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Berliner Zeitung 06.02.2020

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 31 · D onnerstag, 6. Februar 2020 3· ·<br />

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Seite 3<br />

Perfekt ausgestattet: Wenn Christian Y. Schmidt zu seinen Spaziergängen durch Peking aufbricht, überlässt er nichts dem Zufall.<br />

CHRISTIAN Y. SCHMIDT<br />

Am Sonntag hat es geschneit. Das<br />

fehlte noch. Sonst gibt es in Peking<br />

praktisch nie Schnee imWinter.Nur<br />

in diesem vertrackten Jahr schneit<br />

es jetzt schon das vierte Mal. Dabei hatte vor<br />

ein paar Tagen bereits eine Elster begonnen,<br />

in dem Baum vormeinem Fenster ihr Nest zu<br />

bauen. Sie war damit früh dran, und machte<br />

Hoffnung auf einen baldigen Frühling. Letztlich<br />

ist auch das Coronavirus ja nichts weiter<br />

als ein Grippeerreger. Und Grippewellen enden<br />

nun mal, wenn es wärmer wird. Doch damit<br />

ist es wohl erst mal Essig.<br />

Auch die Zahlen sehen nicht rosig aus.Die<br />

nationale Gesundheitskommission meldet<br />

am 2. Februar, um6.24 Uhr morgens, 13831<br />

mit dem Coronavirus Infizierte und 304 Tote.<br />

Das ist bei den Infizierten ein ziemlicher<br />

Sprung. DieZahl hat sich in nur einemTagnahezu<br />

verdoppelt. Dabei gab mir gesternnicht<br />

nur die Elster das Gefühl, dass es langsam<br />

wieder aufwärts geht. Bei meinem täglichen<br />

Spaziergang auf den Straßen Pekings waren<br />

wieder deutlich mehr Menschen unterwegs.<br />

Eine erste kleine Bäckerei hatte wieder geöffnet<br />

und auch einige Restaurants.DreiPenner<br />

betranken sich wie gewohnt mit Sorghum-<br />

Schnaps und eine Frau spielte auf dem Bürgersteig<br />

Squash gegen eine Hauswand. Ein<br />

Bild, fast wie in Friedenszeiten, wären da<br />

nicht die an die Schaufenster geklebten Flyer<br />

mit denVerhaltensregeln im Seuchenfall. Und<br />

natürlich die Menschen mit den Masken.<br />

Wasman alles lernt<br />

Fast jeder trägt sie. Inden U-Bahnen ist das<br />

inzwischen sogar Pflicht, auf der Straße –anders<br />

als in der Provinz Hubei und inzwischen<br />

auch in Guangdong –noch nicht. Ich trage<br />

auf meinen Spaziergängen auch eine –und<br />

zwar die gute 3M 9502VT, die nur fünf Prozent<br />

aller in der Luft umherschwirrenden<br />

Partikel durchlässt. Auf der Straße ist die<br />

Maske aber eigentlich nicht so wichtig, vorausgesetzt,<br />

man lässt zu anderen Passanten<br />

einen Abstand von 1,5 Metern. Aber sie verhindert<br />

eben auch, dass man sich selbst<br />

ständig an Mund und Nase berührtund sich<br />

auf diese Weise infiziert. Der Mensch fasst<br />

sich etwa fünfundzwanzig Malinder Stunde<br />

unwillkürlich im Gesicht; so was lernt man<br />

während einer Seuche. Und in Räumen mit<br />

vielen Leuten sollte man auf jeden Fall eine<br />

Schutzmaske tragen.<br />

Vielleicht noch wichtiger sind die Handschuhe.<br />

Unterwegs ist man hin- und wieder<br />

doch gezwungen, Türklinken oder Fahrstuhlknöpfe<br />

zu berühren, die als besonders große<br />

Infektionsquellen gelten. Ichtrage außerdem<br />

ein zur Mütze gebundenes Magic Headband<br />

und eine Brille.Die sollte man auch aufsetzen,<br />

wenn man nicht kurzsichtig ist, denn auch<br />

über die Augen kann man sich anstecken. Ich<br />

habe eine fette Sonnenbrille gewählt.<br />

Ein interessanter Nebenaspekt ist, dass<br />

durch eine solche Vermummung die allgegenwärtige<br />

Überwachung unterlaufen<br />

wird: Die iPhone-Gesichtserkennung etwa<br />

gestaltet sich schwierig. Auch die Hochgeschwindigkeitszüge<br />

kann hierzulande nur<br />

noch besteigen, wer am Bahnsteigzugang<br />

Peking mit Maske<br />

Unser Autor wohnt seit 15 Jahren in China. Wielebt es sich dort in Zeiten der<br />

