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2* <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 256 · M ontag, 4. November 2019<br />
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Das Derby<br />
Eine Leuchtrakete fliegt knapp an Unions Co-Trainer Markus Hoffmann vorbei. GETTY/STARKE Im Gästeblock zünden Randalierer von Hertha geklaute Union-Fanutensilien an: Schals, Shirts und Fahnen. DPA/ANDREAS GORA<br />
SPLITTER<br />
Sportgericht: Hertha BSC muss mit<br />
einer drastischen Strafe durch das<br />
Sportgericht des Deutschen Fußball-Bundes<br />
(DFB) rechnen. „Wir<br />
werden vomDFB aufgefordertStellungnahmen<br />
abzugeben“, erklärt<br />
Mediendirektor MaxJung. „Dann<br />
wirdesein paar Wochen dauern. Es<br />
gibt mittlerweile verbesserte Kamerasinden<br />
Stadien, die versuchen<br />
die Einzeltäter herauszupicken.“<br />
Undweiter:„Dann werden die Strafen,<br />
die der Verein vomDFB aufgebrummt<br />
bekommt, weitergeleitet.<br />
Wirversuchen dann, die Strafen an<br />
die Einzeltäter weiterzugeben. Das<br />
ist in der Vergangenheit schon<br />
häufiger passiert. DieAufnahmen<br />
werden ausgewertet. Dann wirdes<br />
den Strafbefehl geben und die entsprechende<br />
Summe muss gezahlt<br />
werden.“<br />
Nachspiel: Schon in der Vergangenheit<br />
musste Hertha BSC vermehrt<br />
Strafen wegen Pyrotechnik zahlen.<br />
135 000 Euro musste der Verein allein<br />
in der vergangenen Saison aufgrund<br />
der Ausschreitungen beim<br />
Gastspiel in Dortmund Ende Oktober<br />
2018 zahlen. 100 000 Euro<br />
mussten die Charlottenburger im<br />
August 2017 aufgrund der Vorfälle<br />
rund um das Pokalspiel bei Hansa<br />
Rostock berappen. Bereits damals<br />
wurden Raketen in Zuschauerblöcke<br />
geschossen. DerStrafenkatalog<br />
des DFB sieht 1000 Euro progezündetes<br />
Pyromaterial im Block sowie<br />
3000 Euro proPyroaußerhalb des<br />
Blocks vor.<br />
Statistik: Beiden Ausschreitungen<br />
rund um das <strong>Berliner</strong> Derbyhat es<br />
insgesamt drei Verletzte gegeben.<br />
Dasteilte die Polizei am Sonntag<br />
mit. Durchdas Abfeuernvon Pyrotechnik<br />
wurden ein Union-Fan und<br />
ein Zivilpolizist leicht verletzt, zudem<br />
wurde ein Beamter im Zuge<br />
der polizeilichen Maßnahmen<br />
ebenfalls leicht verletzt. Vier Personen<br />
wurden vorläufig festgenommen<br />
und hinterher wieder entlassen.<br />
25 Strafverfahren wurden bislang<br />
eingeleitet, unter anderem wegen<br />
Körperverletzung und<br />
Hausfriedensbruchs.<br />
Einlassprobleme: Beim Einlass ins<br />
Stadion An der Alten Försterei gab<br />
es Probleme.Einige Fans des 1. FC<br />
Union kamen offenbar unkontrolliertins<br />
Stadion. Dasteilte die <strong>Berliner</strong><br />
Polizei über ihren Twitterkanal<br />
mit. Es war zunächst unklar,wie<br />
viele Fans sich der Einlasskontrolle<br />
entzogen. „Es wirdgrundsätzlich<br />
eine Nachbearbeitung des Spiels<br />
geben“, kündigte Clubsprecher<br />
Christian Arbeit an.<br />
Es ist die Szene des Derbys. Dabei<br />
ereignet sie sich erst nach dem Spiel:<br />
Rafal Gikiewicz, der Torwart des<br />
1. FC Union, hat die sich anbahnende<br />
