Mut und Liebe 35/2020 Mut Mach Geschichten 01062020
Eine Seuche vor unserer Haustür... der erste Schock scheint langsam überwunden. Zwischen Urlaubsstimmung und Existenzangst hat sich unser Alltag wieder etwas normalisiert. Doch das unbeschwerte Lebensgefühl ('die Katastrophen sind immer weit weg') der Vor-Corona-Zeit wird es sobald nicht mehr geben. Deshalb haben wir für Euch Mut-Mach-Geschichten gesammelt. Viel Spaß beim Lesen... und bleibt gesund!
Eine Seuche vor unserer Haustür... der erste Schock scheint langsam überwunden. Zwischen Urlaubsstimmung und Existenzangst hat sich unser Alltag wieder etwas normalisiert. Doch das unbeschwerte Lebensgefühl ('die Katastrophen sind immer weit weg') der Vor-Corona-Zeit wird es sobald nicht mehr geben. Deshalb haben wir für Euch Mut-Mach-Geschichten gesammelt. Viel Spaß beim Lesen... und bleibt gesund!
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MUT&LIEBE / THEMA /
Menschen dramatisch verschlechtert. Meine Haltung
zu Macht und mein Umgang mit Verantwortung haben
sich deswegen aber nicht verändert! Als erstes gilt für
mich: Der Schutz des Lebens ist das höchste politische
Gut. Ich kann nicht einfach sagen, es trifft vor allem die
Alten und die mit Vorerkrankung.
Die Würde aller Menschen ist gleich! Und es ist nun
mal so, dass wir bei Corona täglich dazulernen. Deshalb
müssen wir natürlich auch bereit sein, täglich zu fragen,
ob unsere Entscheidungen, auch hier in Offenbach,
auch meine eigenen, noch die richtigen sind. Das ist
anstrengend. Aber das ist gut. Denn es gibt auch in dieser
Krise nicht nur die eine Meinung, den einen möglichen
Weg. Allerdings sind Leute, die mit dem Wissen
von heute die Entscheidung von gestern, die mit einem
anderen Wissensstand getroffen wurde, überheblich
kritisieren schon in normalen Zeiten schwer erträglich.
Aktuell gilt das aber umso mehr. Denn während Fehlentscheidungen
normalerweise eher kleine Auswirkungen
haben, sind sie hier plötzlich existenziell. Und
ein Wissensstand ist seit Wochen der gleiche: Kleine
Ereignisse können die Zahl der Erkrankten und damit
letztlich der Toten exponentiell erhöhen. Jetzt gilt es
mit Fingerspitzengefühl angesichts dieses Wissens die
größtmögliche Freiheit zu erreichen.
Wie wird Sie die Erfahrung mit dieser Situation weiter
prägen?
Dr. Felix Schwenke: Das werde ich erst hinterher sicher
sagen können. Ich gehe davon aus, dass diese Situation
uns alle langfristig prägen wird, egal, wie wir jeweils
konkret von der Corona-Pandemie betroffen sind. Ich
hoffe sehr, dass ich rückblickend sagen kann, dass wir
in Offenbach diese Situation trotz aller Unsicherheiten
und manchmal auch Kritik an Entscheidungen der Politik
gemeinsam bestmöglich bewältigt haben.
Privat bin ich dankbar, eine tolle Familie zu haben. Aber
es ist unendlich hart, nicht alle umarmen zu können
und nicht alle sehen zu können. In solchen Situationen
merkt man immer, was plötzlich fehlt und vorher selbstverständlich
war.
JUNI / JULI / AUGUST 2020
Was war für Sie die schwierigste Entscheidung?
Dr. Felix Schwenke: Am schwierigsten ist es, mit der
Unsicherheit umzugehen. Auf welcher Grundlage treffe
ich meine Entscheidungen, welche Folgen haben diese
in zwei oder drei Wochen, bringe ich damit eventuell
Menschen in Gefahr? Wir haben zum Beispiel die
Lederwarenmesse zugelassen. Wir hatten ihr die härtesten
damals in Deutschland existierenden Auflagen
gemacht. Aber wir haben sie zugelassen. Die 14 Tage
danach, das Abwarten ob es falsch war, das war eine
harte Zeit. Wir haben außerdem zum Beispiel den Aufbau
eines Behelfskrankenhauses starten wollen und
wurden von der Landesregierung gebremst.
Wir haben das hingenommen und nicht zu einem öffentlichen
Konflikt gemacht. Aber es war unglaublich
schwer, das abzuwägen. Es wechselte mindestens eine
Woche fast jeden Tag ob sich das als grober Fehler oder
goldrichtig erweisen würde. Hinterher hätte es nichts
genutzt zu sagen „wir wollten ja“. Am Ende lagen wir
in beiden Beispielen richtig. Aber das war vorher völlig
offen und unklar. In beiden Fällen kommt neben einem
guten Gefühl auch Glück dazu, so demütig muss man
immer bleiben – und entsprechend dankbar dafür!
Meine wichtigste Leitlinie ist es, Menschenleben zu retten.
Das ist mein Kompass, der mich durch diese Krise
führt.
Was ist aktuell in Offenbach die größte Herausforderung
aus Ihrer Sicht?
Dr. Felix Schwenke: Die Herausforderungen in Offenbach
unterscheiden sich im Moment nicht wesentlich
von denen anderer Städte, weil wir keine Feier hatten,
die zu einer Massenverbreitung geführt hat und weil
wir bisher kein stark betroffenes Seniorenpflegeheim
haben. Wir müssen die Ausbreitung des Virus verlangsamen,
um ihn kontrollieren zu können und so Menschenleben
zu retten. Gleichzeitig müssen wir uns aber
auch vor Augen führen, dass unsere Entscheidungen
Auswirkungen haben, positive wie negative.
Wenn Familien lange Zeit zu Hause bleiben müssen,
kann z.B. die Gewalt gegen Frauen und Kinder zunehmen.
Sozial Schwache oder Obdachlose müssen zum
Teil ohne die bisherigen Hilfsangebote und Netzwerke
überleben. Viele Familien und Unternehmen stehen
vor massiven finanziellen Schwierigkeiten, sogar vor
der Existenzfrage. Alle unsere Entscheidungen haben
Folgen, und die große Herausforderung ist, in dieser
Situation richtig abzuwägen und eine starke Gemeinschaft
zu bleiben, die sich gegenseitig hilft und unterstützt.
Alexander Knöß
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