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Berliner Kurier 06.12.2018

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*<br />

KULTUR<br />

Weltgeschichte geht<br />

durch den Magen<br />

Der Buchhändler JörgBraunsdorfempfiehlt ein Sachbuch, einen Roman und ein Jugendbuch zu<br />

Weihnachten: Dreimal Geschichte so hautnah und spannend, dassman fast dabei ist<br />

Sie aßen und tranken vor allem<br />

viel: „100 Mastrinder,<br />

14000 Schafe, jeweils 500 Hirsche,<br />

Gazellen, Gänse, 1000<br />

Zugvögel, 10000 Turteltauben<br />

und Springmäuse, 100 gesalzene<br />

Ochsen, 10000 Eier, 100<br />

Körbe Weintrauben, Pistazien,<br />

Knoblauch, 100 Krüge Butter,<br />

Honig, Milch, 100 Maß Senf, jeweils<br />

10 Eselslasten Nassabu-<br />

Kürbisse, Zinzimmu-Zwiebeln,<br />

ferner 10000 Krüge Bier,<br />

10000 Schläuche Wein ...“<br />

Die Liste ist fünf Seiten lang.<br />

Als der assyrische König Assurnasirpal<br />

II. seine neue Residenz<br />

in Nimrud einweihte, ließ er<br />

sich nicht lumpen. Das bescheidene<br />

Mal fand 879 vor Christus<br />

statt, die Gästeliste umfasste,<br />

glaubt man der 1951 ausgegrabenen<br />

Sandsteinstele, 69574<br />

gute Esser. Mit diesem fröhlichen<br />

Schmaus beginnt das<br />

Buch „Wohl bekam’s! –inHundert<br />

Menus durch die<br />

Weltgeschichte“, herausgegeben<br />

von Tobias<br />

Roth und Moritz<br />

Rauchhaus.<br />

Drei Bücher solle er<br />

sich aussuchen, die er zu<br />

Weihnachten dringend<br />

empfehlen würde. Sofort<br />

zückt mein Freund, Buchhändler<br />

Jörg Braunsdorf, dieses:<br />

„Ein haptisch wohl gestaltetes<br />

und umfangreiches<br />

Buch“, sagt er gut gelaunt bei<br />

einem Glas Wein. „Es ist eine<br />

kulturelle Reise durch 818<br />

Jahre, 873 Gerichte, 336 Seiten<br />

und 772 Illustrationen, zum sofortigen<br />

Verzehr geeignet. Die<br />

geniale Idee der Herausgeber<br />

ist es, anhand von Menükarten<br />

von Empfängen und Essen anlässlich<br />

historischer Momente<br />

große und kleine Weltgeschichte<br />

in kurzen Texten zu<br />

erzählen.“<br />

So sah der Speiseplan der<br />

Bamberger Domherren im Jahr<br />

1200 „sommers Knuttelfelck“<br />

und „winters gefüllte Mägen“<br />

vor, ein Festmahl der Schneidergilde<br />

1488 Rippchen, Regenpfeifer<br />

und Schwan. Zur Hochzeit<br />

von Marie-Louise von Österreich<br />

und Napoleon Bonaparte<br />

wurde „Hecht à la<br />

Chambord“ gereicht. Fidel Castro,<br />

1977 auf DDR-Staatsbesuch,<br />

speiste im Palast der Republik<br />

bescheidener: Lachs,<br />

Foto: Gudath<br />

Buchhändler Jörg<br />

Braunsdorf(59)<br />

empfiehlt Bücher<br />

zum Verschenken.<br />

Ragout fin, Kalbsfrikandeau.<br />

„Zum allerersten Gang bereits<br />

Nordhäuser Doppelkorn anzubieten,<br />

setzt ein hemdsärmeliges<br />

Zeichen“, kommentieren<br />

die Herausgeber.<br />

„Früher glänzten oft die Männer,<br />

und es waren die Partnerinnen,<br />

die das Leben strukturierten<br />

und die inhaltliche Arbeit<br />

im Hintergrund entwickelten“,<br />

sagt Jörg, nippt kurz und<br />

zückt den Roman seiner Wahl:<br />

„Jeder hier nennt mich Frau<br />

Bauhaus –Das Leben der Ise<br />

Frank“ von Jana Revedin. „Die<br />

Autorin ist selbst Architektin<br />

und Professorin für Architekturtheorie<br />

in Paris. Da hat mich<br />

zuerst das Cover angesprochen:<br />

Kuhns<br />

Kulturstück<br />

Helmut Kuhn<br />

schaut,liest<br />

und hörtfür<br />

den KURIER.<br />

Hundert Prozent Bauhaus. Ein<br />

kluges, in einfachem, flüssigem<br />

Stil geschriebenes Unterhaltungsbuch“.<br />

Es ist die Geschichte der<br />

Buchhändlerin Ise Frank, die<br />

1923 den Bauhaus-Gründer<br />

Walter Gropius kennenlernt.<br />

„Sie heiraten, Ise Frank wird<br />

für ihn zur unersetzbaren Partnerin<br />

in seinem Lebenswerk.<br />

Sie erleben Geldsorgen, Intrigen,<br />

später den Niedergang der<br />

Demokratie. Das Paar lebt in<br />

den USA, Japan, der Türkei. Literatur,<br />

die Weltgeschichte erzählt:<br />

Dieser Roman kann das.“<br />

Schließlich: „Pullerpause –im<br />

Tal der Ahnungslosen“, ein Jugendbuch<br />

von Franziska Gehm.<br />

„Jobst und seine Mutter<br />

sind in einem Zeittunnel<br />

im Mittelalter<br />

unterwegs und wollen<br />

auf dem Rückweg<br />

mal eine kleine Pinkelpause<br />

im Jahr 1987 einlegen.<br />

Da verschwindet<br />

der Zeitreisekoffer, und die<br />

beiden sitzen in der DDR<br />

fest“, rezitiert Jörg und lacht<br />

volle Pulle: „Geniale Idee!“<br />

Hier heißen die Kinder Pioniere,<br />

das Staatsoberhaupt lächelt<br />

milde aus jedem Schaufenster.<br />

„Aber: Ohne Koffer keine<br />

Ausreise“ –und das ist Jobst<br />

alles nicht geheuer. Mithilfe<br />

zweier neuer Freunde suchen<br />

sie nach dem Gepäckstück.<br />

„Unsere Wurzeln sind immer<br />

noch in der Kulturgeschichte<br />

der beiden deutschen Staaten<br />

begründet. Kinder, die das<br />

nicht mehr kennen können, finden<br />

hier ein spaßiges Leseerlebnis<br />

zum Kennenlernen der<br />

Geschichte“, sagt Jörg. Blättert<br />

ein paar Seiten –und lacht wieder<br />

herzhaft. Na denn: Prost<br />

und wohl bekomm’s.<br />

„Wohl bekam’s!“, Tobias Roth,<br />

Moritz Rauchhaus, Verlag Das<br />

Kulturelle Gedächntis, 28,80 Euro;<br />

„Jeder hier nennt mich Frau<br />

Bauhaus“, Roman, Jana Revedin,<br />

Dumont,22Euro; „Pullerpause“,<br />

Franziska Gehm, Klett Kinderbuch,<br />

12,95 Euro; Buchhandlung Tucholsky,<br />

Tucholskystraße 47.

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