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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 282 · M ittwoch, 4. Dezember 2019 5<br />
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Politik<br />
HerrLehrer,ich weiß es! y=mx+n.Die meisten erinnernsich bestimmt.<br />
BERLINER ZEITUNG/MARKUS WÄCHTER<br />
Hefte raus, Mathestunde<br />
Wasbedeuten die Ergebnisse der Pisa-Studie in der Praxis? Und hat das Handy schlechten Einfluss auf die Lesekompetenz? Ein Schulbesuch in Britz<br />
VonMargarethe Gallersdörfer<br />
Auch wenn man zehn Jahre<br />
raus ist aus der Schule –das<br />
Gefühl kommt schnell zurück.<br />
Direktor RobertGiese,<br />
der sich eben noch zuvorkommend<br />
verabschiedet hat, schaut Sekunden<br />
später strafend einen Schüler an, der<br />
gerade versucht, sich unauffällig an<br />
ihm vorbeizudrücken. „Du bist zu<br />
spät“, sagt er,indiesem ganz speziellen<br />
Lehrerton. „Sorry, Herr Giese“,<br />
murmelt er zurück, und man duckt<br />
sich gleich ein bisschen mit.<br />
Doppelstunde Mathe, Dienstagmorgen<br />
um acht Uhrinder 9. Klasse<br />
an der Fritz-Karsen-Gemeinschaftsschule<br />
in Britz. Hier sitzen alle in einem<br />
Raum: Zukünftige Einserabiturienten,<br />
Schüler, die nach dem MSA<br />
gehen, nach der Berufsbildungsreife,<br />
Schüler mit sonderpädagogischem<br />
Bedarf. Werfen sich Radiergummis<br />
zu. Drehen sich grinsend um, wenn<br />
einer zu stottern anfängt. Strahlen<br />
niedlich auf, wenn der Sitznachbar<br />
eine halbe Stunde nach Unterrichtsbeginn<br />
auch noch hereinschlurft.<br />
Überfordert wirken die Teenies<br />
nicht. Mathe halt. Heute: die Funktionsgleichung.<br />
Auf dem Polylux<br />
schiebt Lehrer Robert Piasek einen<br />
Strich auf einem Koordinatensystem<br />
umher.y=mx+n.Sie erinnernsich.<br />
Die Veröffentlichung der Ergebnisse<br />
der aktuellen Pisa-Studie liegt<br />
zu diesem Zeitpunkt noch etwa eine<br />
Stunde in der Zukunft. Danach: Unzufriedenes,<br />
aber doch hörbares<br />
Ausatmen. Deutsche 15-Jährige liegen<br />
deutlich über dem OECD-<br />
Durchschnitt, in allen drei Testgebieten:<br />
Mathematik, Naturwissenschaften,<br />
Lesekompetenz. Der Pisa-<br />
Schock 2.0: Er bleibt aus.<br />
Schlechter als 2015 und 2016<br />
Kristina Reiss und ihr Team, die an<br />
der TU München den deutschen Teil<br />
der Studie koordinieren, bezeichnen<br />
die Ergebnisse als „durchaus akzeptabel“.<br />
Mehr aber auch nicht: Obwohl<br />
Deutschland seit den ersten Ergebnissen<br />
2001 eine massiveVerbesserung<br />
gelungen ist, haben die Schülerinnen<br />
und Schüler im Vergleich<br />
zur letzten Studie, durchgeführt<br />
2015, veröffentlicht 2016, wieder<br />
schlechter abgeschnitten.<br />
„Gleich umdrehen, zurück auf<br />
den Hof!“ Die Mathestunde ist vorbei.<br />
Lehrer Robert Piasek steht nun<br />
auf dem Flur im Erdgeschoss der<br />
Schule und bewacht die Tür vor<br />
frischluftscheuen Schülerinnen, die<br />
ihre Pause lieber im Warmen verbringen<br />
würden. „Das wird jetzt<br />
noch ein paar Minuten so gehen“,<br />
erklärt er, „aber wir können gleichzeitig<br />
raus auf den Hof!“ Er ist 32<br />
Jahre alt und schon seit dem Referendariat<br />
an der Fritz-Karsen-<br />
Schule,imsiebten Jahr inzwischen.<br />
