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26 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 256 · M ontag, 4. November 2019<br />
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Spreewild<br />
Editorial<br />
Die Idee eines bundesweiten<br />
Zentralabiturs ist schon seit<br />
langem Bestandteil bildungspolitischer<br />
Debatten. Zuletzt wurden<br />
Forderungen danach wieder lauter.<br />
Grund genug für Jugendreporter<br />
Moritz Tripp, auf dieser Seite der<br />
Frage auf den Grund zu gehen, ob<br />
ein Zentralabitur sinnvoll wäre.<br />
Ausführlichere Artikel zum Thema<br />
gibt es diese Woche online auf<br />
spreewild.de. Euer Spreewild-Team<br />
Fakten<br />
Die derzeitige Lage<br />
im Überblick<br />
Bundesländer<br />
Bisher haben bis zu 15 Bundesländer<br />
zeitgleich das Abitur geschrieben.<br />
Nur Rheinland-Pfalz hat noch nicht<br />
teilgenommen, weil es das einzige<br />
Land ist, das bis heute kein landesweites<br />
Zentralabitur hat.<br />
Betroffene Fächer<br />
Zurzeit betreffen diese zeitgleich absolvierten<br />
Prüfungen nur die Fächer<br />
Deutsch, Mathe, Englisch und Französisch.<br />
Wann weitere folgen werden,<br />
ist noch unklar.<br />
Aufgaben<br />
In den betroffenen Fächern können<br />
die Schüler im Abitur eine von drei<br />
Aufgaben zur Bearbeitung auswählen.<br />
Seit 2017 wird eine dieser drei<br />
Aufgaben aus dem zentralen Fragenpool<br />
des IQBs (Instituts zur Qualitätsentwicklung<br />
im Bildungswesen)<br />
gestellt. Die anderen zwei Aufgaben<br />
werden von den einzelnen Ländern<br />
vorgegeben. Bisher ist das Aufnehmen<br />
einer Frage aus dem IQB-Pool<br />
fürdie Länder unverbindlich, außerdem<br />
können die Aufgaben von den<br />
Ländern noch geringfügig abgeändert<br />
werden. Bis auf Weiteres ist<br />
nicht geplant, den Anteil der IQB-<br />
Fragen auf zwei oder gar drei zu erhöhen.<br />
Nächste Schritte<br />
Ab 2021sollen die IQB-Aufgaben für<br />
die Länder verbindlich und unveränderbar<br />
werden. Außerdem sollen<br />
die zentralen Abiturprüfungen ab<br />
dann immer nach den Osterferien<br />
stattfinden, egal, auf welchen Termin<br />
diese fallen. Das soll den Schülern<br />
dazu dienen, sich in der freien<br />
Zeit besser vorbereiten zu können.<br />
HINTERGRUND<br />
Warum ist Bildung<br />
überhaupt Ländersache?<br />
In Deutschland bestimmen die einzelnen<br />
Bundesländer zu weiten Teilen<br />
über das Thema Bildung –der<br />
Bund hat hier nur begrenzten Einfluss.Dieser<br />
sogenannte Bildungsföderalismus<br />
besteht in Deutschland<br />
schon sehr lange.Das änderte<br />
sich zum ersten Malinder Zeit des<br />
Nationalsozialismus, als das diktatorische<br />
Regime den Ländern<br />
gewaltsam die Verantwortung für<br />
Bildung entriss,umdie Nazi-Ideologie<br />
in ganz Deutschland in Schulen<br />
und Hochschulen zu propagieren.<br />
Dies ist auch der Grund, warum der<br />
vonden Alliierten wiedereingeführte<br />
und streng überwachte Bildungsföderalismus<br />
heute noch so<br />
einen hohenStellenwerthat.<br />
Von Moritz Tripp, 24 Jahre<br />
Für viele junge Menschen ist<br />
das Abitur die erste große<br />
Härteprüfung im Leben. Die<br />
Note entscheidet maßgeblich<br />
darüber,obman nach der Schule<br />
sein Wunschfach studieren kann<br />
oder nicht. Doch die Abiturprüfungen<br />
inDeutschland sind nicht vereinheitlicht:<br />
Gerade die Prüfungsaufgaben<br />
können von Bundesland<br />
zu Bundesland stark variieren. Zudem<br />
