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Berliner Kurier 22.12.2018

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12 BERLIN BERLINER KURIER, Sonnabend, 22. Dezember 2018 *<br />

Geborener<br />

Alleinunterhalter:<br />

Michael Borge<br />

will seine Disko<br />

weitermachen, so<br />

lange er kann –<br />

und so lange noch<br />

Gäste zu ihm im<br />

den Tanzsaal<br />

kommen.<br />

Oldies für Oldies<br />

Foto: Markus Wächter (2)<br />

Der DJ der reifen Herzen<br />

Seit 44 Jahren lädt Michael Borge Menschen zur Seniorendisko. Er ist ein Unterhalter –und ein Freund<br />

Von<br />

SILVIA PERDONI<br />

Frau Müller hat sich einen<br />

jungen Mann geangelt.<br />

Michael Borge deutetrüber<br />

zur Tanzfläche,<br />

wo gerade eine Dame mit Bluse<br />

und Perlenohringen zu einer<br />

Drehung ansetzt. Borge steht<br />

hinter dem DJ-Pult –und der<br />

junge Mann, von dem er spricht,<br />

ist mindestens 65 Jahre alt.<br />

Einmalpro Woche lädt MichaelBorgeMenschenzueinerSeniorendiskothek<br />

in die Tanzschule<br />

KellerinSteglitz. Seit 44 Jahren,<br />

immer montags, immer von 14<br />

Uhr bis 17.30 Uhr.Eswar in Berlin<br />

die erste Veranstaltung ihrer<br />

Art und langedie einzige. An einem<br />

guten Montag ziehen 120<br />

TänzerKreiseimScheinwerferlicht.<br />

Für viele ist es der einzige<br />

Terminder Woche. Für manche<br />

auchdas einzige Zusammentreffen<br />

mit anderen Menschen.<br />

Gertrud Hempel ist 90 Jahre<br />

alt und will Heiligabend in ihrer<br />

Wohnung in Mariendorf ein<br />

Kreuzworträtsel lösen, sagt sie.<br />

Sie sitzt an einem Tisch neben<br />

der Tanzfläche. Seit30Jahren ist<br />

Gertrud Hempel Witwe, Kinder<br />

hat sie keine. Sie ist, was in der<br />

Großstadt als Stigma gilt, was<br />

sich anfühlt wie Heimweh nach<br />

einem Ort, den es nicht mehr<br />

gibt: Gertrud Hempel ist allein.<br />

„Wasnütztes, wennich jammere“,<br />

sagt sie, eine Frau mit wachen<br />

Augen. „Ich muss niemanden<br />

um mich haben, um mich<br />

wohlzufühlen.“ Jeden Montag<br />

holt ihre Bekannte – Gabriele<br />

Müller, die mit dem jungen<br />

Tanzpartner –Gertrud Hempel<br />

zur Seniorendisko ab und fährt<br />

sie um 17.30 Uhr nach Hause.<br />

„Wo ist denn Peter?“,fragt Michael<br />

Borge ins Mikro. „Peter,ich<br />

habeein Lied für dich.“ Borge, 70<br />

Jahre alt, mit Fliege und Samtanzug,<br />

kennt fast alle Tänzer persönlich.<br />

Das war auch1974 schon<br />

so, als die ersten Seniorendiskos<br />

über die Bühne gingen. Damals<br />

war Michael Borge gerade einmal<br />

26 Jahre alt –und wollte<br />

doch ausschließlich Unterhaltung<br />

für alte Menschen machen.<br />

„Eine Schallplatte brachte<br />

mich darauf“, erzählt er. „Sie<br />

hieß ,Die Seniorendiskothek’<br />

und war voll mit Hits aus den<br />

50ern.“ Borge arbeitete damals<br />

als DJ im Tanzlokal Badewanne.<br />

Er wollte sein eigenes Ding machen–und<br />

dachtebei einer Disko<br />

für Senioren an eine Marktlücke,mit<br />

der sich Geldverdienen<br />

ließe. Er merkte schnell, dass er<br />

auchein Forum geschaffen hatte,<br />

das Menschen zusammenbringt.<br />

GabrieleMüllerwar 60, als sie<br />

das erste Mal zur Seniorendisko<br />

kam. „Ich war damals wahnsinnig<br />

nervös. Ich kam schließlich<br />

Immer wieder<br />

montags: Bis<br />

zu 120 Menschen<br />

passen in den<br />

Tanzsaal.<br />

allein, wusste nicht, ob ich passend<br />

angezogen war und die<br />

Schritte noch konnte“, erzählt<br />

sie.Michael Borge fing sie schon<br />

im Treppenhaus ab, hakte sie<br />

unter und brachte sie rein.Zwölf<br />

Jahre ist das jetzt her, und seitdem<br />

kommt sie jedenMontag.<br />

Einigen müsse er die Scheu<br />

nehmen,sagt Borge. Die Damen<br />

sind anvielen Montagen in der<br />

Mehrzahl, viele haben jung geheiratet<br />

und ihre Männer überlebt.<br />

Sie sind in einerZeitgroßgeworden,<br />

in der Menschen nur<br />

paarweise tanzten –wobei der<br />

Mannführte. In der Seniorendisko<br />

ist es aber immer wieder so,<br />

dass auch zwei Frauen gemeinsam<br />

tanzen. „Ich will ihnen zeigen,<br />

dass ich darüber nicht die<br />

Nase rümpfe“, sagt Borge.<br />

Einige Seniorinnen kämen auf<br />

Partnersuche in die Diskothek,<br />

sagt Gabriele Müller. „Ich stelle<br />

mir das schwierig vor. Wer sich<br />

im Alter allein fühlt, hat kaum<br />

Möglichkeiten, andere Leute<br />

kennenzulernen.“ AuchGabriele<br />

Müller lebt allein, hat aber Kinder<br />

und einenEnkel in der Stadt.<br />

Immerhin zwei Ehepaare<br />

habensichbei MichaelBorge in<br />

44 Jahren gefunden. Die Anzahl<br />

der Todesfälle in der Tanzschule<br />

ist höher. Drei Menschen verstarben<br />

in der Seniorendisko, einer<br />

direkt auf der Tanzfläche.<br />

„Von den alten Leuten habe ich<br />

gelernt, mit dem Tod umzugehen“,<br />

sagt Borge. „Die Trauer ist<br />

immer da, wenn jemand stirbt.<br />

Aber man muss sie abstreifen,<br />

sonst verpasst man seinLeben.“<br />

Vor dem Älterwerdenhat Borge<br />

keine Angst. „Eher vor dem<br />

Krankwerden“, sagt er. Manchmal<br />

beobachte er bei Tänzern,<br />

wie eine Demenz einsetzt. Er<br />

versucht, solange wie möglich<br />

normal mit den Kranken umzugehen.<br />

„In Deutschland fehlt es<br />

an Respekt gegenüber dem Alter“,<br />

sagt Michael Borge. „Zu<br />

schnell werden Menschen als<br />

schusselige Alte abgetan. Dabei<br />

haben die Alten das geschaffen,<br />

womit wir heute leben. Sie haben<br />

Berlin wieder aufgebaut.“

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