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KIRRMANNS SCHWUR

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Die Gebärden mit den Händen, als ob sie sich die Kehle durchschneiden wollten, gaben deutlich<br />

zu verstehen, dass sie uns am liebsten am Galgen gesehen hätten. Weitere Deutsche in Zivil trafen<br />

ein und unter ihnen erkannte ich eine junge Frau, die bei der Razzia an der Universität in<br />

November 1943 an der “Auslese“ beteiligt gewesen war. Im Gefängnis hatten wir sie öfters<br />

gesehen und ihr wurde der Spitzname “Panther“ zugeteilt. Sie sollte niemals verhaftet werden,<br />

obwohl lang nach dem Krieg bekannt wurde, dass sie sich in Frankreich, verheiratet mit einem<br />

Franzosen, niedergelassen hatte. Wir stiegen in einen für uns reservierten Waggon des<br />

Expresszugs nach Paris ein und als der Zug abfuhr, konnte man das Feuer der Bombardierung<br />

sehen. Das Michelinwerk war getroffen und das Wohnviertel Sabourin stand in Flammen. Dort<br />

wohnten die Eltern von Chalus, der sichtbar in Verzweiflung geriet: auf dem Weg zum KZ, im<br />

Ungewissen über das Los seiner Familie.<br />

Wir saßen zusammen, jeweils zwei Verhaftete und ein Soldat, der die zwei bewachte, als der<br />

Führer des Konvois an uns vorbeiging. Zum ersten Mal an diesem Abend, ohne Gegenlicht oder<br />

Halbdunkel, sah ich endlich sein Gesicht. In den ersten Sekunden glaubte ich, einer Halluzination<br />

ausgesetzt zu sein. Ein Meter neunzig groß, die gleiche Trepannarbe an der Stirn, das gläserne<br />

Auge an der gleiche Stelle und - was meinen letzten Zweifel endgültig nahm - das Korrekte, das<br />

Menschliche seiner Person, denn er sagte uns, dass wir rauchen dürften und es uns bequem<br />

machen sollten: Häberle. Der gleiche Häberle, der im Herbst 1940 Kameradschaftsführer an der<br />

Universität Heidelberg war und dessen Annäherungsversuche mir aufgefallen waren. Nach<br />

dreieinhalb Jahren Krieg war er - obwohl ein erstes Mal zurückgewiesen - letztendlich doch noch<br />

eingezogen worden und es war ihm gelungen, auf einem Posten hinter der Front eingesetzt zu<br />

werden. Und nun war er dort, nicht an irgendeiner Stelle entlang der mehrere tausend<br />

kilometerlangen Front, sondern dort, im Zug von Clermont nach Paris. Was sollte ich tun? Sollte<br />

ich mich melden? Von sich aus hätte er, wie alle anderen, die mich Ende 1940 zum letzten Mal<br />

gesehen hatten, mich niemals wiedererkannt, so sehr hatte ich mich in der Zeit geändert. Wie<br />

konnte ich ihm ein diskretes Zeichen geben? Wie konnte ich auf eine Flucht anspielen? Auch in<br />

der Annahme, dass er während des Transits von einem Bahnhof zum anderen den Wächtern<br />

befohlen hätte, meine Ketten zu entfernen, dass er mich persönlich zur Toilette begleitet hätte,<br />

dass er mich hätte flüchten lassen und absichtlich daneben geschossen hätte,… das alles war nur<br />

Träumerei. Unter den heftigen Schmerzen im Rachen und mit 39,50 °C Fieber, hätte ich<br />

wahrscheinlich nur einige Schritte laufen können, um dann bewusstlos zu Boden zu fallen. Und<br />

dennoch… wenn er mich dann doch wie ein Karnickel niedergeschossen hätte…? Eins durfte ich<br />

nicht vergessen: eher als dem Kriegsgericht unterstellt zu werden, würde jeder Wärter schießen,<br />

um sich selbst zu schützen. Misstrauen war angesagt. Ich verhielt mich ruhig, rührte mich nicht<br />

und unternahm weiter nichts.<br />

Kapitel III<br />

COMPIÈGNE<br />

Vierzig Tage, vom 18. März bis 27. April 1994, sollte ich im Frontstammlager 122 zu Compiègne<br />

verweilen. Ich hatte das große Glück, mich, im Gegensatz zu den meisten anderen, während dieser<br />

vierzig Tage erholen zu können. Die Kommilitonen der Universität Straßburg, am vierten Januar<br />

aus dem Gefängnis abgeführt, waren alle noch im gleichen Monat zu den deutschen Lagern<br />

deportiert worden. Drei große Konvois mit insgesamt sechstausend Deportierten hatten geleert.<br />

Bei meiner Ankunft in März war das Frontstammlager 122 wieder besiedelt und man konnte<br />

spüren, dass neue Verlegungen nach Deutschland bevorstanden. Ich wurde nicht abgerufen für<br />

die Konvois des 4. und 20. April. Paul Engel dagegen wurde am 24. März bei einer Razzia nach<br />

dem Poterne-Attentat gefasst, landete am 25. März in Compiègne und wurde mit dem Konvoi des<br />

4. April nach Mauthausen deportiert. Er sollte die Gefangenschaft überleben, jedoch in 1946, zwei<br />

Wochen vor der Entdeckung der Wirkung des “Rimifon“, der Tuberkulose erliegen.<br />

Am Tag nach der Ankunft wurde ich als “krank und bettlägerig“ in meiner Baracke gemeldet.<br />

Professor Marsault, Arzt an der Krankenpflegestation, horchte mich ab und stellte die Diagnose:<br />

«Du hast keine Rachenentzündung, sondern eine schöne Eiterbeule. Ich lasse dich in die<br />

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