korrigieren Lehrer in manchen<br />
Länderntendenziell etwas großzügiger,<br />
wodurch es beispielsweise in<br />
Thüringen regelmäßig zu den besten<br />
Durchschnittsnoten kommt.<br />
Das ist unfair gegenüber Schülerinnen<br />
und Schülern anderer Länder,<br />
die bei gleichen oder sogar besseren<br />
Leistungen schlechtere Noten<br />
bekommen. Die Tatsache, dass Studienanwärter<br />
allein aufgrund der<br />
Region, in der sie zur Schule gegangen<br />
sind, benachteiligt sein können,<br />
ist offensichtlich ungerecht. Um allen<br />
Schülern die gleichen Chancen<br />
auf die bestmögliche Abiturnote einzuräumen,<br />
könnte daher eine potenzielle<br />
Lösung die Einführung eines<br />
bundesweiten Zentralabiturs<br />
sein: Das würde bedeuten, dass alle<br />
Ein Abitur für alle<br />
Die Idee eines bundesweiten Zentralabiturs verspricht Chancengleichheit. Doch stimmt das auch?<br />
Tamina, 24: „Ich finde die<br />
Idee gut, weil ich es unfair<br />
finde, dass Ergebnisse nicht<br />
vergleichbar sind. Bei uns<br />
wussten damals alle, auf welche<br />
Schule man gehen musste, um<br />
einen Einserschnitt zu bekommen.“<br />
Jessica B. unterrichtet an einer<br />
<strong>Berliner</strong> Sekundarschule die<br />
Fächer Biologie und Sport. Im Interview<br />
erklärt sie, wie sie zur Idee<br />
eines Zentralabiturs steht und was<br />
sie über alternative Lösungsvorschläge<br />
denkt.<br />
Halten Sie die Idee eines deutschlandweit<br />
zentralen Abiturs für<br />
sinnvoll?<br />
Grundsätzlich fände ich es<br />
schon gut, eine höhere Vergleichbarkeit<br />
zwischen den Ländern zu<br />
schaffen. Das setzt aber voraus,<br />
vorher die Rahmenbedingungen<br />
der Länder anzugleichen. Ein Zentralabitur<br />
von heute auf morgen<br />
einzuführen, funktioniert nicht.<br />
Jeder sollte im Abitur die gleichen Chancen haben.<br />
Abiturientinnen und Abiturienten in<br />
Deutschland am gleichen Tag zur<br />
gleichen Zeit die gleichen Aufgaben<br />
bearbeiten.<br />
Zuletzt hatten sich dafür etwa<br />
FDP-Chef Christian Lindner, Mecklenburg-Vorpommerns<br />
Ministerpräsidentin<br />
Manuela Schwesig (SPD)<br />
und die baden-württembergische<br />
Kultusministerin Susanne Eisenmann<br />
(CDU) starkgemacht. Doch<br />
würde das Zentralabitur wirklich<br />
Chancengleichheit garantieren?<br />
Diese Frage ist heiß umstritten. In<br />
Rosina, 16: „Jemand sagte mal, Abi<br />
bedeute Schlaf, Freunde oder<br />
Schule, wovon nur zwei Optionen<br />
gingen. Mein Schlafrhythmus ist<br />
ähnlich verhungert wie bei<br />
anderen in Deutschland und doch<br />
machen wir ja „nur“ Abi inBerlin.“<br />
Warum nicht?<br />
Die Leistungsniveaus variieren<br />
zwischen den einzelnen Bundesländern.<br />
Aufgaben, die in einem Land<br />
gut angenommen werden, gelten<br />
anderswo als zu schwer. Esmüsste<br />
also zuerst das Bildungsniveau bundesweit<br />
auf ein vergleichbares Level<br />
gehoben werden, bevor man allen<br />
die gleichen Aufgaben stellt.<br />
In Berlin gibt esein Zentralabitur.<br />
Wiegroßist die Arbeitsbelastung, die<br />
dadurch entsteht?<br />
Das Abitur wurde bei uns im Mai<br />
geschrieben. Wir Lehrkräfte hatten<br />
dadurch etwas weniger regulären<br />
Unterricht, doch im Prinzip kam die<br />
Arbeit für uns einfach obendrauf.<br />
PICTURE ALLIANCE/DPA<br />
Schülermeinungen zum Zentralabitur<br />
Kristina, 18: „Ich kann mir<br />
nicht vorstellen, dass<br />
Bildung durch ein zentrales<br />
Abitur gerechter wird, da die<br />
