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KIRRMANNS SCHWUR

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Kirchen wurden wieder dem Kultus geöffnet und ehemalige Offiziere des Ersten Weltkriegs<br />

hatten das zaristische Abzeichen des Sankt-Georg-Kreuzes wieder angesteckt. Kurzum, so schloss<br />

er, waren diejenigen, die diesen Krieg ausgelöst hatten, für “einen furchtbaren Wahnsinn“<br />

verantwortlich.<br />

Ich versuchte ruhig und tief zu atmen, um meine Emotion und Erregung zu verbergen. Auch<br />

viele andere um mich - das hatte ich sofort gemerkt - waren vom gleichen Gefühl erfasst: ein<br />

solches Vorgehen unter diesen Bedingungen bedarf einer gewaltigen Portion an Mut und eines<br />

enormen Selbstvertrauens. Dieser Mann hatte eine außergewöhnliche Charakterstärke, frei von<br />

jeder Leichtfertigkeit. Nach seinem Namen und der Adresse seines Pfarramtes in Deutschland zu<br />

fragen wäre zu gefährlich für ihn gewesen und ich konnte nie erfahren, wer er war und was aus<br />

ihm geworden ist. Als er einige Tage später wiederkam, um in dem Mädchenraum eine Messe zu<br />

lesen, waren sogar die Atheisten gerührt. Ich konnte einige Worte mit ihm wechseln, ihm meinen<br />

Namen und die Adresse der Madame Monier, rue Blatin in Clermont, nur zwei Häuser von<br />

seinem Kriegspfarramt entfernt, mitteilen. Die Nachricht wurde übergebracht. Anfang Januar<br />

1944, als wir alle entweder nach Compiègne oder nach Drancy abgeführt wurden und nur ich mit<br />

noch drei der unseren in eine Gefängniszelle eingesperrt wurde, gelang es ihm noch, mir einen<br />

Brief zuzuschieben und einen anderen mitzunehmen, obwohl wir immer strenger bewacht<br />

wurden. An einem Abend in Februar 1944 konnte er uns, etwa zwanzig Häftlingen, in einem der<br />

Zimmer noch eine Messe lesen. Hierauf komme ich noch zurück, denn zu der Zeit hatte ich Henri<br />

Weilbacher wiedergesehen. Aber an dem Abend, als er die Ritualgegenstände einsammelte, zog er<br />

mich ins Vertrauen. Er fühlte sich mehr und mehr bedroht und warnte mich: falls die Gestapo das<br />

Gerücht seiner Erschießung durch die Terroristen verbreiten sollte, würde dies bedeuten, dass in<br />

Wirklichkeit jene “Säuberungsinstanz des Nazismus“, die Gestapo selbst, ihn eliminiert hätte. Um<br />

den 10. März sah ich ihn zum letzten Mal, als er, von zwei Wärtern begleitet, noch schnell einigen,<br />

auch mir, an der Zellentür die Kommunion austeilte. Lang nach Kriegsende lief in den Kinos ein<br />

Film, der die Ergebenheit und Selbstlosigkeit eines deutschen Soldaten, eines Franziskaners, im<br />

Gefängnis zu Bourges schildert. Ob er den Krieg überlebte oder auch nicht, unser Pfarrer hat<br />

sicherlich eine gleiche Ehrung verdient und es könnte sein, dass ich bis heute der einzige bin, ihm<br />

diese Ehre zu erweisen.<br />

Mitte Dezember 1943 hatten wir bereits eine erhebliche Portion an Brutalitäten und<br />

Ausschreitungen erlebt, beobachtet oder am eigenen Leibe erfahren. Wir waren Zeugen eines<br />

Mordes (Collomb) und eines Mordversuches (Eppel). Genau am 16. Dezember wurden die<br />

Grenzen der Grausamkeit von einem Ereignis, dessen Zeugen und teilweise auch Teilnehmer wir<br />

waren, überschritten. Durchs Fenster sahen wir, wie eine Gruppe von etwa fünfzehn Männern<br />

und fünf oder sechs Frauen unter Schlägen mit den Gewehrkolben über den Innenhof zum<br />

Gebäude getrieben wurden, in dem wir während der ersten Tage unserer Haft eingesperrt waren.<br />

Es waren die gleichen Soldaten der Luftwaffe. Ein großer Stabsunteroffizier, der gleiche, der bei<br />

unserer Verhaftung so brutal vorgegangen war - wohl der einzige -, löste sich von der Gruppe,<br />

kam auf unseren Flur und schrie: “Alle vom Fenster zurücktreten! Wer am Fenster erscheint, wird<br />

erschossen!“. Schnell übersetzte Kirrmann auf Französisch für diejenigen, die kein Deutsch<br />

verstanden. Anderntags erzählten uns unsere Wärter, dass sie am frühen Morgen einen Einsatz<br />

hatten, um eine Gruppe Terroristen in der Nähe von Billom, westlich von Clermont-Ferrand, zu<br />

überraschen, zu umzingeln und zu fassen. Damals vermutete ich gar nicht, dass ich vier von ihnen<br />

einige Monate später wiedertreffen sollte, nämlich im Lager Flossenbürg. Von den vier sollten Jean<br />

Valet und Guy Gouttelessis überleben.<br />

Ab demselben Abend und während der zwei darauffolgenden Tage sahen wir die Gestapo in die<br />

Gebäude gehen, in denen die Maquisards eingesperrt waren. Es waren dieselben Gestapomänner,<br />

mit denen wir bei unserer Razzia zu tun hatten: Blumenkamm, Kalteis und ein kleiner, gemeiner<br />

Lothringer, Kasper genannt. Ich erinnere mich nicht mehr, wie wir ihre Namen erfuhren,<br />

wahrscheinlich nannten sie sich untereinander beim Namen in der Gegenwart der Wachposten,<br />

die dann später mit uns darüber sprachen. Dieselben Wachposten erzählten auch vom Leidensweg<br />

dieser Verhafteten, die in den zwei Tagen verprügelt wurden, um sie zum Anzeigen der<br />

Widerständler zu bringen, die - von einer jungen Maquisarde alarmiert - die Umzinglung<br />

durchbrachen und sich noch zeitig auf das Plateau Saint-Maurice retten konnten. Die Spannung<br />

stieg, als die drei Dreckskerle plötzlich in unseren Raum erschienen. Kalteiss schrie uns zu, uns<br />

nicht zu bewegen, sitzen oder stehen zu bleiben, wo wir uns befanden, sodass er die einzelnen<br />

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