KIRRMANNS SCHWUR
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dann im Bahnhof von Étampes, fünfzig Kilometer südlich von Paris, ein. Auf gut Glück warteten<br />
wir in der dichten Menschenmenge auf den Zug, der die Flüchtlinge nach Paris bringen sollte.<br />
Und siehe da! Ein Güterwagenzug mit einem einzigen und freiwilligen Lockführer wurde<br />
zusammengestellt. Die Waggons füllten sich, als eine deutsche Einheit anrückte und jeden<br />
Waggon nach versteckten Gefangenen kontrollierte. Einige Männer wurden herausgeholt und<br />
abgeführt. Mein Kumpel wurde in Ruhe gelassen, gar nicht kontrolliert, und ich antwortete auf<br />
Deutsch, dass ich erst neunzehn war und dass die Franzosen in dem Alter nicht eingezogen<br />
wurden. Dabei hatte ich nicht weniger Angst als bei der Flucht aus Salbris, einige Tage zuvor.<br />
Nachts hielt der Zug im Pariser Bahnhof Austerlitz: Sperrstunde. Es blieb uns nichts anderes<br />
übrig, als auf dem Beton zu übernachten. Am nächsten Morgen zogen wir zur Rue Jarente, im<br />
Marais-Viertel, und als wir zum vierten Stock hinaufstiegen und das alte Arbeiterpaar den Neffen<br />
erblickte, flossen die Tränen. Die einfache Wohnung, in der ich mich zwei Tage ausruhen konnte,<br />
sollte ich später nicht wiedererkennen, denn wie das ganze Viertel sollte sie dem<br />
Restaurationsboom ausgeliefert und zu einer eleganten Zwei-Zimmer-Wohnung zu horrenden<br />
Mietpreisen renoviert werden.<br />
2. Juli 1940. Die Geschäfte und Läden machten allmählich wieder auf und meinem Plan<br />
entsprechend wurde der Knappsack mit Wurst, Pastete- und Sardinenkonserven aufgefüllt. Die<br />
Pariser U-Bahn, die Metro, war streckenweise wieder in Betrieb. Ich fuhr bis zur Porte d’Italie und<br />
begab mich auf die Nationale 5 bis zum Senart-Wald, wo ich die Nacht verbrachte.<br />
7. Juli 1940. Nach fünf Tage Marsch über 323 Kilometer erreichte ich Dijon, Departement Côte<br />
d’Or. Die Flüchtlinge zogen allmählich nordwärts. Ohne Schwierigkeiten wurde mir auf dem<br />
Land Übernachtung in den Scheunen gestattet, nur nicht in der Stadt Montereau, wo ich nachts<br />
auf dem zerstörten Eisenbahndepot in einem Reisewaggon erster Klasse pennte. Immer wieder<br />
begegneten mir Militär- und Gefangenenkolonnen. Einmal wurde ich von einem jungen deutschen<br />
Offizier angehalten, der mich fragte, ob ich Soldat sei.<br />
Ich rechnete zusammen: in den neunzehn Tagen war ich etwa 920 Kilometer gelaufen, also einen<br />
Durchschnitt von 60 pro Tag. Socken hatte ich schon lange nicht mehr, aber keine Blasen an den<br />
Füßen. Das Französische Militär hatte gute Schuhe!<br />
Die Gastfamilie meiner Schwester hatte wie alle gehandelt: sie waren geflüchtet und noch nicht zu<br />
Hause zurück. Der Werkmeister der Molkerei, mit der Aufsicht beauftragt, ließ mich mit dem<br />
Lieferwagen zu dem Kuhhirten auf dem Hof in Changey, einige Kilometer entfernt, bringen. Sein<br />
Häuschen stand unweit vom Herrenhaus, in deren Nebengebäuden bis vor der Evakuierung der<br />
Veterinärdienst der Französischen Armee untergebracht war. Alles war vernichtet und überall<br />
herrschte Unordnung. Ich fand ein Bettgestell, eine Matratze und haufenweise Bücher im<br />
Durcheinander, der in der Eile zurückgelassen worden war. Die Mahlzeiten nahm ich zusammen<br />
mit dem Ehepaar ein. Auch er - ein Veteran von 1914, mit der Medaille «mirlitaire» geehrt -, seine<br />
Frau und ihr taubstummes Töchterchen warteten auf die Rückkehr des Herrn.<br />
Einige Tage gingen vorbei. Die aufrückenden deutschen Truppen machten immer wieder halt,<br />
nahmen mit, was noch mitzunehmen war, oder wurden in Einheiten einquartiert. Für die<br />
euphorischen Sieger war ich der Verwandte aus der Stadt, in Ferien auf dem Bauernhof. Sie gaben<br />
mir ihre Propagandameldungen zu lesen. So vernahm ich, dass die Maginotlinie gefallen war.<br />
Auch las ich die Veröffentlichung der wichtigsten Klauseln des Waffenstillstands: mit Ausnahmen<br />
von den Elsässern und den Lothringern, blieben die Kriegsgefangenen in Gefangenschaft «bis zum<br />
Ende der Kampfhandlungen»; diejenigen, die noch weiter kämpfen sollten, wurden als<br />
Freischärler betrachtet und behandelt, mit anderen Worten: sofort erschossen. Der Verlauf der<br />
Demarkationslinie, infolge deren drei Fünftel von Frankreich als Besatzungszone galt, war<br />
ebenfalls in diesen Bulletins wiedergegeben. Ratlos strengte ich mich an, nicht mehr zu überlegen,<br />
nahm die Unterkunft und Versorgung weiter in Anspruch und wartete auf die kommenden<br />
Nachrichten, auch wenn ich nicht wusste, was für Nachrichten wann kommen würden.<br />
Plötzlich ging alles sehr schnell: am 9. Juli trafen meine Eltern in Dijon ein. Es war ihnen<br />
gelungen, mit dem Wagen von Saverne nach Dijon zu kommen, um meine Schwester abzuholen.<br />
Sie war zwei Tage vorher, begleitet von ihren Gastgebern, aus dem Cantal zurückgekommen.<br />
Große Erleichterung für meine Eltern, die beiden Kinder wiederzusehen. Immer noch gab es<br />
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