Pisa 2018 –Deutschland besser als der OECD-Durchschnitt<br />
Seit dem Jahr 2000 vergleicht die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
und Entwicklung) alle 3Jahre die Leistungen 15-jähriger Schüler.<br />
Auswahl an Ländern, Provinzen und Städten; Durchschnittsergebnisse in Punkten<br />
über OECD-Durchschnitt<br />
P-S-J-Z*<br />
Singapur<br />
Kanada<br />
Finnland<br />
Polen<br />
USA<br />
Großbritannien<br />
Japan<br />
Australien<br />
Deutschland<br />
Frankreich<br />
Niederlande<br />
Österreich<br />
Schweiz<br />
Italien<br />
Türkei<br />
Griechenland<br />
Mexiko<br />
Katar<br />
Thailand<br />
Dom. Rep.<br />
Philippinen<br />
Lesekompetenz<br />
555<br />
549<br />
520<br />
520<br />
512<br />
505<br />
504<br />
504<br />
503<br />
498<br />
493<br />
485<br />
484<br />
484<br />
476<br />
466<br />
457<br />
420<br />
407<br />
393<br />
342<br />
340**<br />
Washält er von der Lesekompetenz<br />
seiner Schüler, indiesem Jahr<br />
Schwerpunkt der Pisastudie? „Riesenproblem“,<br />
sagt Piasek. „Lesen,<br />
schreiben …“, ruft eine Deutschkollegin<br />
dazwischen, die gerade die<br />
unter OECD-Durchschnitt<br />
Mathematik<br />
591<br />
569<br />
512<br />
507<br />
516<br />
478<br />
502<br />
527<br />
491<br />
500<br />
495<br />
519<br />
499<br />
515<br />
487<br />
454<br />
451<br />
409<br />
414<br />
419<br />
325**<br />
353<br />
Naturwissenschaften<br />
590<br />
551<br />
518<br />
522<br />
511<br />
502<br />
505<br />
529<br />
503<br />
503<br />
493<br />
503<br />
490<br />
495<br />
468<br />
468<br />
452<br />
419<br />
419<br />
426<br />
336**<br />
357<br />
OECD-Durchschnitt 487 489 489<br />
*Peking,Shanghai, Jiangsu, Zhejiang; bester Wert in allen Kategorien ** schlechtester Wert in dieser Kategorie<br />
BLZ/GALANTY; QUELLE: OECD, DPA<br />
Treppe hochsteigt. Um längereTexte<br />
gehe es ja eher bei den Gesellschaftswissenschaften,<br />
ergänzt Piasek, aber<br />
er merke es schon bei den Matheaufgaben,<br />
selbst bei den leistungsstarken<br />
Schülerinnen und Schülern. „Da<br />
fehlt es wirklich an den Basics: lesen,<br />
filtern, fremde Begriffe aus dem Kontext<br />
heraus verstehen.“<br />
Und ist daran, wie Manfred Spitzer(„digitale<br />
Demenz“) und Konsorten<br />
vermuten, wirklich das Handy<br />
schuld? Was das Schreiben betrifft,<br />
ist sich Piasek da relativ sicher:„Man<br />
merkt selbst in der Oberstufe,dass es<br />
kein Grundbewusstsein für Großund<br />
Kleinschreibung gibt, weil das ja<br />
die Maschine übernimmt.“<br />
DasSchulsystem ist schuld<br />
Trotzdem sei es ihm zu einfach, alles<br />
auf das Handy zu schieben. Er selbst<br />
habe bis zur zehnten Klasse auch<br />
kein Buch in die Hand genommen,<br />
sagt Piasek, und konnte trotzdem einen<br />
Text analysieren. „Ich würde sogar<br />
behaupten, dass die Schüler<br />
durch das Handy heute mehr lesen<br />
als früher. Aber natürlich lesen sie<br />
anders,eher Kurznachrichten, keine<br />
längeren Sachen. Und wenn alles,<br />
was sie außerhalb der Schule anWissenbekommen,<br />
über Videos vermittelt<br />
wird –wosoll Lesekompetenz<br />
dann herkommen?“<br />
Die Pisastudie hat ergeben, dass<br />
deutsche Schülerinnen und Schüler<br />
zwar international mit am besten<br />
über Lesestrategien informiert sind.<br />
