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Auf der Bühne: Schönheit und Grazie.<br />
Hinter den Fassaden: Schmerzen, Leistungsdruck,<br />
geschundene Körper, entzündete Muskeln.<br />
Jetzt macht eine neue Tänzergeneration des<br />
Londoner Royal Ballet die alte Tante Ballett<br />
zukunftsfit. Und nutzt dafür die neuesten<br />
Erkenntnisse innovativer Sportwissenschaft.<br />
Wenn Gemma<br />
Pitchley-Gale nicht<br />
gerade mit rosa<br />
Spitzenschuhen<br />
im Londoner Royal<br />
Opera House<br />
Pirouetten dreht,<br />
stemmt sie in der<br />
Kraftkammer gusseiserne<br />
Langhanteln. Die zierliche Tänzerin des<br />
welt berühmten Londoner Royal Ballet schafft im<br />
Kreuzheben 97,5 Kilo, also mehr als das Doppelte<br />
ihres Körpergewichts von 47 Kilogramm.<br />
„Die Leute halten uns für zerbrechlich“, sagt<br />
die Südlondonerin, „aber da liegen sie falsch.“<br />
Beispiele gefällig?<br />
Ihre Kollegin Claire Calvert trainierte mit<br />
Squats und 100-Kilo-Gewichten für ihre Rolle<br />
als Zuckerfee im „Nussknacker“.<br />
Der Waliser William Bracewell schafft beim<br />
Wadenheben mit seinem eigenen Körpergewicht<br />
45 Wiederholungen.<br />
Der Australier Alexander Campbell, ein weiterer<br />
Tänzer aus Pitchley-Gales Ensemble, bewegt<br />
während einer durchschnittlichen Fitness-Einheit<br />
insgesamt dreieinhalb Tonnen – das ist so viel<br />
wie ein vollbeladener Ford Transit.<br />
Und Matthew Ball, ein Liverpooler mit dem<br />
Aussehen eines Boygroup-Stars, legt sich für<br />
seine einbeinigen Kniebeugen das Vierfache<br />
seines Körpergewichts auf. „Muss sein“, sagt der<br />
junge Mann, dessen Adern bei jeder Geste dick<br />
am Bizeps hervortreten. „In der Aufführung<br />
wirken bei jedem hohen Sprung 500 Kilogramm<br />
auf meine Beine.“<br />
Ballett mag eine hochästhetische Kunstform<br />
sein. Zugleich ist es aber eine Mordsschinderei:<br />
Für Klassiker wie „Schwanensee“, „Aschenbrödel“<br />
oder „Romeo und Julia“ proben die<br />
Tänzer sechs Stunden am Tag, dazu kommen<br />
vier Auftritte pro Woche.<br />
Die von blutigen Blasen, blauen Flecken und<br />
Schrammen gemarterten Füße der rund hundert<br />
Tänzer des Royal Ballet tanzen pro Jahr 12.000<br />
Schuhe durch. Und da ist das, was als „richtige“<br />
Verletzungen gilt – Dinge ab Bänderriss oder<br />
Verstauchungen –, noch gar nicht eingerechnet.<br />
Genau 6,8 solcher Blessuren sind es im Schnitt<br />
pro Jahr und Tänzer, genauso viel wie beim<br />
American Football.<br />
Am Morgen schlurft müde eine Kompanie<br />
schlaksiger Figuren mit markanten Wangenknochen<br />
in das luftige Probestudio – die Frauen<br />
in Tutus und Beinstulpen, die Männer in engen<br />
Shorts und weiten Oberteilen.<br />
„Zu dieser Tageszeit tut hier jedem alles weh“,<br />
sagt Pitchley-Gale und lacht. 75 Minuten Aufwärmen,<br />
dann beginnt die harte Arbeit, manchmal<br />
durchgehend von zwölf bis halb sieben.<br />
Von der Probe geht es direkt zum Auftritt, einer<br />
schillernden Feier vollendeter Körperbeherrschung<br />
vor 2250 Zuschauern. „Vor eins bin ich<br />
nie zu Hause“, sagt Campbell, „und um 9.30 Uhr<br />
beginnt schon die nächste Probe.“<br />
Fast unglaublich: Bis vor kurzem wurden die<br />
körperlichen Belastungen, denen Balletttänzer<br />
ausgesetzt sind, nicht wirklich professionell<br />
untersucht. Erst 2013 eröffnete das Royal Ballet<br />
die Mason Healthcare Suite – eine hochmoderne<br />
Einrichtung mit 17 Sport- und Ernährungswissenschaftlern,<br />
mit Physiotherapeuten,<br />
70 THE RED BULLETIN