4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Ha- bilitations
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REZENSIONEN BOOK REVIEW<br />
teile aufdecken, welchen sie – zugegebenermaßen –<br />
auch selbst zu erliegen scheint.<br />
Askim Müller-Bozkurt, Kerpen<br />
92<br />
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Karagiannis, Emmanuel (2010): Political Islam in<br />
Central Asia. The Challenge of Hizb ut-Tahrir. –<br />
Routledge: London & New York, 172 S.<br />
Die in der Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts in Jordanien gegründete<br />
Hizb ut-Tahrir, ist eine der bemerkenswertesten<br />
transnationalen islamischen Bewegungen unserer<br />
Zeit. Durch ihr Verbot in Deutschl<strong>and</strong> 2003 <strong>und</strong><br />
ihre angebliche Rolle im blutig niedergeschlagenen<br />
Aufst<strong>and</strong> von Andizhan (Usbekistan) 2005, st<strong>and</strong> sie<br />
immerhin auch kurz im Zentrum medialen Interesses<br />
in Mitteleuropa. In der Tat stellen die zentralasiatischen<br />
ehemaligen Sowjetrepubliken, wo sie eindeutig<br />
als führende derartige Organisation fungiert, das bei<br />
weitem erfolgreichste Betätigungsfeld der Gruppe<br />
dar, wenngleich auch eine rasante rezente Ausbreitung<br />
in Südostasien zu beobachten ist. Daher war ein<br />
Werk, wie die vorliegende Studie bereits überfällig.<br />
Als Quellen dienten dem Autor hierzu zahlreiche Interviews,<br />
vor allem in Tadschikistan, Usbekistan, Kirgisien,<br />
Kasachstan, aber auch in Großbritannien, den<br />
USA, dem Libanon <strong>und</strong> Palästina, sowie Hizb ut-<br />
Tahrir Publika<strong>tionen</strong> aller Art, von Büchern bis hin zu<br />
Flugblättern.<br />
Unterteilt in fünf Kapitel wird zunächst, Staat für<br />
Staat, die Genese des politischen Islams im postsowjetischen<br />
Zentralasien nachgezeichnet <strong>und</strong> danach<br />
Ursprung, Ideologie <strong>und</strong> Struktur der Hizb ut-Tahrir<br />
erklärt, bevor sich der Autor speziell ihrer Rolle in der<br />
Region widmet. Die letzten beiden Abschnitte stehen<br />
im Zeichen der Betrachtung der Gruppe als Social<br />
Movement Organization (SMO) <strong>und</strong> ihrem, auch in<br />
unseren Breiten eben schon angeregt diskutierten<br />
Verhältnis zu politischer Gewalt. Besonders die Zentralasien-spezifischen<br />
Kapitel bieten jeweils einen sehr<br />
guten, konzisen Überblick, <strong>und</strong> die Beh<strong>and</strong>lung der<br />
Gewaltfrage führt klar vor Augen, dass Hizb ut-Tahrir<br />
zumindest derzeit in keiner Weise als gewalttätige<br />
Organisation eingestuft werden kann.<br />
Wie durch die Zielsetzung des vierten Kapitels ersichtlich,<br />
hat der Autor die im Bezug auf islamische<br />
Organisa<strong>tionen</strong> bisher noch weitgehend vernachlässigte<br />
Social Movement Theory (SMT) als methodologische<br />
Gr<strong>und</strong>lage seiner Betrachtung der Hizb ut-<br />
Tahrir im Allgemeinen <strong>und</strong> speziell auch ihres St<strong>and</strong>punktes<br />
bezüglich politischer Gewalt gewählt. Dieser<br />
überfällige Rekurs auf rezente theoretische <strong>und</strong> methodologische<br />
Fortschritte in den Sozialwissenschaften<br />
erweist sich durchaus als einer differenzierteren<br />
Beobachtung <strong>und</strong> Analyse der Mechanismen hinter<br />
der zentralasiatischen Erfolgsgeschichte der Hizb ut-<br />
Tahrir dienlich.<br />
Es offenbaren sich jedoch im Zuge der Lektüre auch<br />
einige Schwächen dieses Ansatzes <strong>und</strong> seiner spezifischen<br />
Ausführung. So werden die gängigsten Ansätze<br />
innerhalb der SMT mit Hinblick auf die Entwicklung<br />
der Partei in der Region sowohl in Kapitel vier als<br />
auch fünf jeweils einer nach dem <strong>and</strong>eren beh<strong>and</strong>elt<br />
(bzw. abgehakt), um jeweils in die sich stetig wiederholende<br />
Feststellung zu münden, dass sich keiner<br />
hiervon zu einer eindeutigen Erklärung des Phänomens<br />
eigne. Hierbei halten sich Lesespaß <strong>und</strong><br />
Innovativität naturgemäß in Grenzen.<br />
Wie bereits Wiktorowitz in seinem theoretischen<br />
Pionierwerk zum Thema 4 , sieht auch Karagiannis eine<br />
deutliche Annäherung an eine Lösung des genannten<br />
Dilemmas in einem größeren Augenmerk auf die Rolle<br />
von Ideologie im Konstitutions- <strong>und</strong> Ausbreitungsprozess<br />
derartiger Bewegungen. Eine von ersterem als<br />
viel versprechend angesehene Analyse der Interaktion<br />
vom framing Ansatz der SMT <strong>und</strong> Ideologie wird allerdings<br />
außer Acht gelassen, <strong>und</strong> beide wiederum lediglich<br />
nebenein<strong>and</strong>er beh<strong>and</strong>elt.<br />
Das mehrmals postulierte Defizit der SMT im konkreten<br />
Falle, nämlich ihre Entstehung in der Erforschung<br />
säkularer Organisa<strong>tionen</strong> (z.B. S. 121f.),<br />
scheint zu implizieren, dass im so genannten religiösen<br />
Bereich, soziale Prozesse (zumindest zum Teil)<br />
gänzlich <strong>and</strong>eren Mechanismen unterliegen würden.<br />
Der freiwillige Einstieg in eine illegalisierte Organisation<br />
wie Hizb ut-Tahrir, trotz der Aussicht, dass Sympathisanten<br />
die Vorzüge eines schlussendlich erkämpften<br />
Kalifats auch ohne aktive persönliche Beteiligung<br />
auskosten könne, wird als irrational eingestuft,<br />
weshalb er eben nur durch religiös-ideologische Faktoren<br />
erklärbar sei.<br />
Unabhängig davon, weist das Buch (vor allem aus<br />
islamwissenschaftlicher Perspektive) eine Reihe eklatanter<br />
Unstimmigkeiten auf. Dies betrifft eine höchst<br />
fragwürdige Einteilung des Islams in Zentralasien in<br />
einen „Hoch-“ <strong>und</strong> „Niederislam“. Letzterem wird<br />
noch ein nebuloser „Volksislam“ beigestellt. Lokales,<br />
vom Autor als zoroastrisch eingestuftes Erbe firmiert<br />
unter Animismus. Der Hizb ut-Tahrir wird ein vermeintlicher<br />
intellektueller Vorteil gegenüber <strong>and</strong>eren<br />
islamischen Gruppierungen aufgr<strong>und</strong> ihres (nicht ge-<br />
4 Witkorowitz, Q.: Islamic Activism <strong>and</strong> Social Movement Theory:<br />
A New Direction for Research. – In: Robertson, B. A. (ed.):<br />
Shaping the Current Islamic Reformation. – London: Frank Cass,<br />
2003, p. 187-211.