Gefahr am Samstagabend frühzeitig<br />
erkannt. Kurz nach Abpfiff des skandalumwobenen<br />
<strong>Berliner</strong> Derbys –das letztlich 1:0 für<br />
die Eisernen endet – klettern einige vermummte<br />
Union-Ultras über den Zaun des<br />
Fanblocks an der Waldseite und stürmen auf<br />
den Rasen. IhrZiel: die andereSeite.<br />
Sie wollen rüber zu den Ultras von Hertha<br />
BSC, die nach der bitteren Derbypleite rotweiße<br />
T-Shirts,die sie unter der Woche aus einem<br />
Union-Fancontainer entwendet hatten,<br />
abbrennen und zudem Leuchtraketen aufs<br />
Spielfeld und sogar in die benachbarten Blöcke<br />
feuern. EinPlatzsturmbahnt sich an.<br />
Die Situation wäre wohl eskaliert, wäre da<br />
nicht Gikiewicz gewesen. Der impulsive Pole<br />
stellt sich im giftgrünen Trikot den Ultras seines<br />
Vereins entgegen. Er breitet die Arme aus,<br />
schubst sie und schreit sie mit hochrotem<br />
Kopf und weit aufgerissenen Augen an. Immer<br />
wieder deutet er wütend und zornig mit<br />
dem linken Zeigefinger auf die Stirn.<br />
Er weist die in schwarz gekleideten und<br />
vermummten Männer wie kleine Schulbuben<br />
zurecht und treibt sei damit zurück in Richtung<br />
Block. Es kommen ihm weitereTeamkollegen<br />
zu Hilfe: Christopher Lenz, Sebastian<br />
Polter, Christian Gentner, Marvin Friedrich<br />
und auch Keven Schlotterbeck. „Wir Spieler<br />
sind in der Pflicht, unsereeigenen Fans davon<br />
abzuhalten, irgendwelche Dummheiten anzustellen“,<br />
sagt Siegtorschütze Polter später.<br />
Und Schlotterbeck ergänzt: „Wir wollten die<br />
Fans zurückhalten, bevor es eskaliert. Diehaben<br />
auf dem Platz nichts verloren.“ Die Spieler<br />
seien vielleicht die einzigen, meint Gentner,<br />
die in dem Fall hätten eingreifen können<br />
„und auf die die Jungs da hören“. Undweiter:<br />
„Wir wollten vermitteln, dass wir diesen besonderen<br />
Sieg feiernwollen und nicht, dass es<br />
hier noch Ausschreitungen gibt.“ Dann, so<br />
Gentner,hätte es nur Verlierer gegegeben.<br />
Viel mehr geht nicht<br />
So aber gehen die Unioner um ihren mutigen<br />
Keeper Rafal Gikiewicz als doppelter Sieger<br />
aus dem brisanten <strong>Berliner</strong> Stadtderby. Mit<br />
Sprechchören wirdder Aufstiegstorwartgefeiert,<br />
der in der vergangenen Saison von den<br />
Anhängernzum„Unioner des Jahres“ gewählt<br />
wurde. „Gikiewicz! Gikiewicz!“ hallt es durch<br />
die vonPyrotechnik vernebelte Alte Försterei.<br />
Für Gikiewicz ist es ein großer und gelungener<br />
Abend zugleich. Der 32-Jährige, ein<br />
meinungsstarker Profi, hat seinen Kasten sauber<br />
gehalten und die Ultras aufgehalten. Viel<br />
mehr geht nicht. Hinterher genießt der Held<br />
seine große Tat im Stillen. Er will sich auf<br />
Nachfrage nicht zu den Vorfällen äußern. Es<br />
sei alles gesagt, meint der gebürtige Olsztyner.<br />
Das <strong>Berliner</strong> Derby ist etwas Besonderes,<br />
denn es ist das erste Zusammentreffen zweier<br />
<strong>Berliner</strong> Mannschaften in der Ersten Fußball-<br />
Bundesliga seit 42 Jahren. Doch das Spiel ist<br />
spielerisch alles andere als auf einem guten<br />
Niveau und bekommt durch das Verhalten<br />