Coronaseuche? Geschichten aus einem Alltag mit Schutzhandschuhen und<br />

Fieberthermometer,zwischen Sorge und Gelassenheit<br />

sein Gesicht scannen lässt. Da gerade auf<br />

Bahnhöfen die Ansteckungsgefahr sehr hoch<br />

ist, kommen sich hier zwangsläufig Seuchenbekämpfung<br />

und Überwachung in die Quere.<br />

Meine Spaziergänge durch die Stadt unternehme<br />

ich, weil ich mich nicht auf die Informationen<br />

im Netz verlassen will. Ich<br />

nutze sie aber natürlich auch zum Einkaufen.<br />

Die Regale in den Supermärkten sind<br />

weiterhin gut gefüllt. Nur aneinem Taggab<br />

es in unserem WuMart einen Gemüse-Engpass.<br />

ImSupermarkt stellt sich ein ganz anderes<br />

Problem, das in den diversen Seuchen-<br />

Katastrophenfilmen, die ich bisher gesehen<br />

habe, niemals aufgetaucht ist: Mit den behandschuhten<br />

Fingern lassen sich die Plastiktüten,<br />

die man von der Rolle abreißt, um<br />

darin Obst oder Gemüse zu verstauen, extrem<br />

schwer öffnen. Fünf Minuten lang versuche<br />

ich, zwei Zwiebeln in die Tüte zu packen.<br />

Schließlich gebe ich auf und lege die<br />

Zwiebeln lose auf die Waage an der Kasse.<br />

Könnte bitte ein Regisseur diese Szene in einen<br />

der nächsten Seuchenfilme einbauen?<br />

Desinfektionsmittel allerdings gehen<br />

langsam aus,und Atemschutzmasken waren<br />

eine Woche lang nicht zu bekommen. Inzwischen<br />

kann sich jeder unter der Vorlage seines<br />

Personalausweises drei blaue OP-Masken<br />

in der Apotheke abholen, das Stück für<br />

umgerechnet 15 Eurocent, alle drei Tage.<br />

Sämtliche öffentlichen Veranstaltungen sind<br />

abgeblasen. Museen, Theater und Schulen<br />

bleiben geschlossen. Kinopremieren sind<br />

verschoben. Auch die Standesämter sind zumindest<br />

zurzeit dicht, was eine Rekordanzahl<br />

vonPaaren nervös werden lässt, die unbedingt<br />

am 20.2.2020 heiraten wollen.<br />

Die großen Wohnanlagen, in denen die<br />

meisten Pekinger wohnen, sind inzwischen<br />

für Nichtbewohner geschlossen. Wer als<br />

Fremder dennoch hineinwill, muss sich von<br />

einem Bewohner abholen lassen. Dabei wird<br />

am Eingang die Körpertemperatur an der<br />

Stirngemessen, mit futuristisch anmutenden<br />

Fiebermesspistolen. DieMessung wirdinzwischen<br />

auch an jedem U-Bahn-Zugang vorgenommen.<br />

Die Pistolen scheinen allerdings<br />

nicht besonders präzise zu sein. Als ich vorein<br />

paar Tagen den Office Tower betrat, in dem<br />

das Büromeiner Frau liegt, maß der Mann an<br />

VonChristian Y. Schmidt, Peking<br />

der Rezeption bei mir sagenhafte 33,3 Grad.<br />

Eher unwahrscheinlich, dass eine solche an<br />

Unterkühlung grenzende Untertemperatur<br />

korrekt ist, aber vielleicht bin ja inzwischen<br />

tatsächlich schon so etwas wie ein Zombie.<br />

Äußerlich ist die Stimmung in der Stadt<br />

ziemlich gelassen. Im Internet sieht es anders<br />

aus.Hier tobt die Schlacht zwischen denen,<br />

die der Regierung schwere Versäumnisse<br />

besonders in der Anfangsphase der<br />

Seuche vorwerfen und auch jetzt noch meinen,<br />

hinters Licht geführt zuwerden, und<br />

denen, die hinter der Epidemie eine Verschwörung<br />

der USA gegen China wittern.<br />

Auch meine Frau und ich verbringen den<br />

halben Tagvor dem Rechner. Dabei sind es<br />

weniger die Meldungen aus der Seuchenprovinz<br />