Leider wenden sie ihr Wissen nicht<br />
an. Piasek bestätigt aus der Praxis:<br />
„Es gibt genug Methoden, und eigentlich<br />
sollen wir die auch regelmäßig<br />
trainieren. Aber das geht im Alltag<br />
oft einfach unter.“<br />
Zurück ins Büro des Direktors.<br />
RobertGiese ist 30 Jahreälter als sein<br />
junger Kollege, gebürtiger Ostberliner<br />
und leitet die Fritz-Karsen-<br />
Schule seit 13 Jahren. Auf die Pisa-<br />
Studie angesprochen lächelt er<br />
milde. Tests, die nur auf Leistungen<br />
schauen, ohne zu berücksichtigen,<br />
wo ein Kind startet, sind für seine<br />
tägliche Arbeit uninteressant. Das<br />
zentrale Pisa-Ergebnis, für ihn wie<br />
für viele andere Lehrerinnen und<br />
Lehrer im Land, alle Jahrewieder:In<br />
wenigen anderen Ländernhängt der<br />
Schulerfolg so stark vom Elternhaus<br />
ab wie in Deutschland.<br />
Das mehrgliedrige Schulsystem,<br />
sagt Giese, segregiert die sozialen<br />
Schichten, diskriminiert Schülerinnen<br />
und Schüler mit Migrationshintergrund,<br />
steht der Inklusion imWeg.<br />
„Den Bildungserfolg vomElternhaus<br />
zu entkoppeln, schafft nur eine<br />
Schulform: die Gemeinschaftsschule“,<br />
sagt Giese. Esdürfte keine<br />
andereSchulformmehr geben, bundesweit.<br />
Doch dass sich diese Idee in<br />
nächster Zeit durchsetzen wird,<br />
scheint auch er nicht zu glauben.<br />
Margarethe Gallersdörfer<br />
saß vorzehn Jahren zum<br />
letzten Mal im Klassenraum.<br />
Arbeitstage wie Spitzenmanager<br />
Südkorea ist genau wie seine ostasiatischen Nachbarstaaten Pisa-Spitzenreiter.Für die Schüler des Landes ist das rigide Bildungssystem jedoch auch eine große Herausforderung<br />
VonFabian Kretschmer<br />
Die<br />
Zehn-Millionen-Metropole<br />
Seoul kommt an einem Vormittag<br />
im Jahr zum Stillstand: Als am 14.<br />
November 2019 rund Fünfhunderttausend<br />
südkoreanische Oberschüler<br />
zur Universitätseingangsprüfung<br />
antraten, öffneten die staatlichen<br />
Firmen und Börsenmärkte eine<br />
Stunde verspätet –damit die Pendler<br />
nicht die U-Bahnen und Busse zum<br />
Schulweg verstopfen. Während des<br />
35-minütigen Hörverständnistests<br />
in Englisch wurde gar der Flugraum<br />
landesweit gesperrt. Und bereits<br />
Tage zuvor waren die buddhistischen<br />
Tempel mit besorgten Müttern<br />
gefüllt, die mit Räucherstäbchen<br />
und Kerzen für die Zukunft ihrer<br />
Kinder beteten. Der neunstündige<br />
Prüfungsmarathon ist<br />
schließlich für einen jeden Südkoreaner<br />
der wohl entschiedenste Tagim<br />
Leben.<br />
Wie invielen ostasiatischen Ländern<br />
gilt auch im konfuzianisch geprägten<br />
Südkorea Bildung als<br />
Schlüssel zum gesellschaftlichen<br />
Aufstieg.<br />
In allen Disziplinen vorn<br />
Das spiegelt sich eindrucksvoll bei<br />
den am Dienstag vorgestellten Pisa-<br />
Ergebnissen wider:Die südkoreanischen<br />
Schüler landeten durchweg<br />
in der Spitzengruppe, oft nur geschlagen<br />
vonden asiatischen Stadtstaaten<br />
Singapur und Hongkong.<br />
Im Vergleich mit Deutschland<br />
hat Südkorea in allen getesteten<br />
Disziplinen – Lesen, Mathematik<br />
und Naturwissenschaften –imdirekten<br />
Vergleich die Nase vorn.<br />
Ebenfalls ist das Bildungssystem<br />
der Koreaner vergleichsweise integrativ:<br />
