MQ Fru_hjahr 18 red
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Das Foto zeigt die Bremer Straße um 1925 in Richtung Bevern. Der Fotograf stand in Höhe des Hauses Nr. 24.<br />
Rechts ist das alte Haus Elbers zu sehen, dahinter das Elternhaus meines Vaters (bei den beiden Eichen mehr zu ahnen).<br />
Hier wohnte ich mit meinen Eltern. Die Oma aus Mönchengladbach hat uns hier oft besucht.<br />
FAMILIENGESCHICHTEN<br />
Auf meinem Kaminsims hat<br />
sie ihren Platz gefunden,<br />
die kleine Statue. Einen<br />
Fußballspieler stellt sie dar,<br />
lässig an einen Pfosten gelehnt,<br />
einen Ball zwischen<br />
den Füßen. Auf dem Sockel<br />
steht geschrieben: Freie Elf<br />
Neudek. Ein Blender, gibt sie doch vor<br />
aus Bronze zu sein. Nimmt man sie aber<br />
in die Hand, merkt man sofort, dass sie<br />
aus Steingut besteht. Eigentlich nichts<br />
Besonderes, aber für mich ein Kleinod,<br />
dass ich niemals hergeben würde.<br />
Meine Großeltern, Edwin und Maria Kohaut<br />
lebten vor dem Zweiten Weltkrieg<br />
mit ihren beiden Töchtern Marianne und<br />
Elisabeth, (Elisabeth war meine Mutter),<br />
im Sudetenland, jenem nordwestlichem<br />
Grenzgebiet der Tschechei. Sie arbeiteten<br />
in einer großen Fabrik, einer Kammgarnspinnerei.<br />
Diese unterhielt eine<br />
Fußballwerksmannschaft, in der auch<br />
mein Großvater spielte. Die Figur war<br />
wohl so etwas ähnliches wie für einen<br />
Schützenverein die Vereinsfahne. Da sie<br />
bei Großvater zu Hause verwahrt wurde,<br />
muss er wohl einen besonderen Posten<br />
innegehabt haben, vielleicht Kapitän.<br />
Nach Ausbruch des unseligen Krieges<br />
wurde auch Großvater 1940 eingezogen.<br />
Im Herbst 1944 geriet er in russische<br />
Gefangenschaft, wo er im Januar 1945<br />
starb. Doch davon wusste Großmutter<br />
nichts. Das letzte Lebenszeichen war ein<br />
Genesungsurlaub nach einer Verwundung<br />
im Sommer 1944.<br />
Mit dem verlorenen Krieg wurden<br />
nicht nur die Schlesier und Ostpreußen,<br />
sondern auch die Sudetendeutschen<br />
aus ihrer Heimat vertrieben. Innerhalb<br />
weniger Stunden mussten zwanzig<br />
Kilogramm Gepäck pro Person gepackt<br />
werden und fort ging es auf einem LKW.<br />
Meinem Großvater musste die Figur<br />
sehr viel bedeutet haben, denn diese war<br />
sicherlich das<br />
Unnützeste<br />
was meine<br />
Großmutter<br />
mitgenommen<br />
hatte.<br />
Zuerst wurden sie ins Landesinnere der<br />
Tschechoslowakei gebracht. Fast zwei<br />
Jahre mussten sie dort auf einem Bauernhof<br />
arbeiten. Dann kam die endgültige<br />
Aussiedlung. Grenzdurchgangslager<br />
war das ehemalige KZ Dachau. Hier<br />
waren neben den Aussiedlern auch deutsche<br />
Kriegsgefangene untergebracht.<br />
Tschechen und Russen bewachten das<br />
Lager. Hier wurde Großmutter Zeuge<br />
wie menschenverachtend und brutal<br />
auch die deutschen Soldaten behandelt<br />
wurden. Einmal beobachtete sie, wie<br />
ein tschechischer Wachsoldat einem<br />
deutschen Kriegsgefangenem mit dem<br />
Gewehrkolben einen Schlag auf den<br />
Kopf versetzte. Das dumpfe Klatschen<br />
hätte man über den ganzen Platz gehört.<br />
Sicherlich dachte sie dann oft an ihren<br />
Mann, den sie auch in Gefangenschaft<br />
wähnte und fragte sich, wie es diesem<br />
wohl erging.<br />
Nach Monaten ging es dann auf Umwegen<br />
in das westdeutsche Mönchengladbach,<br />
wo Facharbeiter in den dortigen<br />
Kammgarnfabriken gesucht wurden und<br />
wo sich schon einige Familienmitglieder<br />
angesiedelt hatten. Und immer war der<br />
Fußballspieler mit dabei. Ist es nicht fast<br />
ein kleines Wunder, dass diese zerbrechliche<br />
Figur das alles überstanden hatte?<br />
Wie oft mag Großmutter sie betrachtet<br />
haben um sich vorzustellen, wie sie<br />
beim Wiedersehen mit ihrem Mann ihm<br />
die Figur, die sie herübergerettet hatte,<br />
geben konnte. Das er schon lange tot<br />
war, erfuhr sie erst 1950. Meine Mutter<br />
erzählte mir, nach der Todesnachricht<br />
hätte sich Großmutter drei Tage lang ins<br />
Bett gelegt und wäre nicht ansprechbar<br />
gewesen. Wie oft mag sie später mit Tränen<br />
in den Augen vor der Figur gestanden<br />
haben, als Symbol von Hoffnung und<br />
unsäglichem Leid.<br />
Warum schreibe ich das? Um ein Familienschiksal<br />
aus dem von Millionen<br />
anderer herauszureißen und über ein<br />
Frauenschicksal des<br />
zwanzigsten Jahrhunderts<br />
zu berichten,<br />
dem Schicksal meiner<br />
Oma, die ich so sehr<br />
geliebt habe.<br />
Oma, Opa,<br />
die beiden Töchter<br />
(links meine Mutter)<br />
Wolfgang Bergfeld<br />
Ausgabe Frü<strong>hjahr</strong> 20<strong>18</strong> mq | 29