KIRRMANNS SCHWUR
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Lothringen, wie Alber Kirrmann, auf Bescheinigung zur École Normale Supérieure ENS der<br />
Ulmer Straße zuzulassen. Kirrmann, der diese Schule absolvierte, war Professor der organischen<br />
Chemie an der Fakultät der Wissenschaften der Straßburger Universität, bei Kriegsbeginn nach<br />
Clermont-Ferrand ausgewandert. Nach seiner Rückkehr bei der Befreiung der<br />
Konzentrationslager sollte er Rektor dieser Universität werden. Ich hatte das Glück, mit ihm in<br />
Verbindung zu bleiben, als er später, am Schluss seiner Karriere, stellvertretender Direktor der<br />
École Normale Supérieure in der Ulmer Straße war. Leider hatte er kaum die Gelegenheit, seinen<br />
wohlverdienten Ruhestand zu genießen. Mehrere ihm sehr nahegehende Sterbefälle in seinem<br />
Umkreis schwächten ihn rasch. Sein letzter Ausgang führte ihn zu mir in einem Pariser Vorort, um<br />
meine kleine Agnes, drei Jahre alt, zu grüßen. Einige Wochen später, Ende 1974, erlag er dem<br />
Krebs. Er war ein vernünftiger Hugenotte, streng zu sich selbst, aber tolerant gegenüber den<br />
anderen, der seinen Mitgefährten, sowohl im Gefängnis als auch im Deportationslager, große<br />
moralische Unterstützung gab.<br />
Bevor ich mit meiner Geschichte weiterfahre, möchte ich noch auf die Schriften von Albert<br />
Kirrmann («Buchenwald, la grande ville» - Buchenwald, die große Stadt) und Charles Sadron («À<br />
l‘usine de Dora» - In der Fabrik zu Dora) hinweisen. Es sind m. E. die kompaktesten und<br />
objektivsten Berichte, die je über das Konzentrationslager Buchenwald und dessen Kommando<br />
Dora geschrieben und 1947 in den “Témoignages Strasbourgeois“ - (Verlag “Belles Lettres“),<br />
Neuausgabe 1954 und seitdem bestimmt vergriffen - veröffentlicht wurden.<br />
Erster Sonntag im Dezember. Wir alle waren überzeugt, dass nun die Verhöre vor der Gestapo<br />
folgen würden. Wir wurden aus unserem Schlafsaal geholt und zum Nebengebäude geführt. In<br />
einem großen Raum, der deutschen Einheit vorher als Mensa eingerichtet und nun leergeräumt,<br />
wurden wir in einer langer Kolonne, den Fenstern und dem Tageslicht gegenüber, aufgestellt und<br />
von einem eleganten Polizisten in Bürgerkleidung, unter Beistand eines Offiziers in Uniform,<br />
untersucht. Der Polizist begnügte sich, jeden einzelnen kurz zu untersuchen und fast jedem<br />
dieselben Fragen zu stellen, nämlich ob wir an der Universität eine deutschfeindliche Aktion<br />
führten, welcher politischen Richtung wir angehörten, ob wir uns als Franzosen oder als<br />
Deutschen betrachteten. Alles wurde schnell abgewickelt, ein Verhör war es eigentlich nicht. Einer<br />
von uns, Unbegaun, ein Weißrusse und Lektor für slawische Sprachen an der Universität,<br />
antwortet, dass seine einzige politische Aktivität darin bestanden hatte, nach der Revolution von<br />
1917 General in der Armee des Zars und in dieser Eigenschaft zweimal verwundet gewesen zu<br />
sein. Das schien den Polizisten, - so wie wir später erfuhren - den Reichskommissar Geissler, Chef<br />
der Gestapo für die Südzone Frankreichs (das gesamte, vor November 1942 nicht besetzte Gebiet),<br />
wohl beeindruckt zu haben. Unbegaun erzählte mir später, dass er tatsächlich Befehlshaber der<br />
Artillerieeinheit der Weißen Armee war, die Dnipropetrovsk in der Ukraine wiedereroberte.<br />
Diese “Allgemeine Übersicht“ war nur das Vorspiel zu den einzelnen Verhören, die in den<br />
nächsten Tagen stattfinden sollten.<br />
Ich wurde von einem Gestapomann in Zivilkleidung abgeholt und in ein Büro im zweiten Stock<br />
des Gebäudes, in dem wir seit mehrerer Tage eingesperrt waren, geführt. Kaum hatte ich mich auf<br />
den Stuhl vor der Schreibmaschine gesetzt und meine Personalien mitgeteilt, fragte der Offizier:<br />
«Sie kennen Weilbacher?». Mir blieb die Luft weg. «Ist er Student oder Professor?». Den Schlag<br />
von hinten sah ich nicht kommen. Voll auf die Backe. Noch einer, diesmal schmerzhafter, von der<br />
anderen Seite auf die Backe. Ich blutete. «Es ist der Kommissar bei der Polizeiverwaltung. Sie<br />
haben ihn aufgesucht.» «Sie schlagen mich, aber dutzen mich nicht. Gutes Zeichen!», dachte ich<br />
mir. Fast wie vorprogrammiert kam es heraus: «Im Juni und Juli, zweimal habe ich den<br />
Verantwortlichen bei der Verwaltung aufgesucht… wegen erforderlicher Lieferungen an die<br />
Ateliers de Construction du Centre, prioritär für die Eisenbahnproduktion, wie auf meiner<br />
Arbeitskarte vermerkt und von Mathieu am Tag meiner Verhaftung geprüft.» Alles gelogen, denn<br />
meine Arbeitskarte wurde erst im Oktober ausgestellt, als Henri Weilbacher bereits verhaftet war.<br />
In der Enge gedrängt meinte ich, auf diese Weise Zeit zu gewinnen, denn ich war mir sicher, dass<br />
sie daraufhin weitere Ermittlungen durchführen würden. Der Gestapomann, der mich<br />
hineingeführt und eingetragen hatte, gestattete mir, auf dem Flur das Gesicht zu waschen und<br />
warnte mich, dass sie mich am nächsten Tag wieder verhören würden. Dann brachte er mich zum<br />
Gemeinschafts-Aufenthalts-Schlafraum zurück. Ich überlegte, dass es ihnen wohl nicht möglich<br />
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