Mut und Liebe 35/2020 Mut Mach Geschichten 01062020
Eine Seuche vor unserer Haustür... der erste Schock scheint langsam überwunden. Zwischen Urlaubsstimmung und Existenzangst hat sich unser Alltag wieder etwas normalisiert. Doch das unbeschwerte Lebensgefühl ('die Katastrophen sind immer weit weg') der Vor-Corona-Zeit wird es sobald nicht mehr geben. Deshalb haben wir für Euch Mut-Mach-Geschichten gesammelt. Viel Spaß beim Lesen... und bleibt gesund!
Eine Seuche vor unserer Haustür... der erste Schock scheint langsam überwunden. Zwischen Urlaubsstimmung und Existenzangst hat sich unser Alltag wieder etwas normalisiert. Doch das unbeschwerte Lebensgefühl ('die Katastrophen sind immer weit weg') der Vor-Corona-Zeit wird es sobald nicht mehr geben. Deshalb haben wir für Euch Mut-Mach-Geschichten gesammelt. Viel Spaß beim Lesen... und bleibt gesund!
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© lemnitzer-fotografie
/ THEMA / MUT&LIEBE
schwer. Hunger hatten wir eigentlich immer. Eine große
Verbesserung kam, als die Leibniz-Schule wieder öffnete
und Unterricht im Wochenwechsel angeboten wurde, da
gab es in der Pause eine zwar dünne, aber warme Suppe
oder Maisbrei mit etwas Rohrzucker.
Unsicherheiten? Was ist unsicher? Wenn man nicht weiß,
ob der Vater, der Bruder, die Mutter, Verwandte, Freunde
noch leben. Es gab Hoffen und Bangen und viele tragische
Enttäuschungen. Es war ja auch existentiell, um
zum Beispiel wieder heiraten zu können, wegen Versorgungs-
und Unterhaltsansprüchen. Kinder, die ihre Eltern
auf den Flüchtlingstrecks verloren hatten: Kommt
Mutter mit dem nächsten Zug vielleicht doch, hat Vater
die Kriegsgefangenschaft überlebt? Das ging bis in die
fünfziger Jahre.
JUNI / JULI / AUGUST 2020
Ein langsamer Rückweg in die Normalität?
W. Reuter: Langsam ist gut. Die ersten fünf Jahre nach
Kriegsende waren schlimm. Klar, die „Produktion“ lief
wieder an. Offenbach war bekannt für seine Lederwaren,
die Amerikaner kauften Portemonnaies und brachten so
wieder Geld und Tauschmittel, zum Beispiel Zigaretten
unter die Leute. Eine Zigarette kostete vor der Währungsreform
1948 etwa 5 Reichsmark, viel Geld (entspricht ungefähr
9 Euro sic.). Sie war ein beliebtes Tauschobjekt.
Im Hainbachtal veranstaltete die Arbeiterwohlfahrt Ferienspiele.
Da gab es warmes Essen aus der Gulaschkanone
und nachmittags Kakao und Rosinenbrötchen.
Bis zur heutigen Stadthalle fuhr die Straßenbahn wieder.
Wir sammelten Altpapier, dafür konnten wir dann
Schulbücher bekommen, die sich immer mehrere teilten.
Es wurde anders, es wurde besser.
1949 fuhren wir ins Zeltlager der Falken (der sozialistischen
Jugendorganisation) nach Grünberg, da war die
Ernährung gesichert, wir genossen die ersten Schinkenbrote.
Jeden Tag mussten wir zum Wiegen. Wenn wir „aufgefüttert“
waren, gab es einen Zuschuss von der AOK für
die Kosten. Es gibt auch viele positive Erinnerungen: Der
Zusammenhalt, die Solidarität, die Hilfsbereitschaft und
Spaß hatten wir auch.
Sind wir in der momentanen Situation zu ungeduldig?
Wissen wir positive Veränderungen nicht zu schätzen?
W. Reuter: Damals haben wir jede Verbesserung gefeiert:
Als die ersten Neubauten kamen Anfang 1950, als
es wieder Lebensmittel zu kaufen gab, die Währungsreform,
als es „normaler“ wurde. Wir sollten nicht vergessen,
es gab schon eine lange, entbehrungsreiche Zeit
davor. Wir können nur hoffen, dass die Erinnerungen
an die Katastrophe des Weltkrieges wach bleibt, damit
nicht aus kleinen Gründen unsere Gesellschaft, Europa
zerbricht.
Dem kann ich mich nur anschließen, vor allem, dass
unsere demokratischen Regeln nicht ausgehebelt
werden, indem wir Kriegsflüchtlinge nicht mehr aufnehmen.
Dass die Grenzen in Europa wieder zu sind,
ist bedenklich. Kontaktverbot gleich Versammlungsverbot,
Datenschutz – es gibt sicher viele Baustellen,
auf die wir sensibel zu achten haben.
W. Reuter: Sicher, wir dürfen nicht vergessen: Wir sind
schon noch sehr privilegiert. Ich habe Vertrauen in die
Menschen und auch in unsere Demokratie. Wenn ich
höre, wie Nachbarschaftshilfe angeboten wird, Menschen
Masken nähen, Rücksicht nehmen, dann bin ich
ganz zuversichtlich.
Herr Reuter, ich danke Ihnen für das Gespräch und
hoffe sehr, dass wir bald auch wieder von Angesicht
zu Angesicht reden können. Bleiben Sie und Ihre
Familie gesund.
Thomas Lemnitzer
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