Unterrichtsinhalte viel zu<br />
stark zwischen den<br />
Bundesländern variieren.“<br />
„Das Leistungsniveau variiert zu stark“<br />
Da das letzte Schuljahr ein sehr kurzes<br />
war, hatten wir für die Korrektur<br />
dann genau eine Woche und zwei<br />
Tage Zeit. Das fand ich ganz schön<br />
sportlich. Generell bedeutet einZentralabitur<br />
aber weniger Aufwand als<br />
ein individuelles, weil man sich als<br />
Lehrkraft die Aufgaben nicht selbst<br />
überlegen muss.<br />
Haben Siedas Gefühl, dass der Oberstufenunterricht<br />
zum Teil nur auf<br />
die Abiturprüfung vorbereiten soll?<br />
Vielleicht ein bisschen. Ich nehme<br />
mir aber die Freiheit, interessante<br />
Unterrichtsinhalte hervorzuheben,<br />
weil ich bei Schülern Leidenschaft<br />
für meine Fächer wecken möchte.<br />
In letzter Zeit habe ich allerdings das<br />
den vergangenen Jahren wurden bereits<br />
erste Schritte unternommen,<br />
um die Prüfungsverhältnisse zwischen<br />
den Ländernanzugleichen.<br />
Der Artikel links gibt einen Überblick<br />
über den aktuellen Stand der<br />
Dinge und die Pläne für die Zukunft.<br />
Spoilerwarnung: Die Kultusministerkonferenz<br />
(die über das Thema<br />
Bildung auf Bundesebene bestimmt)<br />
plant derzeit zwar, die Bedingungen<br />
für alle Schüler weiter zu vereinheitlichen<br />
–ein echtes Zentralabitur ist<br />
aber bis auf Weiteres nicht vorgesehen.<br />
Laut Alexander Lorz, Präsident<br />
der Kultusministerkonferenz, sollen<br />
die Abiturnoten „natürlich so vergleichbar<br />
wie möglich sein, aber das<br />
wirdman wohl nicht mit letzter Perfektion<br />
hinbekommen. Insofern erweckt<br />
die Forderung nach einem<br />
bundesweit einheitlichen Zentralabitur<br />
unrealistische Erwartungen.“<br />
Vorschnelle Kapitulation oder<br />
nachvollziehbare Schlussfolgerung?<br />
Fest steht, dass ein vereinheitlichtes<br />
Abitur zwar erst einmal fair klingt;<br />
doch ganz so einfach ist es dann<br />
doch nicht. Wasist zum Beispiel mit<br />
mündlichen Prüfungen? Diese wärensicher<br />
schwer –wenn nicht sogar<br />
unmöglich – zu vereinheitlichen.<br />
Haben die Schüler in den einzelnen<br />
Bundesländern überhaupt die gleichen<br />
Lernvoraussetzungen, um am<br />
Ende der Schullaufbahn die gleichen<br />
Fragen beantworten zu können?<br />
Um dem Ganzen auf den Grund<br />
zu gehen, haben wir mit Schülern<br />
und Lehrerngesprochen. Außerdem<br />
haben wir einen Blick auf andere<br />
Staaten geworfen, die ein Zentalabitur<br />
bereits vormachen. Und überlegt,<br />
ob es nicht noch ganz andere<br />
Lösungen als ein vereinheitlichtes<br />
Abitur gibt, um eine echte Chanchengleichheit<br />
zu schaffen.<br />
Julia, 23: „In Brandenburg haben<br />
wir durch mehr Leistungskurse<br />
Vorteile bei der Bewerbung<br />
um Uniplätze gegenüber den<br />
Bewerbern aus anderen<br />
Bundesländern, die nur zwei<br />
LKs hatten.“<br />
Was sagen Lehrkräfte zum Thema Zentralabitur? Wir haben eine <strong>Berliner</strong> Lehrerin gefragt<br />
Gefühl, dass sich viele Schüler nur<br />
noch aus rationalen Gründen für<br />
bestimmte Fächer entscheiden und<br />
nicht, weil sie wirklich Lust darauf<br />
haben.<br />
Washalten Sievon derIdee,das Numerus-clausus-Verfahren<br />
an Hochschulen<br />
durchEignungstests zu ersetzen?<br />
Ich glaube, das wäre schon gerechter,<br />
da so auch gezielt die Eigenschaften,<br />
die man für einen<br />
bestimmten Studiengang braucht,<br />
abgefragt werden könnten. Daswürde<br />
