Berliner Kurier 06.12.2018
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
*<br />
KULTUR<br />
Weltgeschichte geht<br />
durch den Magen<br />
Der Buchhändler JörgBraunsdorfempfiehlt ein Sachbuch, einen Roman und ein Jugendbuch zu<br />
Weihnachten: Dreimal Geschichte so hautnah und spannend, dassman fast dabei ist<br />
Sie aßen und tranken vor allem<br />
viel: „100 Mastrinder,<br />
14000 Schafe, jeweils 500 Hirsche,<br />
Gazellen, Gänse, 1000<br />
Zugvögel, 10000 Turteltauben<br />
und Springmäuse, 100 gesalzene<br />
Ochsen, 10000 Eier, 100<br />
Körbe Weintrauben, Pistazien,<br />
Knoblauch, 100 Krüge Butter,<br />
Honig, Milch, 100 Maß Senf, jeweils<br />
10 Eselslasten Nassabu-<br />
Kürbisse, Zinzimmu-Zwiebeln,<br />
ferner 10000 Krüge Bier,<br />
10000 Schläuche Wein ...“<br />
Die Liste ist fünf Seiten lang.<br />
Als der assyrische König Assurnasirpal<br />
II. seine neue Residenz<br />
in Nimrud einweihte, ließ er<br />
sich nicht lumpen. Das bescheidene<br />
Mal fand 879 vor Christus<br />
statt, die Gästeliste umfasste,<br />
glaubt man der 1951 ausgegrabenen<br />
Sandsteinstele, 69574<br />
gute Esser. Mit diesem fröhlichen<br />
Schmaus beginnt das<br />
Buch „Wohl bekam’s! –inHundert<br />
Menus durch die<br />
Weltgeschichte“, herausgegeben<br />
von Tobias<br />
Roth und Moritz<br />
Rauchhaus.<br />
Drei Bücher solle er<br />
sich aussuchen, die er zu<br />
Weihnachten dringend<br />
empfehlen würde. Sofort<br />
zückt mein Freund, Buchhändler<br />
Jörg Braunsdorf, dieses:<br />
„Ein haptisch wohl gestaltetes<br />
und umfangreiches<br />
Buch“, sagt er gut gelaunt bei<br />
einem Glas Wein. „Es ist eine<br />
kulturelle Reise durch 818<br />
Jahre, 873 Gerichte, 336 Seiten<br />
und 772 Illustrationen, zum sofortigen<br />
Verzehr geeignet. Die<br />
geniale Idee der Herausgeber<br />
ist es, anhand von Menükarten<br />
von Empfängen und Essen anlässlich<br />
historischer Momente<br />
große und kleine Weltgeschichte<br />
in kurzen Texten zu<br />
erzählen.“<br />
So sah der Speiseplan der<br />
Bamberger Domherren im Jahr<br />
1200 „sommers Knuttelfelck“<br />
und „winters gefüllte Mägen“<br />
vor, ein Festmahl der Schneidergilde<br />
1488 Rippchen, Regenpfeifer<br />
und Schwan. Zur Hochzeit<br />
von Marie-Louise von Österreich<br />
und Napoleon Bonaparte<br />
wurde „Hecht à la<br />
Chambord“ gereicht. Fidel Castro,<br />
1977 auf DDR-Staatsbesuch,<br />
speiste im Palast der Republik<br />
bescheidener: Lachs,<br />
Foto: Gudath<br />
Buchhändler Jörg<br />
Braunsdorf(59)<br />
empfiehlt Bücher<br />
zum Verschenken.<br />
Ragout fin, Kalbsfrikandeau.<br />
„Zum allerersten Gang bereits<br />
Nordhäuser Doppelkorn anzubieten,<br />
setzt ein hemdsärmeliges<br />
Zeichen“, kommentieren<br />
die Herausgeber.<br />
„Früher glänzten oft die Männer,<br />
und es waren die Partnerinnen,<br />
die das Leben strukturierten<br />
und die inhaltliche Arbeit<br />
im Hintergrund entwickelten“,<br />
sagt Jörg, nippt kurz und<br />
zückt den Roman seiner Wahl:<br />
„Jeder hier nennt mich Frau<br />
Bauhaus –Das Leben der Ise<br />
Frank“ von Jana Revedin. „Die<br />
Autorin ist selbst Architektin<br />
und Professorin für Architekturtheorie<br />
in Paris. Da hat mich<br />
zuerst das Cover angesprochen:<br />
Kuhns<br />
Kulturstück<br />
Helmut Kuhn<br />
schaut,liest<br />
und hörtfür<br />
den KURIER.<br />
Hundert Prozent Bauhaus. Ein<br />
kluges, in einfachem, flüssigem<br />
Stil geschriebenes Unterhaltungsbuch“.<br />
Es ist die Geschichte der<br />
Buchhändlerin Ise Frank, die<br />
1923 den Bauhaus-Gründer<br />
Walter Gropius kennenlernt.<br />
„Sie heiraten, Ise Frank wird<br />
für ihn zur unersetzbaren Partnerin<br />
in seinem Lebenswerk.<br />
Sie erleben Geldsorgen, Intrigen,<br />
später den Niedergang der<br />
Demokratie. Das Paar lebt in<br />
den USA, Japan, der Türkei. Literatur,<br />
die Weltgeschichte erzählt:<br />
Dieser Roman kann das.“<br />
Schließlich: „Pullerpause –im<br />
Tal der Ahnungslosen“, ein Jugendbuch<br />
von Franziska Gehm.<br />
„Jobst und seine Mutter<br />
sind in einem Zeittunnel<br />
im Mittelalter<br />
unterwegs und wollen<br />
auf dem Rückweg<br />
mal eine kleine Pinkelpause<br />
im Jahr 1987 einlegen.<br />
Da verschwindet<br />
der Zeitreisekoffer, und die<br />
beiden sitzen in der DDR<br />
fest“, rezitiert Jörg und lacht<br />
volle Pulle: „Geniale Idee!“<br />
Hier heißen die Kinder Pioniere,<br />
das Staatsoberhaupt lächelt<br />
milde aus jedem Schaufenster.<br />
„Aber: Ohne Koffer keine<br />
Ausreise“ –und das ist Jobst<br />
alles nicht geheuer. Mithilfe<br />
zweier neuer Freunde suchen<br />
sie nach dem Gepäckstück.<br />
„Unsere Wurzeln sind immer<br />
noch in der Kulturgeschichte<br />
der beiden deutschen Staaten<br />
begründet. Kinder, die das<br />
nicht mehr kennen können, finden<br />
hier ein spaßiges Leseerlebnis<br />
zum Kennenlernen der<br />
Geschichte“, sagt Jörg. Blättert<br />
ein paar Seiten –und lacht wieder<br />
herzhaft. Na denn: Prost<br />
und wohl bekomm’s.<br />
„Wohl bekam’s!“, Tobias Roth,<br />
Moritz Rauchhaus, Verlag Das<br />
Kulturelle Gedächntis, 28,80 Euro;<br />
„Jeder hier nennt mich Frau<br />
Bauhaus“, Roman, Jana Revedin,<br />
Dumont,22Euro; „Pullerpause“,<br />
Franziska Gehm, Klett Kinderbuch,<br />
12,95 Euro; Buchhandlung Tucholsky,<br />
Tucholskystraße 47.