beider Fangruppen – vornehmlich der von<br />
Hertha BSC – zudem einen faden Beigeschmack.<br />
Dabei hat es für die Anhänger beider<br />
Klubs noch Stunden zuvor vielversprechend<br />
ausgesehen.<br />
Das Spiel<br />
mit dem Feuer<br />
Im Derby zwischen dem 1. FC Union und Hertha BSC gerät<br />
der Fußball in den Hintergrund. Fans beider Seiten feuern<br />
massenhaft Pyrotechnik ab. Die Vorfälle überschatten das Spiel<br />
VonAndreas Baingo, Patrick Berger,Michael Jahn und Ulrich Paul<br />
Der Sonnabend beginnt für einige Hertha-Fans<br />
gegen 13 Uhr amBoxhagener Platz<br />
in Friedrichshain. Am Rande des Wochenmarkts<br />
treffen sich die Anhänger der Blau-<br />
Weißen, um von dort gemeinsam den Weg<br />
ins Stadion an der Alten Försterei anzutreten.<br />
Mit dabei sind auch Martin Seidel, 30,<br />
und Daniel Hasert, 33, aus Friedrichshain.<br />
„Wir sind leider ohne Tickets“, sagt Seidel.<br />
Siewollen die anderen Hertha-Fans aber wenigstens<br />
bis zur S-Bahn begleiten. Seit 23<br />
Jahren sei er bereits Fan der Blau-Weißen.<br />
Seit dem Aufstieg in die Erste Liga in der Saison<br />
1996/97. Wiedas Spiel ausgeht? Für Martin<br />
Seidel keine Frage: „Ich habe 4:0 für Hertha<br />
getippt“, meint er siegessicher.<br />
„Wir müssen das Spiel einfach gewinnen“,<br />
sagt Hasert. Denn natürlich ist das<br />
Derby ein besonderes Spiel. Die Rivalität<br />
zwischen Hertha und Union sei groß.<br />
Seidel macht das an einem Ereignis aus<br />
dem Jahr 2010 fest. Da kamen etwa 200<br />
Union-Fans zu einem Spiel der Hertha gegen<br />
den VfL Bochum ins Olympiastadion und verspotteten<br />
die Blau-Weißen als Absteiger.„Ich<br />
habe für die nichts übrig“, sagt Seidel.<br />
Dann zieht er mit den anderen los. Die<br />
Hertha-Fans am Boxhagener Platz streifen<br />
sich blau-weiße Jacken über, die sie für 15<br />
Euro gekauft haben, und singen sich schon<br />
mal ein.„InBerlin an der Spree, gibt’s nur Hertha<br />
BSC“ ertönt es. Während sich die Marktbesucher<br />
noch an den Ständen auf dem Boxi<br />
drängen, gehen die Fans Richtung S-Bahnhof<br />
Warschauer Straße.Polizisten begleiten sie.<br />
Nach offizieller Aussage sind 1100 Sicherheitskräfte<br />
im Einsatz. Ein Beamter schätzt<br />
die Zahl sogar auf 2000. Unterstützt werden<br />
die <strong>Berliner</strong> Beamten von Kräften aus Sachsen,<br />
Baden-Württemberg, Brandenburg, Niedersachsen,<br />
Nordrhein-Westfalen und der<br />
Bundespolizei. Vereinzelt brennen Fans Pyrotechnik<br />
ab. Kurz vor 16 Uhr erreicht die blauweiße<br />
Menge den S-Bahnhof Warschauer<br />
Straße.Die Polizei versucht, Hertha-Fans und<br />
Union-Fans zu trennen.<br />
Einer der Union-Fans ist Thomas Wolf, 46<br />
Jahrealt. Seit 1986 ist er Anhänger der Eisernen.<br />
Geschlossen fahren die Herthaner vom S-Bahnhof Warschauer Straße nach Köpenick.<br />
VOLKMAR OTTO<br />
Damals habe Union im Finale des FDGB-<br />
Pokals im Stadion der Weltjugend an der<br />
Chausseestraße in Mitte gegen Lokomotive<br />
Leipzig gespielt –und sei mit 1:5 untergegangen.<br />
Ein älterer Union-Fan habe trotzdem<br />
nicht aufgehört, seine Mannschaft zu unterstützen.<br />
Das habe ihn so beeindruckt, dass er<br />
