass Angebot der Personaldienstleister<br />

und Nachfrage nach Leiharbeit<br />

in Zukunft weiter ansteigen?<br />

STEFAN SCHUBERT Grundsätzlich<br />

gibt es alle Qualifikationsstufen<br />

und fast alle Tätigkeitsfelder in<br />

Form von Zeitarbeit. Zeitarbeitskräfte<br />

sind im Dienstleistungssektor,<br />

in der Metall- und Elektrobranche<br />

sowie in den Bereichen<br />

Verkehr, Logistik, Schutz und Sicherheit<br />

nachgefragt. Die Arbeitnehmerüberlassung<br />

ist eine etablierte<br />

Personaldienstleistung und<br />

stellt für die Einsatzunternehmen<br />

eine Form des flexiblen Personaleinsatzes<br />

dar. Dies wird von manchen<br />

Firmen genutzt, manche nutzen<br />

es nicht. Der Anteil von Zeitarbeitskräften<br />

wird sich entsprechend<br />

der konjunkturellen Lage<br />

und Nachfrage entwickeln.

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