Der soziale Hintergrund der<br />
Eltern spielt eine geringere Rolle<br />
verglichen mit dem OECD-Durchschnitt.<br />
Der Test: Der Pisa-Test wird in Deutschland<br />
vomZentrum für internationale Bildungsvergleichsstudien<br />
(ZIB) durchgeführt. Pisa-Tests<br />
finden alle drei Jahre statt, immer in den Bereichen<br />
Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften.<br />
Getestet werden Hunderttausende<br />
per Stichprobe ausgewählte 15-JährigeSchülerinnen<br />
und Schüler in mittlerweile<br />
79 Ländern.<br />
WER TESTET WAS?<br />
Die Aufgaben: Die Schüler klicken sich am<br />
Computer lang durch Aufgaben, meist „multiple<br />
choice“. Beim Lesetest müssen sich die<br />
Schüler auch in einem fiktiven Internetforum<br />
bewegenund bewerten, ob jemand eine<br />
Falschbehauptung aufstellt. Das Testsystem<br />
passt sich den Schülernan: Wergut durch einen<br />
Aufgabenblock kommt, bekommt im<br />
zweiten Block schwierigere Aufgaben.<br />
Tatsächlich war noch nach dem<br />
Koreakrieg (1950–53) der Großteil<br />
der Bevölkerung analphabetisch.<br />
Heute gibt es in keinem Land der<br />
Welt mehr Uni-Absolventen als in<br />
Südkorea. Dabei hat das rigide Bildungssystem<br />
auch seine Schattenseiten,<br />
die sich nicht zuletzt in einem<br />
gängigen Sprichwort der südkoreanischen<br />
Jugend widerspiegeln:Wenn<br />
du drei Stunden schläfst,<br />
wirst du den Test bestehen. Vier<br />
Stunden Schlaf – und du fällst<br />
durch. Die Oberschüler des Landes<br />
stemmen Arbeitstage wie Spitzenmanager.<br />
Dabei findet der wichtigste Teil<br />
des Büffelns nicht im Schulgebäude<br />
statt. Je näher es an den entscheidenden<br />
Universitätseingangstest<br />
geht, desto desinteressierter und<br />
schläfriger werden die Schüler in<br />
den Klassenzimmern. Der wirklich<br />
wichtige Teil beginnt nachmittags in<br />
den Nachhilfeinstituten, „Hagwon“<br />
genannt. Dortwirdnämlich effizient<br />
und gezielt für die Prüfung am Ende<br />
der Oberschule gebüffelt.<br />
Büffeln bis zehn Uhrabends<br />
Die massiven Kosten außerschulischer<br />
Bildung sind längst zum gesellschaftlichen<br />
Übel geworden.<br />
Seit Jahren versucht das Bildungsministerium<br />
in Seoul den Nachhilfesektor<br />
zu regulieren, um die<br />
Chancengleichheit für Kinder aus<br />
weniger privilegierten Haushalten<br />
zu gewährleisten. Bislang jedoch ist<br />
der Widerstand aufgebrachter Elternzustark.<br />
Der vielleicht bislang größte Erfolg:<br />
Seit einigen Jahren müssen die<br />
südkoreanischen „Hagwons“ um<br />
zehn Uhr abends schließen, damit<br />
die Kinder genug Schlaf bekommen.<br />
Am 7. November hat das Bildungsministerium<br />
in Seoul nun die<br />
Abschaffung seiner rund 80 Elite-<br />
Schulen angekündigt. „Ich nehme<br />
die Sorgen der Öffentlichkeit ernst,<br />
dass die Ungleichheit im Schulsystem<br />
auch zur Ungleichheit zwischen<br />
den gesellschaftlichen Schichten<br />
führt“, begründete Ministerin Yoo<br />
Eun-hae die Maßnahme.<br />
Gleichmacherei bedeutet das jedoch<br />
nicht: Ab 2025 wird insüdkoreanischen<br />
Oberschulen ein sogenanntes<br />
„Credit-System“ nach dem<br />
Vorbild von Universitäten eingeführt:<br />
Dann können die Schüler weitestgehend<br />
selber bestimmen, welche<br />
Kurse sie belegen wollen.