Hubei und ihrer Hauptstadt Wuhan, die<br />

Museen, Theater und<br />

Schulen sind geschlossen,<br />

Kinopremieren<br />

wurden verschoben.<br />

Auch die Standesämter<br />

bleiben dicht.<br />

uns deprimieren. Immer klarer wird, dass es<br />

sich bei den Coronaviren eigentlich nur um<br />

Keime handelt, die zwar hochansteckend<br />

sind, aber letztlich nicht extrem gefährlich.<br />

Im Moment liegt jedenfalls die Mortalitätsrate<br />

nur etwa doppelt so hoch wie bei einer<br />

normalen Grippewelle; und es sterben<br />

hauptsächlich alte Menschen mitVorerkrankungen,<br />

ebenfalls wie bei einer normalen<br />

Grippeepidemie.Das ist tragisch, aber längst<br />

keine apokalyptische Pandemie.<br />

Umso empörender sind für uns die völlig<br />

absurden und überzogenen Reaktionen im<br />

Ausland. Eine Fluggesellschaft nach der anderen<br />

stellt ihre Flüge von und nach China<br />

ein, und ein Land nach dem anderen macht<br />

die Grenzen für Menschen aus China dicht.<br />

Auch die Meldungen zu rassistischen Übergriffen<br />

und Ausgrenzungen in aller Welt gegen<br />

Menschen mit asiatischem Aussehen<br />

häufen sich. Gleichzeitig erreichen mich täglich<br />

gut gemeinte Tipps von Freunden in<br />

Deutschland, die mir empfehlen, mich bitte<br />

schleunigst nach Deutschland abzusetzen.<br />

Das werde ich sicher nicht tun, jedenfalls<br />

nicht im Moment. Bereits vor dem Bekanntwerden<br />

der ersten Coronavirus-Fälle hatte ich<br />

einen Flug für Mitte Februar nach Berlin gebucht,<br />

um meinen –mir jetzt plötzlich visionär<br />

erscheinenden –Kurzroman „Der kleine<br />

Herr Tod“ zu promoten. So lange harre ich<br />

hier aus. Außerdem sind meine chinesische<br />

Frau und meine SchwiegerelterninPeking.<br />

In der Zwischenzeit vertreiben wir uns die<br />

Zeit mit Seuchenspaziergängen, dem Durchputzen<br />

der Wohnung und Binge-Watching<br />

von Seuchenfilmen wie „Contagion“ (ganz<br />

okay), „Outbreak“ (geht so) oder „World War<br />

Z“ (Schrott). Diegehen alle gut aus.Auch ich<br />

bin weiter optimistisch, dass wir die Seuche<br />

bald überstanden haben werden.<br />

Einen Tagspäter gerät mein Optimismus<br />

ins Wanken. Die Zahlen aus Hubei zeigen,<br />

dass sich das Virus inPeking nicht mehr in<br />

Schach halten lässt. Ichglaube,dass wir hier<br />

demnächst mit Hunderttausend Infizierten<br />

rechnen müssen, wenn nicht mehr, denkt<br />

man an den Schneeballeffekt, der sich inzwischen<br />

deutlich abbildet. Auch dass sich das<br />

Virus weitgehend auf Hubei eindämmen<br />

lässt, halten einige Experten für fraglich. Das<br />

heißt, letztlich ist mit mehreren Tausend Toten<br />

zu rechnen. Doch selbst das ist keine<br />

apokalyptische Katastrophe, sondern das,<br />

was eine starke Grippewelle auch anrichtet,<br />

ohne dass wir uns dessen bewusst sind.<br />

Schlecht ist allerdings,dass das VirusimMoment<br />

noch hochansteckend ist.<br />

Die neuen Seuchenzahlen in der South<br />

China Morning Post bieten auch Anlass zur<br />

Sorge. Inzwischen gibt es weltweit mehr als<br />

24 000 Infizierte. Auch die Zahl der Toten ist<br />

wieder gestiegen. Beruhigend wirkt höchstens<br />

die Tatsache, dass sich das Virus offenbar<br />

weiter peinlich genau an die inzwischen<br />

etablierte Mortalitätsrate hält.<br />

Die Maßnahmen zur Virus-Eindämmung<br />

