KIRRMANNS SCHWUR
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dass wenn die Landung der Alliierten in 1943 stattgefunden hätte, er sich - wie viele andere - mehr<br />
offen in der Résistance hätte engagieren können und - paradoxerweise - weniger gefährdet<br />
gewesen wäre.<br />
Die Landung - die “Invasion“, wie die Deutschen sie bezeichneten - ließ auf sich warten. Der<br />
einzige Lichtblick, der meine Stimmung ein wenig heben konnte - war die Nachricht von den<br />
Brüdern Knoll-Demars, während mehrerer Wochen in unserer Baracke untergebracht -, dass die<br />
junge “Titi“, alias Augusta Fran, aus dem Gestapohaus in Royat geflohen war.<br />
Was meine Person betrifft, gibt es über die vierzig Tage in Compiègne weiter nicht vieles zu<br />
erzählen. Ich war zur Inaktivität gezwungen, hielt Ausschau nach einer Fluchtgelegenheit<br />
zwischen den Generalappels um acht Uhr morgens und fünf Uhr abends, während des<br />
Kartoffelschälens… Nach dem Kartoffeldienst wurden wir beim Ausgang des Raums sorgfältig<br />
kontrolliert und auf Reste durchsucht. Ich weiß nicht, wo die Kartoffelstärke letztendlich gelandet<br />
ist, jedenfalls nicht in unseren Essnäpfen. Ich versuchte, meinen Hunger zu vergessen, indem ich<br />
mich dem Kreis “Allgemeinkultur“ anschloss. Die Veranstaltungen wurden von mehreren<br />
verhafteten Intellektuellen auf hohem Niveau organisiert, um ihre Kameraden abzulenken. Bei<br />
einem dieser Treffen lernte ich Robert Desnos, einen poetischen Geist mit einer<br />
außergewöhnlichen Ausstrahlung, kennen. Er sollte mich im selben Deportationskonvoi begleiten.<br />
Mitte April 1944 waren wir etwa zweitausendfünfhundert Häftlinge. Nicht alle wurden wegen<br />
ihrer Teilnahme am Widerstand verhaftet. Viele waren einfach Opfer von den Repressalien nach<br />
dem Poterne-Attentat oder Zivilisten aus Murat, denen nach dem Attentat auf Geissler die<br />
Erschießung erspart geblieben war. Es gab auch einige schwarze Schafe, nämlich ehemalige<br />
Denunzianten bei der Gestapo - aus politischer Sympathie oder aus Habgier -, vor denen wir auf<br />
der Hut waren. Die Gestapo zögerte nicht, diese “Mitarbeiter“ einzusperren, nachdem sie ihre<br />
“Dienstverleihung“ voll ausgenutzt hatte. Sie wurden von uns frühzeitig ausfindig gemacht und<br />
unter Quarantäne gestellt. Einer von ihnen, bereits ernsthaft verletzt, konnte nur dank der<br />
Intervention der Deutschen und Evakuierung in ein kleines Nebenlager dem Lynchen<br />
entkommen.<br />
Am wenigsten auf die Deportation vorbereitet, etwa die Hälfte der Häftlinge im Lager<br />
Compiègne, waren diejenigen, die nie mit einer Verhaftung gerechnet hatten und<br />
“zufälligerweise“ bei einer Razzia gefasst wurden. Sie sollten dann auch die Todeszahl steigern.<br />
Für manche war die ihnen zugeteilte Behandlung wie eine Offenbarung und sie reagierten<br />
angepasst auf diese Situation. Die Mehrheit zeigte jedoch ein unerhörtes Verhalten. So fällt mir die<br />
Angelegenheit mit den etwa zweihundert verhafteten Männern aus Saint-Claude im Jura wieder<br />
ein. Mitte April landeten sie in Compiègne.<br />
Nach einem Sabotageakt auf Einrichtungen der Wehrmacht befahl die Kommandatur zu Saint-<br />
Claude, mittels Plakate in der Stadt, allen männlichen Einwohnern zu vorgegebener Zeit beim<br />
Rathaus vorstellig zu werden. Und sie gingen hin. Es kamen sogar einige S.T.O.-Verweigerer aus<br />
dem Maquis, auf Befehl ihres Führers, um sich zu erkundigen. Fast alle wurden gefasst und sofort<br />
nach Compiègne gebracht, ohne Vernehmung oder Verhör. Sie wurden in einem getrennten Lager<br />
untergebracht, aber wir konnten durch die Stacheldrahtabsperrung miteinander reden. Eines<br />
Tages brauchten die Deutschen eine größere Mannschaft für Aufräumungsarbeiten am Bahnhof<br />
zu Compiègne. Eine RAF-Bombardierung hatte einen Teil des Bahnhofs in Schutt gelegt. (Ein<br />
Zeichen, dass die Landung vorbereitet wurde: in den Wochen vor der “Invasion“ griff die RAF<br />
systematisch die Rangierbahnhöfe an.) Die gesamte Gruppe aus Saint-Claude kam zum Einsatz,<br />
von nur zwei Wachposten begleitet. Erst anderntags erfuhren wir mit Entsetzen, was geschehen<br />
war. Es gab Deserteure, aber - man staune - nur die Ukrainer, vermutlich zwangseingezogene,<br />
hauten ab. Keiner aus der Gruppe Saint-Claude ergriff die Flucht. Stärker noch: in Reih und Glied,<br />
ohne Wächter, präsentierten sie sich abends beim Wachposten am Eingangstor des Lagers, der sie<br />
anfangs nicht hereinlassen wollte. Wir schämten uns für sie!<br />
Ich weiß nicht, wie viele von ihnen in der Deportation umkamen, aber den Überlebenden wurde<br />
das Statut des “deportierten Résistants“, wie vom Gesetz von 1948 vorgesehen, verweigert. Wie<br />
mir später von einem Kameraden vor Ort - ich habe seinen Namen vergessen - erzählt wurde, war<br />
dieser Zwischenfall für einen unserer jüngsten Résistants die Gelegenheit zur Flucht. Der Junge,<br />
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