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BERLINER KURIER, Donnerstag, 23. Mai 2019<br />
Oranienburger (56) will beim „Mammutmarsch“ am Wochenende 100 Kilometer in 24 Stunden wandern<br />
Von<br />
FLORIAN THALMANN<br />
Manchmal sind es die<br />
ganz einfachen Dinge,<br />
die für die größten<br />
Glücksgefühle sorgen können<br />
–imFall von Uwe Schiwek<br />
ist es: eine Suppe. „Auf die<br />
freue ich mich jetzt schon“,<br />
sagt der 56-Jährige und lacht.<br />
„Ich sage Ihnen: Es ist egal,<br />
was für eine es ist – sie<br />
schmeckt immer göttlich, so<br />
wie die beste des ganzen Lebens.<br />
Weil sie die Lebensgeister<br />
weckt.“ Und das ist nötig:<br />
Die Suppe wird Schiwek am<br />
Sonntag essen, irgendwann in<br />
den Morgenstunden, an einem<br />
der Verpflegungsstände beim<br />
„Mammutmarsch“. Und wenn<br />
er sie genießt, Löffel für Löffel,<br />
dann weiß er: Von 100 Kilometern,<br />
die er bei der Extrem-<br />
Wanderung in weniger als 24<br />
Stunden zu Fuß hinter sich<br />
bringen will, hat er die ersten<br />
50 geschafft. Danach wird es<br />
richtig schwer. Doch die Suppe<br />
wird hoffentlich helfen.<br />
100 Kilometer wandern in<br />
unter 24 Stunden –wer tut<br />
sich so etwas an? Die Antwort<br />
lautet: Zahlreiche Sportler, die<br />
bei den Extrem-Märschen jedes<br />
Jahr antreten. Wandern<br />
ist ein Trend, nicht erst seit<br />
gestern, doch das Konzept<br />
„Mammutmarsch“ lotet die<br />
Grenzen aus. „Ich nehme jedes<br />
Jahr an mehreren solchen<br />
Läufen teil“, sagt Schiwek.<br />
„Und jedes Mal ab Kilometer<br />
50 oder 60 frage ich mich, warum<br />
ich das tue. Dann sage ich:<br />
Das war das letzte Mal. Aber<br />
dann starte ich doch wieder.“<br />
Die Leidenschaft fürs Laufen<br />
entdeckte der Oranienburger<br />
schon früh, als er noch in Groß<br />
Köris lebte. Schon den Schulsport<br />
mochte er, auch das Rennen.<br />
„Im Wald gab es eine<br />
Zwei-Kilometer-Runde, die<br />
wir im Unterricht ablaufen<br />
mussten –und ich war einer<br />
der wenigen, die sie wirklich<br />
absolvierten“, sagt er und<br />
lacht. Seine Mitschüler versteckten<br />
sich im Busch, weil<br />
sie keine Lust hatten, doch<br />
Schiwek lief. Und lief. Und lief.<br />
Während der späteren Zeit<br />
bei der Armee wurden die Distanzen<br />
größer, zehn Kilometer,<br />
zwanzig, dreißig. „Das hat<br />
immer Spaß gemacht“, sagt er.<br />
„Ich bin auch tauchen gegangen<br />
oder mit dem Fallschirm<br />
gesprungen, aber am Ende<br />
blieb immer das Laufen.“<br />
Seinen ersten Marsch lief er<br />
vor 20 Jahren, den „Dodendocht“<br />
in Belgien, bekannt als<br />
„Totenkopfmarsch“, ein optimistischer<br />
Name. Es war das<br />
Abenteuer, das Schiwek vollends<br />
infizierte. An unzähligen<br />
Läufen hat er inzwischen teilgenommen,<br />
er hat mit Körper<br />
und Geist gekämpft. „Denn<br />
vor allem mit dem Kopf macht<br />
so ein Lauf eine Menge“, sagt<br />
er. „Wenn man acht Stunden<br />
gewandert ist, hat man 40 Kilometer<br />
geschafft. Eigentlich<br />
ist man am Ende –aber trotzdem<br />
weiß man: Es sind noch<br />
60 Kilometer.“ Schaffen können<br />
es viele, aber Leistungsfähigkeit<br />
reicht nicht. „Der Kopf<br />
sagt irgendwann: Ich will<br />
nicht mehr. Diesen Punkt<br />
muss man überwinden. Die<br />
ersten 20 Kilometer denke ich<br />
noch über verschiedene Dinge<br />
aus meinem Alltag nach, aber<br />
dann ist die Birne leer. Dann<br />
ist es auch Nacht, man läuft<br />
stupide vor sich hin, einen Fuß<br />
vor den anderen.“ Geht am<br />
frühen Morgen die Sonne auf,<br />
gebe das noch einen Motivationsschub.<br />
„Man erinnert sich<br />
auch an die Läufe, die man<br />
mitgemacht hat, die schönen<br />
Momente.“<br />
2014 wanderte UweSchiwek beim<br />
Marsch um das Steinhuder Meer<br />
mit,auch Lena wardabei.<br />
Einmal sei er bei einem<br />