werden indes kreativer: Neben den Knöpfen<br />

in unserem Fahrstuhl ist ein Spender mit Papiertüchern<br />

angebracht. Solche Installationen<br />

sind jetzt in allen Fahrstühlen Pekings<br />

Pflicht. Mit einem Zellstofftuch soll man den<br />

Fahrstuhlknopf drücken und das Tuch anschließend<br />

in einem Papierkorb entsorgen. So<br />

soll verhindertwerden, dass das Virusmit der<br />

Fingerspitze weitergetragen wird. Mich persönlich<br />

kümmert das wenig: Ich trage weiter<br />

meine Handschuhe,die nach der Rückkehr in<br />

dieWohnung gewaschen werden.<br />

Mirfällt ein, dass Islamisten die Nachricht<br />

verbreiten, das Coronavirus sei die Strafe Allahs<br />

für die Unterdrückung des islamistischen<br />

Fundamentalismus in China. Richtig<br />

schlecht sähe es in Peking aus, wenn Allah<br />

das Gemüse knapp werden ließe. Doch das<br />

stapelt sich vor dem kleinen Laden neben<br />

der „Great Leap“-Micro-Brewery. Daneben<br />

sitzt ein Paar auf einer kleinen Mauer. Beide<br />

haben die Gesichtsmasken heruntergezogen<br />

und beißen in dasselbe Stück Melone, sie<br />

vonder einen, er vonder anderen Seite.<br />

DerInternethandel boomt<br />

JD.Com, einer der großen chinesischen Internethändler,<br />

wirbt mit „virusfreier Zustellung“.<br />

Mit diesem Versprechen kommen sie<br />

sogar auf den Uni-Campus, auf dem meine<br />

Schwiegereltern wohnen. Ansonsten dürfen<br />

die Expresszusteller nicht mehr in dieWohnanlagen.<br />

Trotzdem boomt jetzt in ganz China<br />

das Internetgeschäft. Meine Frau bestellt für<br />

meine Schwiegereltern Lebensmittel: palettenweise<br />

Eier und mehrereKilo Mehl. Dastut<br />

sie, weil sich die beiden über 80-Jährigen<br />

selbst eine Quarantäne auferlegt haben. In<br />

den nächsten vierzehn Tagen sollen wir sie<br />

nicht besuchen. Der Grund: Sie sind am<br />

Sonnabend aus Guangzhou zurückgekommen,<br />

der Hauptstadt der Provinz Guangdong,<br />

die an Hongkong grenzt. Dortsind die<br />

Infektionszahlen höher. Das Flugzeug, mit<br />

dem sie nach Peking flogen, war nur halb besetzt,<br />

und kein Passagier –kein einziger –<br />

nahm die Maske ab, als auf dem Vier-Stunden-Flug<br />

der Imbiss serviert wurde.Wir halten<br />

die völlige Quarantäne zwar für übertrieben,<br />

aber wenn sich meine Schwiegermutter<br />

etwas in den Kopf gesetzt hat, kann man sowieso<br />

nichts machen.<br />

Für Chinas Wirtschaft bedeutet die Coronaepidemie<br />

bereits jetzt einen schweren<br />

Schlag. Verwaltungsleute erzählen hinter vorgehaltener<br />

Hand, dass es bis zu zwei Jahren<br />

dauernkönnte,bis sich der Tourismus-, Konferenz-<br />

oder wahlweise Sportveranstaltungssektor<br />

wieder völlig erholt hat. Dassei schließlich<br />

bei Sars auch so gewesen. Unddiese Epidemie<br />

hier ist deutlich größer.<br />

So weit im Voraus plane ich nicht. Ich<br />

habe aber gerade mit meinem Bruder vereinbart,<br />

dass die Premierenlesung von „Der<br />

kleine Herr Tod“ am 25. März auf jeden Fall<br />

stattfinden wird, selbst wenn ich dann nicht<br />

mehr nach Berlin fliegen kann. Für diesen<br />

Fall soll die Lesung per YouTube auf einer<br />

Leinwand gestreamt werden, und ich werde<br />

von Peking aus zugeschaltet. Voraussetzung<br />

ist natürlich, dass mich das Virus vorher<br />

nicht erwischt.

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