allerdings mit einer zusätzlichen<br />
Belastung für frischgebackene Abiturientinnen<br />
und Abiturienten einhergehen,<br />
weil auf das Abitur gleich<br />
die nächste Prüfung folgen würde.<br />
Maturità –das<br />
italienische<br />
Staatsabitur<br />
Lohnt sich ein Blick zum<br />
Nachbarn?<br />
Die Befürworter des Zentralabiturs<br />
nehmen sich unter anderem<br />
Italien zu Vorbild. Dort gibt es<br />
das zentrale Staatsabitur, die sogenannte<br />
„Maturità“, schon seit 1997.<br />
Einmal im Jahr,genauer im Juni, drehen<br />
dort Schüler, Lehrer und Eltern<br />
kollektiv am Rad. Allerdings existiert<br />
in Italien eine Problematik, die in<br />
ähnlicher Form auch hierzulande<br />
bei Einführung eines Zentralabiturs<br />
bestehen würde: Der Süden Italiens<br />
ist allgemein betrachtet ärmer und<br />
strukturschwächer als der Norden.<br />
Folglich sind auch die Schulen hier<br />
finanziell schlechter aufgestellt. Das<br />
sorgt für schlechtere Voraussetzungen<br />
der Schüler im Gegensatz zu denen<br />
aus dem Norden des Landes,da<br />
aufgrund fehlender finanzieller Mittel<br />
zum Beispiel weniger Personal<br />
beschäftigt werden kann und somit<br />
das Unterrichtsangebot spärlicher<br />
ausfällt. Die Abiturprüfung aber ist<br />
für alle Schüler des Landes gleich<br />
schwer – von fairen Umständen<br />
kann hier also nicht die Rede sein.<br />
Dies wird regelmäßig statistisch bestätigt:<br />
Die Schüler aus dem Süden<br />
schneiden tendenziell schlechter ab<br />
als die aus dem Norden.<br />
Moritz meint, das<br />
Abi sei nicht aussagekräftig<br />
genug.<br />
Kommentar<br />
Ein ganz<br />
anderer Ansatz<br />
Statt über ein Zentralabitur zu<br />
diskutieren, sollte man sich an<br />
dieser Stelle eine ganz andere Frage<br />
stellen: Ist das Abiturergebnis, das<br />
letztendlich nichts weiter als eine<br />
Zahl ist, überhaupt aussagekräftig,<br />
wenn es um die<br />
Eignung für einen<br />
Studiengang<br />
geht? Sollte ein<br />
einziger numerischer<br />
Wert die individuelle<br />
Zukunft<br />
dermaßen<br />
beeinträchtigen?<br />
VERENA KALUZA<br />
Ein Einserschüler<br />
mit einem<br />
Abiturschnitt von<br />
1.0, der fürs Medizinstudium<br />
zugelassen<br />
wird, bringt zwar vielleicht<br />
die erforderlichen fachlichen Voraussetzungen<br />
mit. Doch heißt das<br />
auch, dass er etwa die sozialen Kompetenzen<br />
hat, um dann als Arzt gut<br />
mit seinen Patienten umgehen zu<br />
können? DieAbiturnote gibt einfach<br />
nicht genug Auskunft über die tatsächlichen<br />
Fähigkeiten einer Person.<br />
Es gäbe eine Alternative: Hochschulen<br />
könnten bundesweit Eignungstests<br />
durchführen, die speziell auf<br />
jeden Studiengang zugeschnitten<br />
sind. Das Abitur würde damit zwar<br />
Voraussetzung für ein Studium bleiben,<br />
doch die Note allein würde<br />
nicht mehr bestimmen, ob man sein<br />
Wunschfach studieren kann oder<br />
nicht. Tatsächlich wirddieser Ansatz<br />
jedoch kaum öffentlich diskutiert.<br />
Warum nicht? Weil man mit dem<br />
Zentralabitur die einfachere und<br />
kostengünstigere Lösung sucht. Es<br />
fehlt der Mut, einen anderen, herausfordernderen<br />
Ansatz zu wagen.<br />
Eignungsverfahren an Hochschulen<br />
wären garantiert mit höherem Aufwand<br />
verbunden. Doch es wäre am<br />
Ende eine wirklich faireLösung.<br />
Mit freundlicher Unterstützung von:<br />
Das Projekt „Spreewild“<br />
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