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KIRRMANNS SCHWUR

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Blick über den Zaun die Tragödie hatten beobachten können. Nicht alle wurden erschossen: drei<br />

Frauen kamen davon und wurden mit unseren Studentinnen eingesperrt. Eine von den drei war<br />

ein aufgewecktes Mädchen, über das ich später noch erzählen werde. Die überlebenden Männer<br />

blieben noch einige Tage in der Kaserne und wurden dann deportiert, die meisten von ihnen zum<br />

KZ Mauthausen. Drei von ihnen traf ich später im Lager Flossenbürg wieder und einer von ihnen,<br />

Jean Valet, erinnerte sich, dass nach der Erschießung die beiden, Kalteiss und Kasper, zu den<br />

Zellen der Verschonten kamen und ihnen sagten, dass die Deportation nach Deutschland nicht<br />

viel besser wäre. Kasper, von seiner Beteiligung geschafft und auf dem Boden sitzend, wurde von<br />

Kalteiss angefahren und als Waschlappen bezeichnet, weil er sich so hängen ließ!<br />

Unsere Wachposten wurden von einer Schar Soldaten aus einer anderen Gegend ersetzt. Es waren<br />

strengere Männer, mit den Aufgaben des Wärters vertraut. Mit diesen neuen kam es nicht zum<br />

Gespräch, wie mit den vorigen. Am 21. oder 22. Dezember erschien der Feldwebel der Kaserne mit<br />

einer bewaffneten Eskorte und las eine Liste mit den Namen der vier oder fünf jüdischen<br />

Kameraden vor. Sie sollten unmittelbare ihre Sachen packen. Wir konnten ihnen noch gerade<br />

einen Blick der Sympathie zuwerfen, denn was hätten wir ihnen schon sagen können!? Wir<br />

ahnten, dass ihr Schicksal besiegelt war. Mit Ausnahme von Pfeffer, der später über das<br />

Verschwinden der anderen berichtete, sollten wir weder Dreyfus, noch die anderen je<br />

wiedersehen.<br />

Trübseliger Abend, Stimmung der Erschöpfung. Wir teilten die Stubengemeinschaft in kleinere<br />

Gruppen auf, sodass eine Gruppe mit einer anderen in Verbindung stand. Im Lauf des<br />

Nachmittags des 23. Dezember 1943 waren wir fast alle rund um Albert Kirrmann versammelt. Er<br />

fasste die Situation zusammen: extrem harte Zeiten würden auf uns zukommen, vielleicht noch<br />

viel grausamer als die bisher erlebten; von allen Häftlingen sollten wir uns als die privilegierten<br />

betrachten, denn unsere guten Deutschkenntnisse und unser intellektuelles Niveau - in aller<br />

Objektivität - würden uns dabei helfen, uns besser, schneller und leichter an die Umstände<br />

anzupassen; wahrscheinlich würden wir mit Bezug auf die Zahl der Überlebenden am besten<br />

abschneiden und das Erlebte genau und detailliert, besser als andere, im Gedächtnis behalten. Er<br />

fuhr fort, dass uns demzufolge eine zweifache Aufgabe zufiel. Sofort und in der nahen Zukunft:<br />

wo wir uns auch befinden würden, ob nun zusammen in der Gruppe oder getrennt, bis zur<br />

individuellen Isolation, immer sollten wir unsere Fähigkeiten nutzen, nicht nur, um selbst aus der<br />

Not zu gelangen, sondern auch um, den Umständen entsprechend, allen anderen in Not oder<br />

Lebensgefahr Hilfe zu leisten. «Es ist noch wichtiger, erläuterte er, dass wir nach dem Krieg, wenn<br />

wir heimkehren und auf Unverständnis und Ablehnung vor solcher Grausamkeit stoßen, immer<br />

wieder die Wahrheit über das Geschehene und Erlebte in aller Objektivität, zu der wir fähig sind,<br />

ans Licht bringen. Gemeinsam wollen wir uns hierzu verpflichten, denn eine solche Verpflichtung<br />

wird uns auch stärken und motivieren, selbst überleben zu wollen.»<br />

Es war als ob sich in jedem selbst ein Zeremoniell, ein Ritual abspielte. Die Zustimmung war<br />

allgemein, in aller Stille, ohne dass irgendein Protest geäußert wurde. Unter denjenigen, die aus<br />

der Gefangenschaft wiederkehrten (im Vergleich mit dem Durchschnitt der Deportierten war die<br />

Überlebensrate in unserer Gruppe deutlich höher), ist mir niemand begegnet, der Kirrmanns<br />

Auftrag nicht nachgekommen war. Unsere erste Arbeit, nach der Heimkehr, war das Aufsetzen<br />

und Sammeln der Zeugnisse aller Straßburger, die über die Konzentrationslager berichten<br />

konnten. Wir verpflichteten uns und schlossen uns dem Schwur des Albert Kirrmann an. Dies<br />

sollte auch befolgt werden, denn beim Durchlesen der ersten “straßburger“ Zeugnisse war man<br />

vom Engagement jedes einzelnen überwältigt, dem am meisten benachteiligten Hilfe zu leisten. In<br />

der Hölle der Konzentrationslager war “Hilfe“ immer mit extremen Bedingungen verbunden,<br />

manchmal hatte sie Erfolg, manchmal kam es zum Scheitern und nicht selten endete sie mit dem<br />

Tod.<br />

Das Jahr 1943 neigte sich dem Ende zu. Wir verbrachten Weihnachten und Neujahr in unserem<br />

Gefangenenraum ohne Heizung. Das neue Jahr fing mit der üblichen Routine an, bis die Situation<br />

am Abend des 4. Januars eine Wendung nahm. Der Winterabend war bereits um fünf Uhr<br />

angebrochen, als eine Patrouille den Raum betrat, die bedeutend stärker als die Mannschaft, die<br />

unsere jüdischen Kameraden am 23. Dezember abgeführt hatte. Es war uns sofort klar, dass wir<br />

verlegt werden sollten. Der Unteroffizier-Dolmetscher des Gefängnisses las die Liste vor. Diesen<br />

Unteroffizier sollte ich später noch öfters treffen. Im Zivilleben war er Pfarrer, hieß La Bradine,<br />

war immer korrekt und zurückhaltend, machte die ganze Zeit eine zutiefst gelangweilte Miene, als<br />

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