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KIRRMANNS SCHWUR

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Kriegs“ verprügeln zu müssen! Er bot Billot sogar eine Zigarette an, aber letzterer lehnte kurz und<br />

entschlossen ab. Er war sich sicher, dass er aufgrund seines Alters diese schwere Zeiten nicht<br />

überleben würde. So war es: er starb im Deportationslager.<br />

Die Märztage, die wir in der Zelle verbrachten, schienen aufgrund der rasch aufeinander<br />

folgenden Ereignisse schnell zu vergehen. Noch einmal sah ich den deutschen Militärpfarrer, als<br />

er anlässlich eines Besuchs in den Zellen bestätigte, ein letztes Mal eine Nachricht von mir nach<br />

draußen überbringen zu können. Einen von meiner letzten 1000-Francs-Scheinen gab ich einem<br />

Wachposten, um uns Zigaretten zu kaufen. In der Nacht vom ersten Sonntag auf Montag, gegen<br />

Mitternacht, wurde die Tür der Zelle geöffnet und ein Wärter führte einen Neuverhafteten herein:<br />

«Der legt sich noch dazwischen!».<br />

Sofort schossen die Fragen los, um die letzten Neuigkeiten von draußen zu erfahren. Er stellte<br />

sich vor: Professor Géry von der Straßburger Fakultät. Er war mir nicht nur als angesehener<br />

Krebsspezialist bekannt, sondern auch wegen seiner freimütigen, manchmal unfeinen Sprache, die<br />

er aus seiner Studentenzeit beibehalten hatte. Ich erinnere mich, dass einer von uns, ein Landwirt,<br />

ihn eines Tages fragte, was Krebs nun eigentlich sei. «Ich weiß es nicht, antwortete er. Es gibt<br />

Leute, die meinen, es zu wissen. Seit dreißig Jahre beschäftige ich mich mit Krebsfällen und ich<br />

weiß es immer noch nicht.» Einige Wochen später wurde er wieder freigelassen und es war mir<br />

eine Freude, ihn im Herbst 1945 im Komitee zur Veröffentlichung der Straßburger Aussagen<br />

wieder zu treffen. Einige Jahre später sollte ich im Rundfunk über das Ableben des<br />

Krebsspezialisten Géry erfahren.<br />

In jenen Tagen fühlte ich mich schwach und fiebrig. Während des einzigen Spaziergangs der<br />

Woche, eine halbe Stunde lang, mussten mich zwei Kameraden beim Gehen unterstützen. Durch<br />

die Gitter zum Hinterhof des Gefängnisses grüßten einige, die mich kannten, mit Zeichen von<br />

Sympathie und Ermutigung. Meine größte Sorge waren die rasenden Schmerzen an den<br />

Backenzähnen; angeblich waren die Zahnnerven endgültig angegriffen.<br />

Der zweite Sonntag im März brach an. Gedränge auf dem Flur, Fluchen der Wächter in den<br />

Gängen. Durch den Spion in der Tür - der Deckel an der Außenseite war abgerissen - hörten wir,<br />

dass von einem Attentat und einer Razzia die Rede war. Der Obergefreite entriegelte die Tür und<br />

schrie: «Es fehlen noch zwei Männer für den Kohlendienst!» Zusammen mit einem anderen<br />

Zellgenossen meldete ich mich, trotz meiner Müdigkeit: über den ersten Innenhof, Richtung<br />

Zulieferungstor, Torflügel öffnen, Lkw quer zum Eingang, abladen. Zwei Soldaten und mehrere<br />

von uns gingen an die Arbeit, von einem ekelhaften Unteroffizier mit Revolver und zwei Soldaten<br />

mit Maschinengewehr bewacht. Auch Weilbacher hatte es geschafft, sich für diese Arbeit einsetzen<br />

zu lassen. Er sah verstört aus, blass vor Panik: «Boutet und Margolf wurden zum Tode verurteilt.»<br />

- «Und du?» - «Nein», konnte er kaum herausbringen. Seit langem versicherte er mir, sich zur<br />

Flucht entschieden zu haben, wenn er dazu käme, seine Männer draußen über die Tage und<br />

Stunden, an denen zweimal in der Woche Brennstoff geliefert wurde, zu benachrichtigen, sodass<br />

ein Auto für die Flucht bereit stünde, wenn er durch den Durchgang zwischen dem Längsträger<br />

und dem Tor stürmen würde. So weit hatte er es noch nicht organisieren können und vor den<br />

Augen dreier bewaffneter Männer hatte er überhaupt keine Chancen. Ich ahnte jedoch seine<br />

Versuchung, es zu wagen, sogar den Todesschuss heraufzubeschwören. Die nur wenigen Minuten<br />

Schaufelarbeit ließen es nicht zu, ihm einen Rat zu geben. Auf dem Rückweg zur Zelle rief jemand<br />

meinen Namen, ein junger Student, den ich nicht kannte, der mich aber wiedererkannt hatte. Er<br />

wurde im Freundeskreis Saint-Louis geschnappt, in der Nähe des Attentats.<br />

Er hatte gerade Zeit, mir das Attentat der “Place de la Poterne“ und die Repressalienrazzia im<br />

Freundeskreis Saint-Louis, dem auch er angehörte, und die Verhaftungen in diesem Stadtviertel<br />

kurz zu schildern. Kaum hatte ich meinen Kameraden in der Zelle die Geschichte weitererzählt,<br />

als die Tür wieder aufging. La Brazine, der Pfarrer-Dolmetscher rief mich. Schweigend folgte ich<br />

ihm zum Kommandoposten. Ich wurde neben zwei andere gestellt: ein luxemburgischer<br />

Deserteur, dessen Namen ich vergessen habe und der später exekutiert werden sollte, und einer<br />

der Wachposten, den ich kannte. Sofort wusste ich, was Sache war, noch bevor der Hauptmann,<br />

Kommandant des Gefängnisses, anfing zu schreien und uns durch eine Kostprobe seines<br />

gepflegten Wortschatzes seine Verachtung für solche Leute, wie wir, und sein Entsetzen über die<br />

Bestechung eines “seiner“ Soldaten zum Ausdruck zu bringen, der uns Rauchzeug beschaffen<br />

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