Zwei-Tage-Marsch in der<br />
Schweiz gewesen. „Das war<br />
ein richtiges Event. Mitten in<br />
der Nacht liefen wir durch<br />
kleine Dörfer auf dem Land,<br />
dort war Volksfeststimmung.<br />
Die Leute haben die Wanderer<br />
auf ihre Höfe gezerrt, es gab<br />
Schnaps.“ Sportlich vielleicht<br />
keine gute Sache, aber die Erinnerungen<br />
bleiben. „Und<br />
,Nee‘ sagen kann man schließlich<br />
auch nicht.“ Beim Totenkopfmarsch<br />
in Belgien gehen<br />
rund 30000 Menschen an den<br />
Start. „Da ist das Feeling ein<br />
ganz Besonderes.“<br />
Gerade hat Schiwek, der von<br />
Beruf Sozialpädagoge ist, Urlaub.<br />
Trainieren will er nicht,<br />
nur Ruhe gönnt er sich, bevor<br />
es am Sonnabend auf die Strecke<br />
geht. Start und Ziel liegen<br />
in der Freizeitsportanlage im<br />
Südpark, zwischendurch geht<br />
es vorbei an Grunewald, Potsdam,<br />
ins Havelland. Immer<br />
wieder warten Verpflegungsstellen<br />
auf die Läufer, doch<br />
lange Pausen sind nicht drin.<br />
„Davon rate ich auch allen ab“,<br />
sagt Schiwek. „Ich halte mich<br />
dort zehn, höchstens fünfzehn<br />
Minuten auf. Der Körper will<br />
irgendwann seine Ruhe haben<br />
–und wenn man einmal in den<br />
Ruhemodus gerät, wird es<br />
schwerer, loszulaufen.“<br />
Was die Ausrüstung betrifft,<br />
ist Schiwek bodenständig. Es<br />
gebe Leute, die Unsummen für<br />
Schuhe, Socken, Funktionsunterwäsche<br />
ausgeben. Der Oranienburger<br />
macht das nicht.<br />
„Ich trage normale Socken, eine<br />
lange Hose und ein T-Shirt,<br />
außerdem habe ich Kleidung<br />
für die Nacht im Rucksack.“<br />
Wichtig sei, dass der Körper<br />
vorbereitet ist. „Auch 300-Euro-Schuhe<br />
loofen schließlich<br />
nicht alleene“, sagt er.<br />
An Verpflegung nimmt er<br />
nur einfache Dinge mit. Bananen<br />
und Müsliriegel mag er<br />
nicht besonders. „Stattdessen<br />
habe ich Stullen, Knacker, Käse<br />
im Rucksack“, sagt er. Eiskalte<br />
Getränke seien tabu, regelmäßiges<br />
Essen Pflicht.<br />
„Wenn man auf der Strecke<br />
Hunger bekommt, ist es schon<br />
zu spät. Und: Keine Experimente,<br />
der Körper muss an das<br />
Essen gewöhnt sein, sonst gibt<br />
es Probleme.“ Und die gibt es<br />
hinterher schließlich schon<br />
genug: Auch bei einem erfahrenen<br />
Läufer kommt einen<br />
Tag später der Muskelkater.<br />
Aber ein Extrem-Läufer ist<br />
hart im Nehmen. „Man hat<br />
auch mal ’ne Blase„, sagt Schiwek.<br />
„Aber die sticht man auf<br />
und weiter geht’s.“<br />
Die 100 Kilometer will Schiwek<br />
auch dieses Mal allein gehen,<br />
ein Teamsportler ist er<br />
nicht. Nur sich selbst braucht<br />
er auf der Strecke, sagt er. Wobei:<br />
Ganz stimmt das nicht.<br />
Denn auch Lena ist dabei, seine<br />
Hündin, sie begleitet ihn<br />
seit Jahren bei unzähligen<br />
Märschen. Sie lief schon 300<br />
Kilometer mit ihm –von Berlin<br />
bis Dresden. Sie ist auf lange<br />
Strecken trainiert, wie er.<br />
Irgendwann am Sonntag<br />
wird Schiwek über die Ziellinie<br />
laufen, wenn nichts schief<br />
geht. Er wird stolz sein, weil er<br />
weiß: „Ich laufe Distanzen, die<br />
andere nur mit dem Auto fahren.“<br />
Die Medaille wird er sich<br />
mitnehmen, die Urkunde, das<br />
Sieger-Bier, das jeder bekommt,<br />
wird er verschenken.<br />
„Ich trinke keins.“ Aber das ist<br />
nicht wichtig, denn sein heimliches<br />
Highlight ist schließlich<br />
sowieso ein ganz anderes: Die<br />
Suppe bei Kilometer 50.<br />
Auch an der Ostsee ging der<br />
Oranienburger auf Wanderschaft.<br />
auf die warme<br />
Suppe, die es<br />
nach der Hälfte<br />
der Streckegibt,<br />
freut sich<br />
Schiwek sehr.<br />
Auch 2017 nahm Schiwek am<br />
Mammutmarsch teil.<br />
Schiwek beim Fichtelbergmarsch<br />
mit seiner Hündin Lena.<br />
Auf manchen Touren begleiteten<br />
ihn Sohn und Tochter.<br />
Fotos: Volkmar Otto, privat