zum Union-Anhänger wurde.Rivalität zu Hertha?<br />
Thomas Wolf kennt noch andere Zeiten.<br />
Ende der 80er-Jahre habe er Union noch zusammen<br />
mit Fans der Hertha unterstützt und<br />
gesungen: „Ja, wir gehören zusammen wie das<br />
Wind und das Meer, blau-weiße Hertha und<br />
der FC Union“. Im Januar 1990, beim Freundschaftsspiel<br />
von Hertha gegen Union nach<br />
dem Mauerfall, sei noch eine„Wahnsinnsstimmung“<br />
unter den Fans beider Klubs im Olympiastadion<br />
gewesen, erinnertsichWolf. Jetzt sei<br />
alles abgeflacht. Schimpfworte auf Hertha gehören<br />
dennoch nicht zum Wortschatz des<br />
Union-Fans. „Wir sagen ‚die alte Tante‘.“ Zumindest<br />
in der WhatsApp-Gruppe seines<br />
Sportvereins.Esgibt Schlimmeres.<br />
Am Bahnhof Köpenick steigen die Fans<br />
aus der S-Bahn aus, umvon dort zum Stadion<br />
zu ziehen. Auf dem Bahnsteig herrscht<br />
Gedränge.Viele Fans halten Schilder mit der<br />
Aufschrift „Suche Karte!“ hoch. Ein Union-<br />
Fan setzt auf besondere Überredungskunst.<br />
„Warnung! Heute kein Bier im Stadion!“<br />
steht auf einem selbstgemalten Schild. „Suche<br />
Karte. Biete: Stimmung und Geld“ ist<br />
auf einem zweiten Plakat zu lesen. Die<br />
Preise sind hoch. 650 Euro habe ein Bekannter<br />
für ein Ticket gezahlt, erzählt ein Mann.<br />
„Der beste Tagdes Jahres“<br />
Gute Geschäfte macht Isa Kazar, Inhaber des<br />
Kebab-Ladens„K.bap“ im Bahnhof Köpenick.<br />
Die Fans, die mit der S-Bahn anreisen, müssen<br />
alle an seinem Laden vorbei. Seine Mitarbeiter<br />
verkaufen Bierflaschen im Akkord.„Das<br />
ist der beste Tagdes Jahres“, erzählt Kazar.<br />
Wenig später stehen hunderte Zuschauer,<br />
die einen Platz auf der Haupttribüne ergattert<br />
haben in einer langen Schlange –meist Dauerkartenbesitzer<br />
und Vereinsmitglieder von<br />
Union und einige wenige Herthaner.Die führt<br />
vom Denkmal für die Sieger im FDGB-Pokal<br />
von1968, als der Underdog Union den damals<br />
großen FC Carl Zeiss Jena im Finale mit 2:1 bezwang,<br />
bis zum Eingang der Tribüne.<br />
Detlef Schneeweiß, einst mehr als 17 Jahre<br />
lang Mannschaftsleiter vonUnion, gibt einen<br />
optimistischen Tipp ab: „3:1 für Union.“ Vorsichtiger<br />
ist Detlef „Detta“ Schwarz, früher<br />
Spieler und Trainer an der Alten Försterei,<br />
heute Chef der Traditionsmannschaft: „Ich<br />
hoffe auf ein 2:1, tippe aber 1:1.“ Kurz und<br />
knapp die Antwort von Ingo Schiller, dem Finanzchef<br />
vonHertha BSC: „2:1 für Hertha natürlich!“<br />
Unter den erwartungsfrohen Anhängern<br />
werden längst auch die sensationellen<br />
Resultate der Nachmittagsspiele der Bundesliga<br />
diskutiert. Ungläubig wirddas 1:5 der Bayern<br />
bei Eintracht Frankfurt registriert und<br />
dann das 8:0 vonRBLeipzig gegen Mainz. Die<br />
torhungrige Truppe vonTrainer Julian Nagelsmann<br />
reist am kommenden Sonnabend zu<br />
Hertha ins Olympiastadion.<br />
DieAlte Försterei ist mit offiziell 22 012 Zuschauern<br />
restlos ausverkauft. Es sind sogar<br />
noch mehr Menschen im Stadion, weil sich<br />
Unioner, die keine Eintrittskarte hatten, laut<br />
Polizei unkontrolliertins Stadion gelangen.