KIRRMANNS SCHWUR
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stellte mich bei Victor vor. Es brauchte noch einige Zeit, um einen Passeur, einen Fluchthelfer, zu<br />
finden, und am vorgesehenen Tag nahm ich den Zug nach Bourges, wo ich beim Ehepaar Daum<br />
und deren drei jungen Söhnen untergebracht wurde. Ich schlief im Bett des jüngsten, der wie sein<br />
Vater und seine Mutter redselig, lustig und rothaarig war. Die Stimmung war bestens. Am<br />
gleichen Abend vernahmen wir über den BBC-Rundfunk, dass Rudolf Heß, der sich eingebildet<br />
hatte, einen imaginären, separaten Frieden mit England schließen zu können, mit dem Fallschirm<br />
über Schottland abgesprungen war. Wir wissen, wie es weiterging.<br />
Eine junge Grundschullehrerin, die in direkter Verbindung mit dem Fluchthelfer stand, kam zu<br />
uns. In der Nacht sollte es los gehen. Genau beschrieb sie uns den Weg, um zum Treffpunkt,<br />
einem Haus am Dorfrand in Trouy, zu gelangen. Daum begleitete mich bis zum Ortseingang. Als<br />
ich ein letztes Mal zurückblickte, sah ich wie er, auf seinen Gehstock aus Bambus gestützt,<br />
wartend zuschaute bis ich von der Dunkelheit umgeben war. Erst 1946 sollte ich ihn wiedersehen,<br />
denn auch er wurde deportiert. Nach meiner Flucht wurde er mehr und mehr aktiv in der<br />
Widerstandsbewegung und eines Tages wurde er gefasst. Er überlebte die Deportation und die<br />
Gefangenschaft im KZ und nach der Befreiung wurde er zum Staatskommissar in Nîmes ernannt.<br />
Er schließ seine Karriere als Generalinspektor des Öffentlichen Bildungswesens ab. In seiner<br />
Geschichte, die in der Sammlung der Straßburger Augenzeugenberichte aufgenommen und nach<br />
dem Krieg von der Universität herausgegeben wurde, beschreibt er auf besonders pikante Art und<br />
Weise den Vorgang des Latrinendienstes im KZ.<br />
Frau Daum hatte mir ein Säckchen Pfeffer mitgegeben, denn die Grundschullehrerin hatte mich<br />
gewarnt: Die einzige unvorhersehbare Gefahr könnte von einer Sonderpatrouille mit Hunden<br />
ausgehen. Ohne Zwischenfälle fand ich das Haus des Fluchthelfers, der über meine<br />
Personenbeschreibung Bescheid wusste.<br />
Bei Nacht gingen wir fort. Nach einigen Minuten Marsch gab er mir die genaue Richtung an und<br />
zeigte mir, etwa dreihundert Meter entfernt, die Stromkabine, an der ich rechts vorbeigehen sollte.<br />
Dahinter war die freie Zone. Den weiteren Weg ging ich allein, den Rest des Pfeffers hinter mir<br />
ausstreuend. Plötzlich, auf gut hundert Metern hinter der Elektrizitätskabine stand ich Auge in<br />
Auge mit einem Wachposten mit Bajonett… der Französischen Vichy-Armee. Das gab mir die<br />
Sicherheit, dass ich mich in der freien Zone befand. Anscheinend fand der brave Mann es als<br />
selbstverständlich, mich dort zu treffen. Er zeigte mir den Bauernhof, wo ich in der Scheune<br />
pennen konnte, was ich dann auch tat.<br />
Morgens, nach dem Aufwachen, ging ich mich bei den Eigentümern vorstellen. Sie hatten mich<br />
kommen gehört und wussten, dass ich in der Scheune geschlafen hatte. Bevor ich weiterzog, sollte<br />
ich doch etwas zu mir nehmen, das waren sie so gewohnt. Ich hatte schon Mühe gehabt, dem<br />
Passeur einen 100-Francs-Schein in die Hände zu drücken (der damalige Monatsgehalt betrug<br />
etwa 1200 FF), aber diese Landwirte lehnten jede Form von Entgeld, sowohl für die Übernachtung<br />
als auch für das Chicorée-Milch-Brot-Butter-Frühstück, entschieden ab. Sie zeigten mir die Route<br />
nach Issoudun, Departement Indre. Unterwegs dachte ich an den Untersuchungsrichter Mischlich<br />
und kam zu der Meinung, er hätte sich mir, auf diesem Fluchtweg anschließen sollen. Dann hielt<br />
ein Citroën Traction Avant, auf meiner Höhe an. Ein junges Paar bot an, mich nach Issoudun<br />
mitzunehmen. Im Verlauf des Gesprächs merkte ich, dass sie verstanden hatten. Auf halber<br />
Strecke hielt der Fahrer bei einem Werk an, zeigte auf ein Büro und bat mich, dort die<br />
«Aktentasche des Monsieur Bureau» abzuholen. Dann fuhr er weiter und beim Ortseingang von<br />
Issoudun erklärte er mir den Weg zum Kolleg. Drei Jahren später traf ich André Bureau wieder,<br />
nämlich im Konvoi der Deportierten vom 29. April 1944, von Compiègne aus erst nach Auschwitz,<br />
dann weiter, über Buchenwald, nach Flossenbürg, wo wir am 25. Mai 1944 landeten. Im Herbst<br />
1944 starb André völlig erschöpft im KZ Flossenbürg.<br />
Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich davon wusste, aber der Vorsteher des Zaberner<br />
Kollegs, unser damaliger Französischlehrer in der Abschlussklasse, war nach Issoudun berufen<br />
worden. Auf meinem Weg nach Clermont machte ich Halt im Kolleg, aber er war abwesend. Seine<br />
Frau, Madame Drion, die mich sehr freundlich empfing, sorgte für die erste Enttäuschung. Seit<br />
Lunéville waren mir nur Leute begegnet, die ernsthaft darüber nachdachten, wie sie - in<br />
Erwartung des Kriegsendes - solidarisch gegen den Feind kämpfen könnten. Das war eine<br />
stillschweigende Bejahung der Politik des De Gaulles, des Gaullismus. Aber Frau Drion erzählte<br />
von ihrem Ehegatten und dass dieser der Politik des Marschalls Philippe Pétain voll vertraute und<br />
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